Deutschland

Deutschlands Baukrise: Angebot an neuem Wohnraum ist auf breiter Front eingebrochen

In den Jahren seit der Jahrtausendwende hat sich in Deutschland eine echte Bau- und Wohnungskrise entfaltet. Während das Angebot stetig schrumpfte, stiegen die Mieten stark und erschweren inzwischen breiten Bevölkerungsschichten das Ansparen von Vermögen.
02.06.2019 16:59
Lesezeit: 5 min

Immobilien und Land sind die bevorzugte Vermögens- und Wertanlagen in Deutschland. Das in Boden und in Immobilien angelegte Kapital ist in der Hand der wohlhabendsten Schichten der Bevölkerung konzentriert, ungefähr 5 Prozent der Bevölkerung. Weitere 40 Prozent haben immerhin ein Eigenheim, das meist auch eine Form von Altersvorsorge bildet.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat hingegen keine eigenen vier Wände, viel mehr als anderswo in der Europäischen Union und in vielen anderen Industrieländern. Das war lange kein Problem, weil Mieter in der Bundesrepublik sehr gut geschützt waren. Außerdem war der Zugang zu Wohneigentum aufgrund der moderaten Preise und staatlicher Fördermaßnahmen möglich. Heute ist alles anders, die Phänomene sind: Stark steigende Mieten und deshalb Lebenshaltungskosten, Wohnungsnot, zu geringe Bautätigkeit im Wohnungsbau, erschwerter oder verunmöglichter Zugang zu Wohneigentum für viele Mittelklasse-Haushalte.

Die heutige Situation kann veranschaulicht werden durch einige Graphiken, welche die Brisanz des Themas beleuchten. Der Wohnungsbau ist seit der Jahrtausendwende förmlich zusammengebrochen und hat sich auch in den letzten 10 Jahren, gemessen an der historischen Erfahrung, kaum erholt. Lange Reihen helfen, die aktuellen Zahlen besser in einen Kontext zu stellen.

Graphik: Baugenehmigungen und -Fertigstellungen von Wohnungen im früheren Bundesgebiet 1950 - 2018 (ab 2005 ohne Berlin West).

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Destatis, Baugenehmigungen und -Fertigstellungen

Aus der Graphik wird ersichtlich, dass im früheren Bundesgebiet bis in die frühen 1970er Jahre jährlich im Durchschnitt rund 600’000 Wohnungen gebaut wurden. Diese Zahl ist durch den obersten Querstrich symbolisiert. Von Mitte der 1970er bis zur Jahrtausendwende lag dieser Durchschnitt (mittlerer Querstrich) bei rund 400’000 Wohnungen pro Jahr. Seit der Jahrtausendwende ist dieser Durchschnitt auf noch rund 200’000 fertiggestellte Wohnungen pro Jahr eingebrochen, ein gewaltiger Einbruch. Auf drei Faktoren muss relativierend hingewiesen werden:

  • Seit 2015 fehlt Berlin-West in dieser Statistik des früheren Bundesgebiets, das sind rund -10’000 Wohnungen pro Jahr.
  • Die Zahlen für 2018 sind aufgrund der gesamtdeutschen Zahlen hochgerechnet, es gibt mit anderen Worten eine - allerdings sehr geringe - Fehlermarge.
  • Die Baugenehmigungen zeigen ferner aufgrund der deutlicher gestiegenen Baubewilligungen für Ende 2018 einen deutlichen Auftragsüberhang, der für die Folgejahre 2019 und später eine erhöhte Bautätigkeit erwarten ließe. Die Baugenehmigungen haben typischerweise einen Vorlauf von 1-2  Jahren gegenüber den Baufertigstellungen. Allerdings gibt es auch Perioden, wo nicht alles gebaut wird, was beantragt und bewilligt worden ist. Im Durchschnitt liegen die Fertigstellungen ohnehin rund Prozent unter den Fertigstellungen. Vor allem bei zyklischen Höhepunkten der Konjunktur Baukonjunktur wie Anfangs der 1990er und Mitte der 1990er Jahre zeigt sich das Phänomen, das die Fertigstellungen nachher nicht mithalten.

Der langfristige Rückgang der Bautätigkeit betrifft beides den Bau von Eigenheimen wie von Mietwohnungen. Es ist keineswegs nur so, dass nur die Mieter betroffen wären, im Gegenteil: Der Bau von Mietwohnungen dominierte von den 1950er bis Mitte der 1970er Jahre. Damals ist er strukturell tief eingebrochen und hat sich seither nur in den frühen 1990er Jahren kurzzeitig erholt. Die Erholung der 2010er Jahre ist die bei Weitem schwächste vom Tiefpunkt aus.

Noch deutlicher ist das Bild bei den Eigenheimen. Noch nie wurden so wenige Eigenheime (Einfamilienhäuser + Eigentumswohnungen) gebaut wie in den letzten 15 Jahren. Es sind mit anderen Worten auch angehende Wohnungseigentümer schlicht und einfach vom Erwerb eines Eigenheimes ausgeschlossen. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Erholung in diesem Segment, während bei den Mietwohnungen in den letzten 10 Jahren doch ein Anstieg aus dem Loch erkennbar ist. Es ist mit anderen Worten eine breite und umfassende Baukrise, ein Versagen des Angebots auf breiter Front, und keineswegs nur ein städtisches oder Mieter-Phänomen.

Die Anzahl Wohnungen mag einen Aspekt darstellen, doch wurden mindestens doch größere Wohnungen gebaut. Das stimmt, aber nicht für alle Segmente des Marktes. Vor allem neu erstellte Mietwohnungen haben im Durchschnitt kaum größere Wohnflächen als vor 40 Jahren. Weiter reicht die Statistik nicht zurück. Außer einer qualitativen Verbesserung ist da nicht viel passiert. Die ganze Flächenexpansion hat fast ausschließlich im Segment der freistehenden Einfamilienhäuser stattgefunden.

