Politik

Ökonom: Europa muss sich vom Diktat der US-Politik lösen

Lesezeit: 7 min
28.05.2018 00:50
Der Ökonom Folker Hellmeyer sieht die Zeit für die Emanzipation Europas von der US-Außenpolitik gekommen.

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Die USA haben das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt und setzen die Europäer unter Druck, ihre Geschäfte mit dem Iran herunterzufahren. Was steckt Ihrer Meinung nach dahinter?

Folker Hellmeyer: Vordergründig geht es um den Iran. Entscheidend geht es um die hegemoniale Machterhaltung der USA, nachdem man im Nahen Osten in den letzten Jahren massiv an Boden und vor allen Dingen an Glaubwürdigkeit verloren hatte. Die Regime-Change Politik der USA im Nahen Osten, der Ukraine und in Nordafrika hat nicht nur vollständig ihre Ziele verfehlt, sondern auch eine Spur der Verwüstung, des Todes, des Unglücks, der Verarmung und der Verzweiflung in den betroffenen Ländern im Namen der USA und des Westens hinterlassen und ist ursächlich für die Flüchtlingsströme, die Europa belasten.

Der Versuch der USA, den Iran massiv zu isolieren, obwohl sich der Iran an die Bedingungen des Vertragswerks hält, ist Ausdruck des Versuchs eines impliziten „Regime-Change“ im Iran. Damit soll die Achse Peking-Moskau-Damaskus-Teheran und in Teilen Bagdads, die den Status Quo in der Region des Nahen Ostens zu ihren Gunsten entschied, angegriffen werden. Es ist aber auch der Versuch, insbesondere Europa dazu zu bewegen oder gar zu zwingen, US-Interessen über eigene Interessen zu stellen und internationale Vertragsverpflichtungen in Abrede zu stellen. Indirekt sagen die USA dem Rest der Welt, dass Verträge mit den USA nur dann eingehalten werden müssen, wenn sie zu Gunsten der USA ausfallen. Wird jedoch die andere Seite abgesichert, läuft diese Partei das Risiko, dass sich die USA aus diesen Verträgen verabschieden. Damit laufen Vertragswerke mit den USA für die Gegenparteien darauf hinaus, Ausdruck einer Unterordnung zu sein. Der Begriff Unterordnung steht im diametralen Widerspruch zu den westlichen Werten.

Die aktuelle Politik Washingtons muss man als eine Antwort auf die Veränderung der finanz-ökonomischen Machtachse zu Gunsten der aufstrebenden Länder mit dem Ziel einer multipolaren Weltordnung sehen. Hatten diese Länder 1990 noch 20 Prozent Anteil an der Weltwirtschaft, stellt sich der Anteil derzeit auf gut 66 Prozent. Der Iran spielt in der Planung der Seidenstraße, einem Teil des Projekts „One Belt -One Road“ eine wesentliche Rolle. Diese für die Menschen konstruktive Infrastrukturpolitik Chinas, die auch fraglos Machtpolitik darstellt, versuchen die USA durch destruktive „Regime-Change“ Politik zu kontern.

Wo muss sich Europa aufstellen, wenn wir es mit westlichen Werten ernst meinen und sie nicht als billiges Lippenbekenntnis vor uns hertragen wollen?

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Bisher wurde der „Westen“ vielfach als eine Wertegemeinschaft unter US-amerikanischer Führung bezeichnet. Jetzt werden Diskrepanzen zwischen der EU und den USA sichtbar. Wie sehen Sie die Zukunft der europäisch-amerikanischen Beziehungen?

Folker Hellmeyer: Die westliche „Wertegemeinschaft“ hat seit 2001 sehr an Ansehen insbesondere in den aufstrebenden Ländern verloren. Die Asymmetrie, mit der der Westen Völker- und Vertragsrecht anwendet, muss höflich ausgedrückt als irritierend tituliert werden. Diese Divergenz zwischen Wort und Tat zwingt alleine aus Wertegesichtspunkten mindestens Kontinentaleuropa (ex-UK) dazu, sich zu emanzipieren.

Das gilt umso mehr, als dass die Politikansätze der USA im Nahen Osten und Nordafrika den gesellschaftspolitischen Zusammenhalt innerhalb Europas hinsichtlich der daraus generierten Flüchtlingsströme untergräbt. Anders ausgedrückt gibt es faktisch zwei US-Schlachtfelder, einerseits der Nahe Osten und Nordafrika und andererseits Europa. Nur ausgesprochene Naivität und Verweigerung von Realitäten können einen von dieser Schlussfolgerung abhalten.

Kontinentaleuropa stellt eine Herausforderung für die USA dar, sofern es sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch einigt. Die Eurozone ist derzeit das ökonomische Powerhouse der Welt ohne wirklich eigenständige Außenpolitik im Sinne nachhaltiger Interessenpolitik. „Hidden Champions“ (Definition: Unternehmen, die Nummer eins im eigenen Land in der betreffenden Branche sind und unter den Top drei der Branche weltweit reüssieren) bilden den innovativen Kapitalstock. An ihnen misst sich die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftsraumes. Die Eurozone stellt mehr als 60 Prozent dieser Unternehmen bei einem Anteil von 4,6 Prozent an der Weltbevölkerung. Dieser europäische Kapitalstock hat keine angemessene Interessenvertretung im Außenverkehr. Das gilt umso mehr, als dass die USA das internationale Organigramm (u.a. WTO) in Frage stellen.

