Politik

Die Nerven liegen blank: Streit um Grenzen in Europa voll entbrannt

Luxemburg will Ungarn wegen der Grenzschließung aus der EU werfen. Das ist ein absurder Vorschlag: Alle EU-Staaten profitieren klammheimlich vom Kurs Orbans. De facto werden die Grenz-Staaten der EU im Stich gelassen. Auch das Schicksal der in Griechenland unter menschenunwürdigen Umständen untergebrachten Flüchtlinge und Migranten scheint keinen zu interessieren. Bundeskanzlerin Merkel hat sich von der Tagespolitik entfernt und verteidigt ihre Politik unbeirrt als „richtungsweisend".
14.09.2016 00:33
Lesezeit: 3 min

Inhalt wird nicht angezeigt, da Sie keine externen Cookies akzeptiert haben. Ändern..

Mit seiner Forderung nach einem EU-Ausschluss Ungarns hat Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn für Verärgerung in Budapest gesorgt. Asselborn sei „belehrend, arrogant und frustriert“, konterte der ungarische Außenminister Peter Szijjarto am Dienstag. „Er hat sich schon längst selbst aus der Reihe der ernstzunehmenden Politiker ausgeschlossen“, sagte er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur MTI in Budapest.

Luxemburg hat seit Beginn der Flüchtlingskrise erst einen Bruchteil der in der EU-Quote vereinbarten Zahl von Flüchtlingen aufgenommen. Die meisten Staaten der EU haben die durchaus umstrittene Quote, die zumindest ein Lösungsversuch gewesen wäre, stillschweigend unter den Tisch fallen lassen.

In einem Interview mit der Zeitung Die Welt hatte Asselborn zuvor erklärt: „Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baut oder wer die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletzt, der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden.“

Asselborn reagierte auf die Kritik an seiner Forderung. „Es geht nicht gegen ein Volk oder gegen ein Land“, sagt er der „Süddeutschen Zeitung“ (Mittwoch). Er sehe die EU in größter Gefahr. „Unsere Gründungsväter und -mütter haben gewusst, dass man die Gemeinschaft nicht nur auf Strukturen, sondern auch auf Werten aufbauen muss“, betonte er.

Es sei ihm mit seinen scharfen Worten um einen Weckruf vor dem Sondergipfel in Bratislava Ende der Woche gegangen: „Wir können nicht indifferent bleiben. Ich habe etwas gesagt gegen die Gleichgültigkeit. Es muss ein Ruck durch Europa gehen. Wir machen sonst alles kaputt.“

Die EU-Verträge sehen einen Ausschluss allerdings nicht vor. Sie erlauben nur, dass einem Land bei einer „schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung“ der Grundwerte der EU etwa das Stimmrecht entzogen werden kann.

Die EU-Kommission verfolgt die aufgeheizte Debatte mit wachsender Sorge und hat sich am Dienstag jedweder Stellungnahme enthalten.

Tatsächlich sind die Attacken gegen Orban unlogisch. Alle EU-Staaten haben stillschweigend davon profitiert, dass die Ungarn ihre Grenzen dichtgemacht haben. Orban sieht sich verpflichtet, den Schutz der Außengrenzen sicherzustellen - und arbeitet vergleichsweise pragmatisch mit den Nachbarländern zusammen. Kurz vor dem EU-Gipfel in Bratislava hat Orban mit seinem bulgarischen und serbischen Amtskollegen die Sicherung der EU-Außengrenzen besprochen. Im Mittelpunkt des Treffens der drei Regierungschefs stand am Dienstagabend in Burgas am Schwarzen Meer auch die Migrationskrise.

„Bulgarien trägt große Verantwortung als EU-Außengrenze zur Türkei“, sagte Bulgariens Ministerpräsident Boiko Borissow nach Informationen der Regierung. Ohne die gemeinsamen Bemühungen aller EU-Staaten werde es „keine umfassende und beständige Lösung“ in der Flüchtlingskrise geben, betonte Borissow.

Borissow rief zu einer gemeinsamen europäischen Lösung zur Bewältigung des Migrantenzustroms auf. „Wir stehen vor einer historischen Herausforderung für Europas Sicherheit“, warnte der bulgarische Regierungschef. Er verwies auf die Bedeutung des EU-Flüchtlingspakts mit der Türkei.

