Ex-VW-Chef Martin Winterkorn ist nach Konzern-Angaben im Abgasskandal frühzeitig über Unregelmäßigkeiten bei Diesel-Motoren informiert worden. Bereits im Mai 2014 und damit fast eineinhalb Jahre vor Bekanntwerden der Affäre um manipulierte Abgaswerte sei ein erster Vermerk an den damaligen Konzernchef erstellt worden, teilte Volkswagen am Mittwoch mit. Nach VW-Darstellung ist unklar, ob Winterkorn diesen Vermerk, der seiner umfangreichen Wochenendpost beigelegt worden sei, überhaupt zur Kenntnis genommen hat.
Im November 2014 habe es eine weitere Notiz an ihn gegeben. Später wurde auch eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die sich mit den Problemen von VW mit Abgasgrenzwerten in den USA befasste. Am 27. Juli 2015 schließlich hätten Mitarbeiter in Anwesenheit von Winterkorn und VW-Markenchef Herbert Diess über die Diesel-Thematik gesprochen. Es sei noch nicht geklärt, ob den Beteiligten damals bewusst gewesen sei, dass die Softwareveränderungen gegen US-Umweltvorschriften verstießen.
Nach Angaben von VW haben Techniker Ende August vergangenen Jahres dann der Rechtsabteilung sowie US-Anwälten schließlich erläutert, worin die Ursache für die Unregelmäßigkeiten lagen. Dies habe im Vorstand zu der Erkenntnis geführt, dass es sich um eine illegale Abschalteinrichtung in der Motorsteuerung handelte. Daraufhin habe man beschlossen, dies gegenüber den US-Umweltbehörden einzugestehen. Dies sei am 3. September geschehen, am Tag darauf sei Winterkorn durch eine Notiz darüber in Kenntnis gesetzt worden. Damals sei man noch davon ausgegangen, dass die Manipulation auf die USA begrenzt sei. Später musste VW einräumen, dass weltweit rund elf Millionen Fahrzeuge davon betroffen sind.
Volkswagen legte 6,7 Milliarden Euro für die Reparatur der Fahrzeuge zur Seite und korrigierte seine Gewinnziele für 2015. Wegen der laufenden internen Ermittlungen zu dem Skandal verschob der Konzern zudem die Vorlage seiner Bilanz und die Hauptversammlung. Die US-Kanzlei Jones Day soll in der zweiten Aprilhälfte einen Zwischenstand ihrer Untersuchungen vorlegen. Noch ist völlig unklar, wie viel der Skandal den Konzern am Ende kosten wird. Denn in den USA sind zahlreiche Sammelklagen eingereicht worden.
Aktionärsklagen vor dem Landgericht Braunschweig im Zusammenhang mit der Affäre hält der Wolfsburger Konzern für unbegründet. Die im Aktienrecht vorgeschriebene Pflicht zur Veröffentlichung potenziell aktienkursbewegender Erkenntnisse (Ad-hoc-Pflicht) sei nicht verletzt worden, da dem Vorstand erst am 18. September 2015 wesentliche Informationen rund um die Manipulation bekanntgeworden seien.
Aktionäre machen vor Gericht geltend, das Unternehmen habe zu spät darüber informiert. Sie begründen damit ihre Schadensersatzforderungen für erlittene Kursverluste. Die US-Umweltbehörde EPA hatte am 18. September vergangenen Jahres den Vorgang öffentlich gemacht. VW räumte die Manipulationen, die weltweit rund elf Millionen Fahrzeuge betreffen, erst zwei Tage später ein – an einem Sonntag. Tags darauf stürzte die VW-Aktie um fast 20 Prozent ab, der größte Autokonzern Europas verlor binnen weniger Stunden zwölf Milliarden Euro an Börsenwert.
Am 23. September gab Winterkorn als Vorstandschef seinen Abschied bekannt und zog sich später auch von allen anderen Ämtern in dem Konzern zurück. Zwei Tage später bestellte der Aufsichtsrat den früheren Porsche-Chef Matthias Müller an die Konzernspitze. Er soll die Aufklärung des Skandals vorantreiben, durch den VW in die tiefste Krise seiner Geschichte geraten ist.
Volkswagen stellt sich auf den Standpunkt, der Konzern habe bis zur Veröffentlichung durch die EPA „keinerlei Anzeichen für börsenkursrelevante Informationen“ gehabt. Bis zu diesem Zeitpunkt sei man von einer überschaubaren Zahl von etwa 500.000 betroffenen Fahrzeugen und Bußgeldern in einem zweistelligen oder unteren dreistelligen Millionen-Bereich ausgegangen. Von dem später von der Behörde aufgerufenen Strafmaß von bis zu 18 Milliarden Dollar habe man damals keine Ahnung gehabt. Mittlerweile steht wegen der Volkswagen vom US-Justizministerium zur Last gelegten Verstöße gegen US-Umweltgesetze eine Summe von bis zu 46 Milliarden Dollar im Raum. Die Strafe dürfte nach Einschätzung von Juristen allerdings deutlich niedriger ausfallen, wie frühere Fälle vermuten lassen.
Inwieweit Ex-Konzernchef Winterkorn selbst zur Rechenschaft gezogen werden kann, ist nach Ansicht von Juristen offen. Die Braunschweiger Staatsanwaltschaft ermittelt gegen insgesamt sechs Beschuldigte wegen Betrugsverdachts im Zusammenhang mit der Manipulation von Stickoxidwerten. Winterkorn ist nach Angaben des Gerichts nicht darunter. Kenner des US-Rechts gehen allerdings davon aus, dass er durchaus verantwortlich gemacht werden könnte. Als Vorstandschef habe er die Gesamtverantwortung getragen und müsse in den USA damit auch für Taten von Mitarbeitern geradestehen.