Graphik: Durchschnittliche Wohnungsgrößen im Neubau.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Destatis, Baugenehmigungen und Baufertigstellungen nach Gebäudeart

Die Gründe für die Wohnungsmisere sind, oberflächlich betrachtet, einfach. Es gibt eine starke Wohnungsnachfrage, teils durch die vergangene verbesserte Konjunktur- und Arbeitsmarktlage und die höheren Einkommen bedingt, teils verursacht durch die starke Immigration der Flüchtlinge und Arbeitssuchenden seit 2015. Das Angebot hält nicht im Ansatz Schritt mit diesem beschleunigten Nachfragewachstum, die Gründe dafür sind komplex und werden gesondert diskutiert. Die Wohnungs- und Häuserpreise sind stark gestiegen und für viele potentiellen Käufer unerschwinglich geworden. Die Mieten, sowohl Neu- wie Bestandsmieten, gehen aufgrund veränderter Mietpreis-Regulierung parallel zu den Preisen für Wohnungen und Häuser in die Höhe. Unbefriedigt bleibt eine erhebliche Wohnungsnachfrage, die sich in langen Schlangen bei Ausschreibungen für ein Mietobjekt niederschlägt, oder eben im erzwungenen oder resignativen Verzicht auf den Kauf eines Eigenheimes.

Das hat Konsequenzen für die Belastung der Haushalte durch die Wohnkosten. Die Haushalte, insbesondere die Mieter und Käufer von Eigenheimen der letzten Jahre, müssen heute präzedenzlos hohe Anteile ihres laufenden Einkommens und ihrer gesamten Konsumausgaben für die Wohnkosten aufwerfen. Diese setzen sich aus den Nettokaltmieten einerseits, den Nebenkosten für Heizung, Beleuchtung, Energie, Wasser andrerseits zusammen. In der langen Frist sind die gesamten Wohnkosten als Teil der Ausgaben der Haushalte steil angestiegen. Sie machen heute für ganz Deutschland rund einen Drittel der Ausgaben der privaten Haushalte aus und sind damit selbstredend die wichtigste Position. Dieser Anstieg der Wohnkosten ist einzigartig. Keine andere Komponente der Konsumausgaben zeigt auch nur annähernd eine solche Dynamik.

Graphik: Anteile der großen Positionen im Wägungsschema des Index der Lebenshaltungskosten / VPI Bundesrepublik / Deutschland 1950-2015

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Unter den großen Positionen vor 50 Jahren haben Nahrungsmittelpreise und Kleider und Schuhe beide haben stark an Gewicht eingebüßt. Eindrücklich ist vor allem der Rückgang des Nahrungsmittel-Anteils. Gewonnen haben die Verkehrsausgaben, die Ausgaben für Freizeit und Unterhaltung und eben die Wohnkosten. Diese haben von 1970 bis 2000 stark an Gewicht im Wägungsschema und seither nur noch leicht zugelegt.  

Allerdings verbirgt sich hinter diesem Anschein eines reduzierten Anstiegs seit der Jahrtausendwende eine doppelt ungleiche Entwicklung:

  • Die Wägungsschemas von 1950 bis 1985 betrafen die früheren Bundesländer, von 1991 bis 2015 aber das vereinte Deutschland. Nun hatten und haben die neuen Bundesländer bis heute niedrigere Ausgabenquoten für die Wohnungskosten. Sie liegen effektiv, um eine einheitliche Statistik abzubilden, höher als die gesamtdeutschen Werte. Die Differenz war unmittelbar nach der deutschen Einheit besonders stark, hat sich aber zunehmend eingeebnet.
  • Hinter der scheinbaren Abflachung des Anstiegs versteckt sich eine höchst ungleiche Entwicklung und Exposition nach Einkommenskategorien.

Graphik: Anteil der Ausgaben für Wohnung an den gesamten Konsumausgaben nach monatlichem Netto-Haushaltseinkommen 2017

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Quelle: Destatis, Laufende Wirtschaftsrechnungen

Das Durchschnitts-Bruttoeinkommen beträgt in Deutschland 2017 rund 3’400 Euro, die durchschnittlichen Konsumausgaben erreichten rund 2’600 Euro. Diese Werte sind durch hohe Einkommen nach oben verzerrt, der Median liegt deutlich tiefer. Für die Einkommen unter 3’000 EUR geben die Haushalte 40 Prozent und mehr ihres Einkommens für die Wohnungskosten aus.

Summa summarum dominiert der Eindruck einer Krise auf doppelter Ebene. Einerseits einer Krise des Angebots im Wohnungsbau, das trotz präsenzlos niedriger Zinsen und einer durchaus vorhandenen zahlungskräftigen Nachfrage kaum angezogen hat. Andrerseits rufen die verbreiteten Mietsteigerungen gerade bei den unteren und mittleren Einkommen ein Malaise hervor, besonders dort, wo Einkommen trotz guter Konjunkturlage seit langem kaum angestiegen oder sogar noch gefallen oder eher komprimiert worden sind.

Die Gründe für diese Sondersituation sind in der öffentlichen Diskussion nicht abgedeckt. Sie liegen in der deutschen Wohnungspolitik und der Besteuerung des Bau- und Immobiliensektors in Deutschland einerseits, in der Geldpolitik der EZB, im Finanzsektor und in der europäischen Finanzmark-Regulierung andrerseits. Die weiteren Artikel in unserer Serie werden sich diesen Themen widmen.

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