Erstmals nimmt der neue amerikanische Verteidigungsminister James Mattis am Treffen der Verteidigungsminister der 28 NATO-Staaten in Brüssel teil. Das für zwei Tage anberaumte Treffen vom 15. bis 16.02.2017 wurde bereits im Vorfeld von NATO-Generalsekretär Stoltenberg als historisch bezeichnet, geht es doch nicht mehr und nicht weniger darum, wie sich das Bündnis in den kommenden Jahren neu ausrichten will.
Es ist erst einige Jahre her, als derselbe NATO-Generalsekretär, nach einem Treffen der NATO-Außenminister 2014, von einer „historischen Neuausrichtung“ des Bündnisses sprach. Damals noch reagierte das Bündnis auf das aggressive russische Verhalten im Zuge des Konfliktes in der Ostukraine mit der Aufstellung einer Eingreiftruppe für Osteuropa. Nicht einmal vier Jahre danach ist bereits von einer neuerlichen historischen Weichenstellung die Rede. Diesmal allerdings steht wesentlich mehr auf dem Programm als nur eine militärische Neuausrichtung. Diesmal geht es darum, den Charakter der Organisation zu verändern. Es geht im Kern darum, die Allianz als Speerspitze der Terrorismusbekämpfung an der europäischen Peripherie „out-of-area“ neu aufzustellen. Hinter den Kulissen der NATO-Tagung werden jedoch Zweifel an der neuen Ausrichtung der NATO immer deutlicher. Allein daran sieht man, wie stark das Bündnis durch die neue amerikanische Administration unter Druck geraten ist.
Das Treffen der Verteidigungsminister und die öffentlich gewordene Agenda haben den Charakter einer Panikreaktion auf die noch im Wahlkampf erfolgte Infragestellung der NATO durch Donald Trump als ein nicht mehr zeitgemäßes Instrument des Kalten Krieges. Die NATO, so Trump, wäre schon deshalb obsolet, da sie es verabsäumt hätte, sich nicht stärker mit der Herausforderung des Terrorismus auseinanderzusetzten. Was die neue US-Administration damit in Frage stellte, ist die amerikanische Führungsrolle im Bündnis und die Sicherheitsgarantie in Form des konventionellen und nuklearen Schutzschirms für Europa. Vor allem bei den osteuropäischen Staaten führten diese Äußerungen zur massiven Verunsicherung, die auch noch dadurch verstärkt wurde, dass eine amerikanisch-russische Annäherung als sehr wahrscheinlich beurteilt wurde. Hinter der zur Schau gestellten Harmonie des NATO-Treffens beherrschen massive Auffassungs- und Interessensunterschiede die Konferenz:
- Wie will das Bündnis künftig mit Russland umgehen? Die osteuropäischen Mitglieder fühlen sich durch ein starkes Russland militärisch bedroht. Gleichzeitig droht der Konflikt in der Ostukraine weiter zu eskalieren.
- Vom südeuropäischen Gürtel der NATO-Staaten werden diese Befürchtungen nicht im gleichen Maße geteilt. Diesen Staaten, allen voran Griechenland und Italien, sehen die künftige Rolle der NATO in einer Vorwärtsstrategie zur Eindämmung des Flüchtlingsaufkommens, vornehmlich aus den Staaten des afrikanischen Kontinents.
- Die sich in den letzten Jahren zuspitzende Krise im Zusammenhang mit der Rolle der Türkei gilt NATO-intern als nicht einmal ansatzweise beigelegt. Als einziges muslimisches Land innerhalb der Allianz hat die Türkei als strategischer Brückenkopf in die Krisenregionen des Nahen Ostens an Bedeutung gewonnen. Das Abdriften in eine Diktatur und eine militärische und wirtschaftliche Annäherung an Russland stellten die Allianz vor schier unvorhersehbare Herausforderungen und nähren die Befürchtungen ihrer osteuropäischen Mitgliedstaaten.
Vom Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel ist zu keinem dieser brennenden Fragen ein substanzieller Beitrag zu erwarten.
Nach außen hin werden zwei zentrale amerikanische Forderungen an die NATO diskutiert.
