Politik

Großbritannien wählt die Dauerkrise

Die britischen Unterhauswahlen enden mit ‚hung parliament. Die Folge dürfte eine dauerhafte Regierungskrise sein.
09.06.2017 07:18
Lesezeit: 4 min

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Wieder ist eine konservative Premierministerin über die Europapolitik gestolpert. Die britische Premierministerin Theresa May verliert die Unterhauswahlen. Die Konservativen sind zwar wieder stärkste Partei, verlieren aber die Parlamentsmehrheit. Sogar eine Minderheits-Regierung unter Labour-Parteichef Jeremy Corbyn erscheint möglich.

In einem System mit Mehrheitswahlrecht spricht man dann von einem ‚hung parliament’. Eine stabile Regierung ist so nicht möglich, denn die Liberal-Demokraten verweigern sich jeglicher Koalition. Die Alternative ist eine ‚Chaos-Koalition’, eine Minderheits-Regierung mit wechselnden Mehrheiten bei Abstimmungen.

Der Ausgang der Abstimmung ist knapper als alle Prognosen vorausgesagt hatten. Die konservative Partei erreichte rund 42.5 Prozent, Labour rund 40.5 Prozent der Stimmen. Gemäß Hochrechnungen können die Konservativen nur mit rund 320 Sitzen im Unterhaus rechnen. 326 Sitze wären für eine Mehrheit benötigt, bisher hatten die Konservativen 343 Sitze. Labour dürfte rund 260 Stimmen erringen – 35 mehr als bisher.

Das Resultat wird ein Erdbeben in der regierenden konservativen Partei auslösen. Es gab überhaupt keine Notwendigkeit, eine Wahl anzusetzen. Jetzt resultiert ein Ergebnis, welches die Konservativen der allerdings knappen und nicht allzu komfortablen Mehrheit von 17 Sitzen von 2015 beraubt. Damit ist das politische Kalkül von Theresa May krachend gescheitert. Sie wollte einen Durchmarsch bei den Wahlen erzielen und die konservative Mehrheit stark ausbauen. Dies verkaufte sie als starkes Mandat für die in zwei Wochen anstehenden Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union.

Ihre Zeit als Premierministerin dürfte in Kürze vorüber sein. Es ist wirklich eine persönliche Niederlage, denn sie hatte den Wahlkampf extrem personalisiert betrieben. Sie war praktisch wie in einem Präsidentschafts-Wahlkampf nur persönlich in Erscheinung getreten und hatte den Spitzenkandidaten von Labour auch persönlich attackiert. Andere Exponenten blieben im Schatten. Mit ihrer Kampagne hat sie die konservative Partei ohne Not der Macht beraubt.

Nach Edward Heath (1974), Margaret Thatcher (1990), John Major (1997) und David Cameron (2017) scheitert schon wieder eine Premierministerin der Konservativen über die Europapolitik. Es wird dies nun in der Partei zu einem Messerwetzen führen. Mit diesem Ausgang wäre die Premierministerin für die Verhandlungen mit der EU, aber auch innenpolitisch stark geschwächt.

Die Gründe sind bekannt. May hatte Wahlen angesetzt, obschon sie stets betont hatte, dies nicht tun zu wollen. Ihr konservatives Wahlmanifest war dürftig und enthielt wenig durchdachte Maßnahmen. Vor allem enthielt es eine Demenzsteuer, eine Konfiskation des privaten Immobilienbesitzes für die Erben von Pflegebedürftigen. Das ging direkt gegen die Interessen der konservativen Kernwählerschaft. Schließlich dürften ihr die Terroranschläge in Manchester und London geschadet haben, weil diese in Zusammenhang mit Kürzungen von Polizeistellen gebracht werden konnten. Sie hatte diese in ihrer sechsjährigen Zeit als Innenministerin angeordnet.

Für Labour ist es ein gewaltiger Vormarsch. Die Partei hat gegenüber den Unterhauswahlen von 2015 rund 10 Prozent Wähleranteile gewonnen. Die Partei hatte die Wahlen von 2010 und 2015 hoch verloren und im ihre Kerngebiete in Schottland fast vollständig an die Schottischen Nationalisten abgeben müssen. Nach der Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden hatte es schwere interne Machtkämpfe gegeben. Die mehrheitlich zu ‚New Labour’ tendierenden Parlamentsabgeordneten hatten ihm mehrfach die Gefolgschaft verweigert und seine Abwahl angestrebt.