Orban wird am Mittwoch an der bulgarisch-türkischen Grenze vor Ort besichtigen, wie diese EU-Außengrenze unter anderem durch einen Drahtzaun geschützt wird. Bulgarien verlängert zurzeit die Schutzeinrichtung, um illegale Grenzübertritte von Migranten effektiver zu verhindern. Das EU-Land will die aus der Türkei kommenden Migranten zu den offiziellen Grenzübergängen lenken, wo sie registriert werden. Borissow lobte die Zusammenarbeit mit der Türkei gegen illegale Grenzübertritte.

Am 2. Oktober will Orban seine Politik durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier ging auf Distanz zu den Äußerungen seines persönlichen Freundes Asselborn. „Es ist jetzt nicht meine persönliche Haltung, einem europäischen Mitgliedsstaat die Tür zu weisen“, sagte er bei einem Besuch in Lettland. „Auf der anderen Seite kann ich verstehen, dass mit Blick auf Ungarn einige in Europa ungeduldig werden angesichts der fortdauernden Debatten zwischen der EU-Kommission und der ungarischen Regierung.“

Der lettische Außenminister Edgars Rinkevics bezeichnete Asselborns Vorschlag laut dpa als „Megaphon-Diplomatie“. „Diese Rhetorik hilft uns nicht.“ Litauens Außenminister Linas Linkevicius meinte ebenfalls: „So radikale Statements sind nicht immer hilfreich.“

Tatsächlich haben es sich die meisten Staaten vergleichsweisen bequem eingerichtet und überlassen das Problem, welches aus dem vom Westen mit betriebenen Krieg, dem Krieg im Irak und der Destabilisierung Libyens resultiert, den Staaten, die den Krisen am nächsten liegen. Italien fordert seit Monaten vergeblich eine Aufteilung der Flüchtlinge in Europa. Die Zahlen waren in Italien zuletzt deutlich gestiegen. In Griechenland leben die Flüchtlinge und Migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen. Doch Bundesinnenminister Thomas de Maizière hat erst vor wenigen Tagen vorgeschlagen, das Dublin-System wieder zu aktivieren, um Flüchtlinge und Migranten in das von der Euro-Krise schwer gezeichnete Griechenland abschieben zu können.

 

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Bill Gates verschenkt Vermögen – Symbol einer neuen Weltordnung oder letzter Akt der alten Eliten?
11.05.2025

Bill Gates verschenkt sein Vermögen – ein historischer Akt der Großzügigkeit oder ein strategischer Schachzug globaler Machtpolitik?...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft „Made in America“ wird zur Hypothek: US-Marken in Europa auf dem Rückzug
11.05.2025

Eine neue Studie der Europäischen Zentralbank legt nahe: Der Handelskrieg zwischen den USA und der EU hat tiefgreifende Spuren im...

DWN
Finanzen
Finanzen Tech-Börsengänge unter Druck: Trumps Handelskrieg lässt Startup-Träume platzen
10.05.2025

Schockwellen aus Washington stürzen IPO-Pläne weltweit ins Chaos – Klarna, StubHub und andere Unternehmen treten den Rückzug an.

DWN
Finanzen
Finanzen Warren Buffett: Was wir von seinem Rückzug wirklich lernen müssen
10.05.2025

Nach sechs Jahrzehnten an der Spitze von Berkshire Hathaway verabschiedet sich Warren Buffett aus dem aktiven Management – und mit ihm...

DWN
Finanzen
Finanzen Silber kaufen: Was Sie über Silber als Geldanlage wissen sollten
10.05.2025

Als Sachwert ist Silber nicht beliebig vermehrbar, kann nicht entwertet werden und verfügt über einen realen Gegenwert. Warum Silber als...

DWN
Technologie
Technologie Technologieinvestitionen schützen die Welt vor einer Rezession
10.05.2025

Trotz der weltweiten Handelskonflikte und der anhaltenden geopolitischen Spannungen bleibt die Nachfrage nach Technologieinvestitionen...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Starbucks dreht den Spieß um: Mehr Baristas statt mehr Maschinen
10.05.2025

Starbucks gibt auf die Maschinen auf: Statt weiter in teure Technik zu investieren, stellt das Unternehmen 3.000 Baristas ein. Nach...

DWN
Panorama
Panorama EU-Prüfer sehen Schwächen im Corona-Aufbaufonds
10.05.2025

Milliarden flossen aus dem Corona-Topf, um die Staaten der Europäischen Union beim Wiederaufbau nach der Corona-Pandemie zu unterstützen....