Mehr noch liefern die Strukturdaten im Vergleich USA zur Eurozone Schwächesignale aus den USA. Der Konjunkturaufschwung der letzten acht Jahre ist in den USA maßgeblich von Kredit getragen. So stieg die Konsumverschuldung seit 2008 um nominal 43 Prozent, während die mittleren Löhne nominal um knapp 20 Prozent zulegten. Die Unternehmensverschuldung markiert in den USA historische Höchststände bei einem öffentlichen Haushaltsdefizit von 5,3 Prozent der Wirtschaftsleistung. Das ist kein Wirtschaftsmodell, dass sich von selbsttragenden Kräften speist. Hier wird das Wirtschaftsmodell, das zur Krise 2008/2010 führte faktisch wiederholt. Setzen wir die Daten der Eurozone dagegen. Laut IWF wird das Haushaltsdefizit bei 0,6 Prozent des BIP per 2018 liegen. Der Aufschwung der Eurozone basiert nicht maßgeblich auf Kredit, sondern auf wiederkehrenden Einkommen. Letzteres ist die qualitativ beste Grundlage für einen Aufschwung.

Das Fazit kann nur lauten, dass Kontinentaleuropa politisch erwachsen werden muss. Es macht eine eigenständige Außenpolitik unverzichtbar, die eine Emanzipation vom außenpolitischen Diktat der USA faktisch erzwingt. Diese ist fraglos nicht über Nacht erreichbar, aber die notwendigen Maßnahmen müssen eingeleitet werden und entsprechende Zeichen gesetzt werden.

Erlauben sie mir einen Diskurs zur Rolle Kontinentaleuropas. Die Ost-Entspannungspolitik wurde über wirtschaftliche Kontakte aufgebaut. Gute Geschäfte bedeuten auch kulturellen Austausch und gemeinsame Interessen. Das ist Frieden stiftend. Wir sollten wie die Hanse reagieren und mit allen gute Geschäfte machen. Unser Kapitalstock (Hidden Champions) bietet dafür eine Steilvorlage. Aus dem Warenaustausch generiert sich in Verbindung mit der Seidenstraße Wohlstandsmehrung. Sind die Grundbedürfnisse in aufstrebenden Ländern befriedigt, ergibt sich in Gesellschaften unter den jeweiligen kulturellen Bedingungen Freiheitswille. Respekt vor anderen Kulturen muss auch Toleranz für andere Politikansätze beinhalten. Manche Kulturen sind nicht reif für den Zuschnitt unseres westlichen Werteverständnisses. Diese Erkenntnis gehört zwingend zu Nichtdiskriminierung und Toleranz. Dieser beschriebene Weg stellt einen endogenen Prozess dar, der sich so vollständig von dem US-Modell des „Regime-Change“ abhebt, der nicht Blut vergießt, sondern Zukunft generieren hilft. Das ist mein Verständnis von Kontinentaleuropa.

Kontinentaleuropa und die aufstrebenden Länder dieser Welt stellen gut 80 Prozent der Weltwirtschaft (88 Prozent der Weltbevölkerung und kontrollieren circa 70 Prozent der Devisenreserven). Die USA stellen 15 Prozent bei abnehmender Tendenz. Wohin muss sich Kontinentaleuropa ökonomisch ausrichten, um unser exportseitiges Geschäftsmodell einer guten Zukunft zuzuführen, um Frieden zu bewahren und kulturelle Vielfalt zu leben?

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Allerdings verfügen die USA über ein entscheidendes Druckmittel: den amerikanischen Dollar. Braucht die EU auch einen starken Euro, um sich erfolgreich von den USA emanzipieren zu können?

Folker Hellmeyer: Sie haben Recht, wenn man den Blick in die Vergangenheit schweifen lässt. Fakt ist, dass die Abnabelung vom USD sukzessive seit 2010 voranschreitet. Schwellenländer wickeln beispielsweise immer größere Teile ihres Handels unter Ausschluss des USD ab. Noch ist der USD fraglos ein Druckmittel bei abnehmender Potenz. Es ist aber auch ein Druckmittel mit Nebenwirkungen und die sind dank der strukturellen Schwäche der USA ausgeprägt. Die USA wollen laut Präsident Trump mehr exportieren. Steigt der USD, wird dieses Ziel illusionärer. Damit würden verstärkte Importe in die USA forciert und Exporte erschwert. Damit würde der Sektor der US-Produktion leiden. Wenn ein Hegemon seine Druckmittel aggressiv durchsetzt und dabei auch gegen „vermeintliche oder frühere Freunde“ vorgeht, kann das am Ende zu einer Selbstisolierung führen. Mehr noch fahren die USA diese „Geschütze“ in einer Phase eigener struktureller Schwäche (schuldenbasiertes Wachstum seit 2010) auf. Das macht diese Politik noch angreifbarer.

