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22.07.2019 16:30
Das politische Ereignis in der Ukraine hat zwar am Montag die deutschen Medien stark beschäftigt. Trotzdem wissen viele Deutsche nur sehr wenig von dem osteuropäischen Land. Dabei sind wir von den Problemen dort direkt betroffen.
Warum die Ukraine uns alle angeht
Wir Deutschen müssen genau beobachten, was in der Ukraine passiert. Foto: DPA

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„In Deutschland herrscht von der Ukraine oft nur ein schablonenhaftes undifferenziertes Bild vor, in dem das Land als Teil Russlands und der ehemaligen Sowjetunion gesehen wird“, sagte ein Osteuropa-Experte. Der Fachmann gehörte zu denjenigen Kennern des Landes, den die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) 2018 im Rahmen der Studie „Die Ukraine in den Augen Deutschlands“ interviewt hatte.

Dabei wurden 44 Experten befragt, welches Wissen die Deutschen aus ihrer Sicht über das osteuropäische Land haben. Das Ergebnis: Sehr spärlich, oft nur von Stereotypen gekennzeichnet – zumindest so, als sei die Ukraine von Deutschland sehr weit weg.

Daran hat sich bis heute mit Sicherheit kaum etwas geändert, auch wenn die Parlamentswahlen in dem osteuropäischen Land in der deutschen Berichterstattung am Montag den 22. Juli ein breites Echo gefunden haben – und zwar sowohl in den Nachrichten- als auch in den Kommentarspalten. Die Partei „Diener des Volkes“ von Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, der eigentlich Komiker und kein Politiker von Beruf ist, hat nach ersten Auszählungen mit mehr als 40 Prozent der Stimmen gewonnen.

Den zweiten Rang nimmt die russlandfreundliche Oppositionsplattform ein, die bisher die Mehrheit gestellt hat. Danach folgt die Partei Europäische Solidarität des Ex-Präsidenten Petro Poroschenko. Den vierten Rang nimmt „Vaterland“ ein, die von der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko geführt wird, die im Westen von allen Politikern am bekanntesten ist.

Viele Deutsche dürften Wahlen morgen wieder vergessen haben

Auch wenn Timoschenko in Deutschland schon eine sehr gute Presse hatte, dürfte der Großteil der Deutschen dieses Ereignis morgen aber schon wieder vergessen haben. Sie werden diese Analysen und Kommentare wohl nur als eine Information unter vielen lesen, die jeden Tag massenhaft über die Handys, Smartphones und TV-Bildschirme flimmern – ganz so, als hätte das politische Ereignis ganz weit weg in Indonesien, im Kongo oder auf den Falkland-Inseln stattgefunden.

Dabei geht die Ukraine uns Deutsche direkt an. Wir sind mit dem osteuropäischen Land über unseren Nachbarn Polen unmittelbar verbunden, mit dem wir eine offene Außengrenze von 469 Kilometern haben, die ziemlich lang ist. Nur mit Österreich und Tschechien (jeweils 818 Kilometer) sowie mit den Niederlanden (576 Kilometer) sind die Demarkationslinien noch länger.

Von einer Lösung des Konfliktes in der Ukraine kann noch lange keine Rede sein, auch wenn sich die Lage beruhigt hat. Und sollten die Probleme dort wieder einmal so stark eskalieren, dass die ukrainischen Bürger in Massen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, dann wird Deutschland ein wichtiges Zielland sein. Denn wir sind relativ leicht für die Ukrainer zu erreichen. So verfügt unser Nachbar Polen über eine 535 Kilometer lange Grenze zur Ukraine, die die Migranten einfach überschreiten werden.

Deutscher Nachbar Polen attraktives Fluchtland für Ukrainer

Polen ist für sie auch schon deswegen ein attraktives Fluchtland, weil sich dort bereits viele ihrer Landsleute aufhalten. Viele von ihnen leben dort, weil die Löhne und Gehälter wesentlich attraktiver sind als in ihrer Heimat. Andere wiederum sind vor dem Krieg im Ostteil des Landes nach Polen geflohen.