Die Partei war in einer schweren Krise geraten, als Theresa May die Wahlen überraschend ausrief und sehr kurzfristig ansetzte. Corbyn hat ein Wahlmanifest veröffentlicht, welches in enger Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften ausgearbeitet worden ist. Das Manifest hat die Glaubwürdigkeit Labours stark gesteigert. Dazu haben auch die Wahlauftritte Corbyns beigetragen, der glaubwürdig, sympathisch und ehrlich herübergekommen ist, trotz gewaltigen medialen Gegenwinds. Corbyn vermochte vor allem die jugendlichen Wähler zu mobilisieren, die bei früheren Wahlen und bei der Brexit-Abstimmung abseits gestanden hatten. Sie dürften vor allem für das kostenlose Universitätsstudium und für die Personenfreizügigkeit gestimmt haben, die ihnen Auslandaufenthalte ermöglichen. Das waren zwei Kernpunkte im Labour-Programm.

Der Wahlausgang ist extrem in dem Sinne, dass die kleineren Parteien aufgerieben worden sind – und zwar alle. Die Liberal-Demokraten, eine Partei mit traditionell 20 Prozent der Sitze, ist auf rund 7 Prozent abgerutscht. Die UKIP, deren hohe Wähleranteile starken Druck auf die Konservativen ausgeübt hatten, ist völlig eingebrochen, und erreicht noch rund 2 Prozent. Auch die Schottische Nationalistische Partei SNP hat herbe Wähler- und Mandatsverluste erlitten. Ihrer Forderung nach einem neuen Referendum ist somit gegenstandslos geworden.

Das Wahlergebnis wirft das Vereinigte Königreich in eine konstitutionelle und in eine politische Krise. Verfassungsmäßig muss die oder der neue Premierminister/in unter hohem Zeitdruck eine Koalition oder Minderheitsregierung zimmern, welche bei der Vertrauensabstimmung im Unterhaus, nach der sogenannten ‚Queens speech’, eine Mehrheit erhält. Aufgrund der politischen Konstellation würde eine konservative Regierung von der Unterstützung der Unionisten (‚Democratic Unionist Party’, kurz DUC) in Nordirland abhängen. Das ist die größte Partei in Nordirland – und Nordirland hat gegen den Brexit gestimmt. Die DUC ist gegen einen harten Brexit aufgetreten. Es ist, auch wegen anderer Fragen, sehr schwierig, eine Koalition oder eine systematische Unterstützung der DUC zu erreichen, wenn die neue Regierung weiterhin einen harten Brexit anstrebt.

Die politische Dimension ist schlicht die, dass die konservative Premierministerin kein Mandat für den harten Brexit erhalten hat, den sie anstrebte. Auf dieser Frage erscheint keine Parlamentsmehrheit möglich. Die Regierung ist darüber hinaus bei allen Einzelentscheidungen von ganz wenigen Hinterbänklern abhängig. Die Wahl hat also die Macht von der Regierung auf das Parlament verschoben. Deshalb dürfte das gesamte, von Theresa May verantwortete Programm nicht mehrheitsfähig sein, und bei Sachabstimmungen über Einzelfragen, etwa die Sparpolitik betreffend, durchfallen. Das macht selbst Manöver in der konservativen Partei sehr schwierig. Denn die personellen Alternativen wie Boris Johnson stehen noch mehr auf der Seite des harten Brexit. Theresa Mays politischer Schachzug hat nicht nur ihr selbst, sondern auch der konservativen Partei irreparablen Schaden zugeführt.

Eine unwahrscheinliche und nur kurzfristig denkbare Alternative ist, dass nach einem Scheitern in der Vertrauensabstimmung der Labour-Parteichef eine Minderheitsregierung als Übergangslösung bilden würde. Dies wäre eine Situation analog zu 1974 unter Harald Wilson, die mit raschen Neuwahlen innerhalb weniger Monate endete. Für die Brexit-Verhandlungen gibt es im Moment schlicht kein Mandat einer britischen Regierung. Sie dürften ausgesetzt oder auf kleiner Flamme begonnen werden. Die Konstellation stärkt ganz klar die Position der EU in den Verhandlungen, weil die Uhr tickt.

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