Das ist einmal die Frage des Lastenausgleichs innerhalb der Organisation. Die USA bestreiten nach wie vor 70 Prozent der Ausgaben. Es ist eine Forderung der US-Administration, dass die europäischen Bündnispartner ihre Verteidigungsausgaben auf jenes Niveau anheben, das von den NATO-Mitgliedstaaten 2014 einstimmig mit zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes festgelegt wurde. Drei Jahre nach diesem Beschluss haben nur vier von 28 Staaten diese selbst gewählten Vorgaben erfüllt: Großbritannien, Estland, Griechenland und Polen. Nach Angaben von NATO-Generalsekretär Stoltenberg würde die Erfüllung der 2-Prozent Quote zusätzliche 100 Milliarden Dollar jährlich an Verteidigungsausgaben für die säumigen NATO-Staaten bedeuten. Der amerikanische Verteidigungsminister räumte den europäischen Verbündeten im Rahmen der Tagung eine Frist bis Jahresende ein, um einen Vorschlag zur Erhöhung ihrer Verteidigungsausgaben vorzulegen. Anderenfalls, so Mattis, würden die USA „ihr Engagement verringern“.
Das Grundproblem ist damit jedoch nicht gelöst: Welchen Herausforderungen stellt sich die künftige NATO, und welche Bedrohungen will das Bündnis angesichts der internen Auffassungsunterschiede dann tatsächlich ansprechen? Daraus abgeleitet: Wofür soll das Verteidigungsbudget letztendlich verwendet werden? Das Spektrum reicht vom Aufbau von Cyberkapazitäten, über die konventionelle, nach Osten hin ausgerichtete Verteidigung, bis hin zu den brennenden aktuellen Herausforderungen, wie die Flüchtlingskrise und den laufenden out-of-area-Einsätzen in Afghanistan, Kosovo oder die Operation Sea Guardian im Mittelmeer. Vom Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel sind in dieser Frage kaum mehr als bereits bisher abgebebene Absichtserklärungen zu erwarten.
Und doch ist es der Auftakt zu einer historischen Neuausrichtung des Bündnisses, das jene Vorarbeiten liefern soll, die im Mai dieses Jahres beim NATO-Gipfel der Staats- und Regierungschefs beschlossen werden soll, zu dem auch der amerikanische Präsident Trump bereits sein Kommen zugesagt hat.
In der Tat handelt es sich um eine Weichenstellung des Bündnisses hin zu einem Instrument der militärischen Terrorismusbekämpfung außerhalb des im Art. 6 des Washingtoner Vertrages beschriebenen Bündnisgebietes (out-of-area). Einsätze in Ländern also, die in Bürgerkriege abzugleiten drohen, Länder, wie Libyen, Irak und Syrien und andere, in denen ISIS, Al Kaida und andere Terrororganisationen aktiv sind – dahin soll sich die NATO künftig orientieren. Die NATO ist somit dabei, ihren Charakter als Verteidigungsbündnis zurückzustecken und zu einem Interventions-Bündnis für militärische Operationen out-of-area zu werden.
Nur auf den ersten Blick handelt es sich dabei um neues Anliegen der amerikanischen Administration. Diese Entwicklung der NATO hin zu einem Instrumentarium zur Terrorismusbekämpfung hat schon viel früher eingesetzt.
Als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 wurde vom NATO-Rat bereits am 12. September 2001 der Bündnisfall nach Art. 5 (Beistandspflicht) in Kraft gesetzt, vorbehaltlich dass „ festgestellt wird, dass er (der Anschlag) vom Ausland aus gegen die Vereinigten Staaten verübt wurde“.
Offiziell beschlossen wurde der Bündnisfall am 04.10.2001 nachdem die US-Regierung am 02.10.2001 Beweise vorgelegt hatte, die einen bewaffneten Angriff der Taliban bzw. Al Kaida auf die USA belegen sollten. Damit haben die USA ab Oktober 2001 die Beistandsautomatik des Art. 5, Washingtoner Vertrag auf terroristische Aktivitäten gegen NATO-Mitglieder auf dem Vertragsgebiet (Art.6) widerspruchslos erweitert.
Seit damals fallen auch terroristische Angriffe auf Mitgliedstaaten unter die Beistandspflicht des Art. 5. Diese Beistandspflicht ist nach wie vor aufrecht, zumal es die NATO verabsäumt hatte, die Beistandsverpflichtung im konkreten Anlassfall mit einem Ablaufdatum zu versehen. Der nach wie vor gültige Bündnisfall bedeutet, dass für Antiterroreinsätze der NATO nicht zwangsläufig ein UNO-Mandat erforderlich ist, was die NATO noch stärker als bisher als eine Interventions-Streitmacht positioniert. Als Folge des 2001 ausgerufenen Beistandsfalls wurde noch im Oktober desselben Jahres die maritime Operation Active Endeaver als Art. 5-Operation der NATO im Mittelmeer ins Leben gerufen. Diese Art. 5-Operation endete im November 2016 als unmittelbare Folge von 09/11. Der nach wie vor geltende Bündnisfall wurde dagegen nicht deaktiviert.