Die polnische Nationalbank NBP berichtet, dass 2018 etwa 1,2 Millionen Ukrainer in Polen gelebt haben. Die offizielle Politik der polnischen Regierung ihnen gegenüber ist positiv, so dass man davon ausgehen kann, dass Polen verstärkt ukrainische Flüchtlinge aufnehmen wird, sollte es einmal zu einer großen Eskalation im dem osteuropäischen Land kommen.

Dann landen die Ukrainer auch relativ schnell in Deutschland. Beispielsweise beträgt die Fahrzeit mit der Bahn von der ostpolnischen Stadt Chelm, die an der Grenze zur Ukraine liegt, nach Warschau vier bis fünf Stunden. Von der polnischen Hauptstadt sind es noch einmal sechseinhalb Stunden bis zum Berliner Hauptbahnhof – also zehn bis zwölf Stunden insgesamt.

Von polnischer Grenze im Prinzip in zwei Stunden bei Angela Merkel

Im Osten Polens ist die Fahrt noch ziemlich mühselig, doch ab Warschau wird es dann einfacher. Im Prinzip reicht es für die Ukrainer, die Grenze zu Deutschland zu erreichen. Von Slubice bzw. Frankfurt/ Oder aus fährt mehrmals am Tag ein Regionalexpress der Deutschen Bahn in ein bis zwei Stunden bis zum Berliner Bahnhof Zoo. Vor dort aus bräuchten die Flüchtlinge dann nur mit dem Stadtbus noch eine knappe Viertelstunde bis zum Bundeskanzleramt, wo sie Angela Merkel die Hand reichen können.

Sicher würden die ukrainischen Flüchtlinge nicht sofort ihr Ziel erreichen, weil es insbesondere durch Polen nicht so leicht zu durchqueren ist. Denn viele Straßen- und Bahnabschnitte sind unterbrochen. Selbst knapp 30 Jahre noch der politischen Wende haben die Polen es immer noch nicht geschafft, ein verkehrstüchtiges Straßen- und Bahnnetz zu errichten, das westlichen Verhältnissen entspricht. Zum Vergleich: Es gibt gerade einmal zwischen 1.600 und 1.700 Kilometer Autobahn. In Deutschland sind es 15.000 Kilometer.

Bei der Bahn sieht es zwar etwas besser aus, wenn man die Streckenlänge berücksichtigt. So verfügt Polen über knapp 19.100 Kilometer, während der westliche Nachbar etwa doppelt so viel aufweist. Doch müssen viele Teile des polnischen Bahnnetzes unbedingt repariert werden, weil sie in einem so schlechten Zustand sind, dass man sie kaum befahren kann. Trotzdem lässt sich dieser Weg von Flüchtlingen aus der Ukraine relativ schnell durchqueren, weil kein Meer oder schwer befahrbare Hochgebirgspässe dazwischen liegen.

Sehr gut ausgebaute russischsprachige Struktur in Deutschland

Darüber hinaus ist Deutschland für die Ukrainer noch aus einem anderen Grund attraktiv: Hier sind bereits viele ihrer Landsleute oder zumindest Angehörige aus den ehemaligen Sowjetstaaten, die eine starke Minderheit bilden. Die Ukrainer haben in der Regel zwei Muttersprachen – nämlich Russisch und Ukrainisch. Viele im Ostteil des Landes sprechen auch nur Russisch.

Deswegen sind Länder für sie immer interessant, in denen es eine russischsprachige Struktur gibt. Und dazu gehört auch Deutschland. Es gibt Medien wie den russischsprachigen Radiosender „Russkij Berlin“. Darüber hinaus verkauft die Einzelhandelskette „Mix-Markt“ aus dem schwäbischen Herrenberg Produkte und Waren wie Schokolade und Wodka an diese Kundengruppe aus Osteuropa. Der Spezial-Händler generiert pro Jahr 350 Millionen Euro Umsatz und schätzt das gesamte osteuropäische Kundenpotenzial in Deutschland auf 8,5 Millionen – die Ukrainer miteingerechnet.

Dies zeigt, wie nahe uns die Osteuropäer tatsächlich sind. Wir müssen uns unbedingt genau mit ihnen genau auseinandersetzen. Die Wahlen vom Sonntag dürfen nicht nur ein singuläres Ereignis sein, das wir als ein politisches Ereignis unter vielen wahrnehmen und morgen schon wieder vergessen haben.


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