Kontinentaleuropa braucht einen stabilen Euro. Trotz aller aktuellen Probleme in der Eurozone und der EU, als Beispiel Italien, ist das gewährleistet. Gerade der aktuelle Angriff der USA auf Kontinentaleuropa ist ein Lehrstück, dass wir nicht nur bei Unternehmen „Business of Scale“, sondern in der Politik „Politics of Scale“ brauchen, um unsere existentiellen Interessen wehrhaft zu verteidigen. Das wird auch in Rom & Co. begriffen.

Lassen Sie mich das Fazit ziehen. Die USA gehen disruptiv mit der Weltgemeinschaft um. Völkerrecht gilt für alle außer den USA. Das Organigramm (UNO, IWF, WTO), auf dem die Macht und der Anspruch der USA in der Nachkriegsära basierten, wird von den USA selbst faktisch in Frage gestellt. Das gilt noch nicht für die Rolle des USD, sie ist aber Teil dieser Nachkriegsordnung und sie ist bereits in Ansätzem geschliffen von Seiten der übrigen Weltgemeinschaft. Alte Beziehungen bieten keine Belastbarkeiten (O-Ton Henry Kissinger: Amerika hat keine dauerhaften Freunde oder Feinde, nur Interessen). Der Emanzipationsprozess der aufstrebenden Länder findet strukturell (OBOR) und organisatorisch (bilaterale Handels- und Währungsbeziehungen, New Development Bank, AAIB, CIPS) statt. Das US-Wirtschaftsmodell zeichnet sich durch strukturelle Schwächen aus. Damit sind die Aktionen der USA nicht Ausdruck endogener Stärke, sondern Zeichen von Schwäche. Der veränderte Stil der US-Außenpolitik spiegelt das mit Eigenschaften des Pokerspiels des „All in“.

In dieser Lage kann sich Kontinentaleuropa als Betroffener der US-Politik nicht weiter in der gewohnten Form an die USA binden. Emanzipation ist ein „Muss“ – Die Zukunft liegt im Osten!

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In der EU wird immer wieder – oft von italienischer Seite – über die Einführung nationaler Parallelwährungen im Euroraum diskutiert, wobei der Euro als Referenzwährung erhalten bleiben könne. Wäre dies für Sie ein gangbarer Weg? Oder könnte der Euro dann keine Konkurrenz zum Dollar mehr darstellen?

Folker Hellmeyer: Diese Debatten über Veränderungen des Euro-Währungsregimes halte ich für nicht ansatzweise Ziel führend. Es handelt sich um akademische Debatten. Wenn dieses Fass aufgemacht wird, wird jedes Land, das selbstverschuldete Probleme zu bewältigen hat, den Versuch starten, Sonderwege zu gehen. Das unterminierte die Glaubwürdigkeit so signifikant, dass der Euro keine wesentliche stabilitätsorientierte Rolle einnehmen könnte. Genau diese Rolle ist jedoch elementar, um nachhaltige wirtschaftliche Performance und Prosperität für Gesellschaften zu forcieren.

Die Länder, die seichte Wege in der Währung gehen wollen, sind Länder, die den kommenden Generationen die Zukunft stehlen. Wer Probleme nicht originär über notwendige Reformen angeht und sich kosmetischer Mittel bedient, nichts anderes sind Abwertungen oder Parallelwährungen, verweigert sich der eigenen Verantwortung.

Ich bin extrem irritiert, dass in dieser Debatte nicht deutlich gemacht wird, dass das Euro-Setup wesentliche Details des Goldstandards aufweist, ohne jedoch Goldstandard zu sein. Machen wir einen Exkurs: Wenn im Goldstandard ein Land über seine Verhältnisse lebte, mussten Goldreserven verkauft werden. Waren diese Reserven aufgebraucht, war man zu Anpassungen/Reformen gezwungen. Das Setup des Euros bietet faktisch eine soziale Fassung dieses Mechanismus. Wer seine Ökonomie fehlsteuert, erhält unter der Maßgabe von eingeforderten Reformen die Solidarität des Euro-Systems.

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Folker Hellmeyer begann seine Laufbahn 1984 als Devisenhändler bei der Deutschen Bank in Hamburg und London. Der gelernte Bankfachwirt wechselte 1995 zur Helaba in Frankfurt am Main. Von April 2002 bis Ende 2017 war er Chefanalyst bei der Bremer Landesbank (BLB). Im Jahr 2018 gründete Folker Hellmeyer zusammen mit ehemaligen BLB-Kollegen die Fondsboutique Solvecon Invest GmbH in Bremen, bei der er Chefanalyst und Gesellschafter ist.

Folker Hellmeyer ist darüber hinaus gern gesehener Gast in finanzorientierten Fernsehsendungen und Talkrunden, z.B. bei n-tv oder Bloomberg TV.

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