Am NATO-Gipfel in Istanbul 2014 wurde ein Arbeitsprogramm zur Terrorismus-Abwehr verabschiedet. Konsequenterweise wurde schließlich am NATO-Gipfel in Warschau am 09.07.2016 die Funktion des „Assistant Secretary General for Intelligence and Security“ geschaffen, eine Funktion, deren Aufgabe es ist, die Informationen der Nachrichtendienste der Mitgliedstaaten für die neuen Aufgaben der NATO, so auch die Terrorismusbekämpfung, aufzubereiten.
Genau dieser Ansatz wird am Treffen der Verteidigungsminister in Brüssel weiter vorangetrieben. In Neapel, dem Sitz des Allied Joint Force Command (bis 2004 Allied Forces South Europe) wird nach dem Beschluss der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel ein Lage- und Koordinierungszentrum entstehen, das Informationen aus südlichen Krisenstaaten wie Libyen, Syrien und dem Irak auswertet. Dabei handelt es sich um eine Vorstufe für die Nutzung dieses Standortes für die Steuerung von out-of-area-Einsätzen gegen Terrororganisationen, wie z.B. ISIS in Krisenländern an der Peripherie des NATO-Vertragsgebietes. Damit ist der Auftakt für eine neue Rolle der NATO im Bereich der militärischen Terrorismusbekämpfung eingeläutet. Bisher hatte die NATO lediglich mit Aufklärungsflügen und mit Ausbildungshilfe für irakische Soldaten im Kampf gegen ISIS Flagge gezeigt. Obwohl offiziell jeglicher Zusammenhang mit den Forderungen der neuen US-Administration in Abrede gestellt wird, entspricht dieser Trend genau jenen Vorstellungen, welche der amerikanische Präsident noch im Wahlkampf artikuliert hatte.
Damit stehen wir vor einer völlig neuen Ausrichtung klassischer, transatlantischer Sicherheitspolitik. Gegründet als eine Verteidigungsunion gegen die Sowjetunion, steht die Organisation heute im Spannungsfeld zwischen Verteidigung im Osten und Interventions-Streitkraft mit weitreichenden sicherheitspolitischen Folgen für Europa im Süden.
Obwohl die NATO ihre Segel in Richtung Terrorismusbekämpfung out-of-area gesetzt hat, gibt es innerhalb der 28 Mitgliedstaaten nicht nur Befürworter eines solchen Paradigmenwechsels. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass militärische Interventionen in Krisengebieten zu keiner nachhaltigen Stabilisierung führen. Im Gegenteil: Es ist offensichtlich, dass es neben anhaltender Instabilität vor Ort auch zu einem beträchtlichen Export von Unsicherheitsfaktoren kommt – sei es in Form von Flüchtlingen und humanitären Katastrophen oder des Exports von Terrorismus nach Europa und in die angrenzenden Regionen. Zudem spricht vieles dafür, dass militärische Optionen das Spektrum der politischen Lösungsmöglichkeiten für solche Konflikte stark einengen.
Die NATO ist und bleibt ein Militärbündnis. Eine Rolle in der Terrorismusbekämpfung ist nur out-of-area – wenn überhaupt – vorstellbar. Die Herausforderungen Europas im Hinblick auf die Terrorismusbekämpfung liegen jedoch in erster Linie innerhalb und nicht außerhalb des Vertragsgebietes. Bei dieser Herausforderung im Inneren handelt es sich um Aufgabenstellungen der Sicherheitsbehörden und der Nachrichtendienste, seien sie national oder übernational organisiert. Wenn es darum geht, die Wurzeln des Terrorismus out-of-area zu bekämpfen, so scheint die NATO nur eingeschränkt dafür tauglich.
Ein schleichender Umbau der NATO unter dem Mantel der Terrorismusbekämpfung von einem Verteidigungsbündnis hin zu einer Kriseninterventionsstreitmacht bringt für die europäische Sicherheit ein hohes Maß an Risiken mit sich. Der vorauseilende Gehorsam und die Nervosität der NATO-Bürokratie ist angesichts der amerikanischen Forderungen nach einer neuen Rolle der NATO im „War on Terrorism“ zwar verständlich, für die Sicherheit Europas jedoch gefährlich.
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Dr. Gert R. Polli ist der ehemalige Leiter des österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung.
Im Münchner Finanzbuchverlag erscheint im April sein Buch: „Deutschland zwischen den Fronten. Wie Europa zum Spielball von Politik und Geheimdiensten wird“. Polli gibt darin einen exklusiven Einblick, wie die Politik von den Geheimdiensten dominiert wird und warum diese Entwicklung gerade in der Krise der EU besonders kritisch für Europa ist.