In der allgemeinen Erregung um die Anzeige gegen netzpolitik.org könnte der eigentliche Zwecke der Geheimdienst-Aktion übersehen werden: Der Verfassungsschutz erhält nämlich mit der Anzeige offiziell die Möglichkeit, netzpolitik.org auch juristisch gedeckt abschöpfen zu können.
Rechtsanwalt Markus Kompa hat auf Heise den juristischen Sachverhalt erläutert, und kommt zu dem Ergebnis, dass der Verfassungsschutz den Skandal im Sommer bewusst in Kauf genommen haben könnte. Tatsächlich gehe es den Geheimdienstlern nicht darum, die Macher von Netzpolitik einzuschüchtern. Vielmehr versetze die Anzeige wegen Landesverrats den Verfassungsschutz in die Lage, alle Kommunikationsströme die zu dem Blog und von ihm ausgehen, anzuzapfen: Kompa: „netzpolitik.org darf seit Anzeigeerstattung auch nach offizieller Aktenlage elektronisch abgeleuchtet werden“.
Der Vorgang ist leicht zu verstehen: Es gibt im Strafrecht sogenannte „Katalogstraftaten“: Besteht der Verdacht auf eine solche Straftat, dürfen laut Strafgesetzbuch auch ein Lauschangriff, die Vorratsdatenspeicherung oder verdeckte Ermittler eingesetzt werden. Kompa vermutet, dass die Verfassungsschützer zu diesem Zweck den § 94 StGB (Landesverrat) aktiviert haben. Dies ist offenbar indirekt über den § 93 StGB geschehen, in welchem der „Geheimnisverrat“ definiert ist. Der § 94 StGB findet sich in den Katalogstrafen. Besteht der behördliche Verdacht, kann umfassend ermittelt werden (§ 100a StPO ).
Kompa erzählt aus seiner eigenen Anwaltspraxis von einem Fall, in dem die Behörden den Tatbestand aufgebauscht hatten, um eine Öffentlichkeitsfahndung einleiten zu können. Wäre der Fall als das behandelt worden, was er war, wäre dieses Mittel eine zu große Kanone gewesen und daher nicht zulässig.
Kompa:
„Wenn Spione also unbequeme Gegner im Inland ausspionieren wollen, die keine für den Verfassungsschutz legitimen Aufklärungsziele darstellen, sind sie auf der juristisch sicheren Seite, wenn sie pro forma eine Verdachtslage nach § 94 StGB herbeiführen, die § 100a StPO auslöst und die damit die elektronische Waffenkammer öffnet.“
Die Verfassungsschützer dürfte also genau gewusst haben, dass die Strafanzeige nicht zu halten ist. Sie wollten einen Vorgang einleiten, um sich Zugriff auf alle Daten von netzpolitik.org zu verschaffen.
Kompa berichtet davon, dass laut Berliner Pressegesetz eine Verjährungsfrist von einem Jahr besteht. So lange konnten die Behörden geheim ermitteln. Doch wenn sie netzpolitik.org länger beobachten wollen, müssen sie ein Ereignis herbeiführen, das diese Frist außer Kraft setzt. Den Hebel hierzu findet man im Strafgesetzbuch § 78c: Die Bekanntgabe der Ermittlungen unterbricht die Verjährung. Genau dies ist mit dem Brief der Ermittler an netzpolitik.org geschehen. Damit können die Geheimdienste mindestens zwei Jahre lang auf alle Daten von netzpolitik.org zugreifen.
Die Erklärung Kompas ist schlüssig: Zum einen erklärt sie, warum der Generalbundesanwalt die Ermittlungen nicht gleich eingestellt hat, sondern nur sagte, dass Exekutivmaßnahmen vorerst unterbleiben. Damit behält die Anzeige ihren Wert: Der Zugriff der Dienste auf netzpolitik.org ist rechtlich gedeckt. Nachdem Edward Snowden aufgedeckt hatte, dass die deutschen Dienste auch mit denen der USA und Großbritanniens zusammenarbeiten, kann man davon ausgehen, dass Erkenntnisse der Überwachung auch weitergegeben werden können.
Es ist nämlich äußerst unwahrscheinlich, dass all die Heerscharen von Juristen im Verfassungsschutz und im Justizministerium nicht ganz genau gewusst haben sollen, was man unter „Landesverrat“ subsumieren kann und dass die „Vorwürfe“ gegen netzpolitik.org augenscheinlich unhaltbar sind. Sie wollen netzpolitik.org nicht außer Gefecht setzen. Sie wollen alle Informationen haben, die diesen Blog betreffen. Geheimdienste haben vor allem ein Interesse: Sie wollen möglichst viel beobachten und es wäre kontraproduktiv, wenn sie sich interessante Quellen dadurch zerstören, dass sie die Macher ins Gefängnis bringen.
Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die am Sonntagabend veröffentlichte Erklärung des Generalbundesanwaltes. Hier wird ausdrücklich auf den § 93 StGB rekurriert. Daraus ergibt sich, dass der Generalbundesanwalt bei den Ermittlungen vor allem auf die zur Wahrung von Staatsgeheimnissen Verpflichteten abzielt.
Der Verfassungsschutz seinerseits dürfte in diesem Zusammenhang nämlich zwei Ziele verfolgen: Er will potentielle Informanten und Whistleblower aus den eigenen Reihen einschüchtern. Diejenigen, die die Rechtslage nämlich kennen, werden sich hüten, mit netzpolitik.org auf elektronischem Weg in Kontakt zu treten. Denn sie wissen ja, dann nun jede Email und jedes Telefonat direkt auf dem Tisch ihrer Vorgesetzten landet. Zugleich kann der Verfassungsschutz nun sehen, wer mit netzpolitik.org kommuniziert und welche Absichten die Informanten verfolgen. Damit können bestimmte Zielpersonen nicht bloß abgeschöpft, sondern auch gesteuert werden. Dies ist das Kerngeschäft aller Geheimdienste, wie der frühere Chef des österreichischen Verfassungsschutzes, Gert Polli, anhand der Praxis der US-Dienste erklärt.
Es wäre in dieser Hinsicht leichtfertig, die Geheimdienste zu unterschätzen. Nur weil der Chef des Verfassungsschutzes Maaßen den Eindruck eines ahnungslosen älteren Herrn erweckt, sollte man nicht davon ausgehen, dass auf Seiten derer, die die Bürgerrechte von Staats wegen einschränken, lauter Tollpatsche sitzen. Bis zur offiziellen Einstellung des Verfahrens kann sich der Verfassungsschutz alle Daten besorgen, die er bei netzpolitik.org. findet. Die Ankündigung eines Gutachtens bringt dem Geheimdienst Zeit: Das kann Monate dauern. Auch wenn sich alle angeblich überraschten Politiker nun von der Aktion distanzieren, beeinträchtigt dies die Arbeit des Verfassungsschutzes nicht.
Die durch die Anzeige mögliche Totalüberwachung von netzpolitik.org ist für den Blog viel gefährlicher: Er wird zum Spielball geheimdienstlicher Operationen, ohne davon zu wissen oder sich schützen zu können. Die große öffentliche und vor allem merkwürdig laute Zustimmung aus der Politik sollte die Betreiber und ihre echten Unterstützer nicht in der falschen Sicherheit wiegen, dass diese Schlacht schon gewonnen ist.