Politik

Die Amerikaner sind krank: Gesundheits-System auf Crash-Kurs

Lesezeit: 10 min
02.04.2017 01:02
Viel zu viele Amerikaner sind chronisch krank. Dieser Zustand ist ein System-Problem, welches von der Ernährung bis zur Versorgung von den Lobbys dominiert wird. Doch das System steuert unaufhaltsam auf den Crash zu.
Die Amerikaner sind krank: Gesundheits-System auf Crash-Kurs

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Sieben Jahre hatten die Republikaner Zeit, das US-Gesundheitswesen zu durchleuchten und einen eigenen, gut durchdachten Vorschlag zu entwickeln. Im Wahlkampf haben sie diesen tunlichst verschwiegen, was sich ausgezahlt hat. Die Republikaner haben die Mehrheit im Haus und im Senat. Als der Moment der Wahrheit kam, wurde am 6. März ein skurriles Programm präsentiert: ‚Obamacare Lite‘. Im Wesentlichen hielt der Vorschlag an vielem von Obamacare fest, machte das Ganze aber komplett unsozial und sparte kaum bis nichts ein. Nach den Projektionen hätten 24 Millionen Versicherte den Versicherungsschutz verloren. Viele Haushalte mit geringen Einkommen hätten deutlich erhöhte, Gutsituierte dagegen reduzierte Prämienrechnungen erhalten. An der verhängnisvollen Kostenlawine im Gesundheitswesen hätte sich nichts geändert.

Der Gesundheitszustand der Bevölkerung der USA ist von hohen Risiken und chronischen Krankheiten gekennzeichnet. Die Gesundheitskosten sind deswegen völlig außer Kontrolle und steigen explosionsartig an. Zugrunde liegt eine Epidemie der Armut, Fehlernährung, Übergewicht und Fettleibigkeit. Weder Obamacare noch Ryan-/Trumpcare befassen sich damit oder versuchen Angebot und Nachfrage im Gesundheitswesen wesentlich zu beeinflussen. Beide behandeln nur die Finanzierung des Gesundheitssystems sowie den Zugang zu Gesundheits-Dienstleistungen. Allerdings von völlig entgegengesetzten Seiten.

Wichtig ist zunächst, dass die USA ein vom Rest der Welt fundamental anderes Gesundheitssystem haben – unabhängig von Obamacare. Es ist im Kern ein privatwirtschaftliches System, das von privaten Unternehmen und Personen angeboten wird. Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich über Krankenversicherungen, welche Unternehmen für ihr Personal organisieren und bei denen die Unternehmen den überwiegenden Teil der Prämien bezahlen. 2015 lag dieser Anteil bei 56 Prozent. Rund 150 Millionen Amerikaner sind so über das Unternehmen versichert. Private zahlen individuell heute nur rund 8 Prozent. Der zweite große Block ist Medicaid (20 Prozent) – zusammen mit den kleineren Positionen Medicare und Krankenkassen für das öffentliche Personal (Militärangehörige). Heute sind als Residualgröße rund 10 Prozent der Bevölkerung nicht versichert.

Die Versicherung durch Unternehmens-Krankenkassen ist ein Erbe von Präsident Roosevelts Lohn- und Preiskontrollen im Zweiten Weltkrieg. Die durch Arbeitgeber bezahlten Krankenkassen-Prämien galten und gelten bis heute nicht als Einkommen und konnten so die Lohnkontrollen in der Situation eines angespannten Arbeitsmarktes umgehen. Der Anteil der über betriebliche Krankenkassen Versicherten ist immer noch dominant – wenn auch seit den 1960er Jahren gesunken. Alternativ sind Haushalte individuell bei Krankenkassen versichert. Das sind aber viel weniger. Ihr Anteil hat genau wie die bei Unternehmen Versicherten über die Zeit deutlich abgenommen. Daneben gibt es die Gruppe nicht Versicherter, welche sich eine Versicherung nicht leisten können oder wollen. Es gab bis zur Einführung von Obamacare keinen Zwang zum Abschluss einer Krankenversicherung. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug seit den 1960er Jahren immer rund 12-20 Prozent der Bevölkerung. 2015/16 ist dieser Anteil dank Obamacare auf den geringsten Stand der Nachkriegszeit gefallen.

Unter Präsident Johnson wurden 1965 im Rahmen der „Great Society“ zwei fundamentale Neuerungen eingeführt, nämlich „Medicaid“ und „Medicare“.

Medicaid ist ein Hilfsprogramm, das sozial Schwächere finanziert oder finanziell unterstützt, sodass sie individuell bei Krankenkassen versichert sein können. Und Medicare ist ein staatliches Finanzierungssystem, welches Rentnern über 65 und Invaliden die Gesundheits-Dienstleistungen bezahlt. Medicaid und Medicare sind mehrheitlich von der Bundesregierung bezahlt, sie werden durch Lohnabgaben der Unternehmen sowie aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Medicaid wird im Übrigen auch durch die einzelnen Bundesstaaten finanziert – ungefähr zu 40 Prozent gegenüber 60 Prozent durch den Bund.

Das amerikanische System zeichnet sich somit durch folgende Besonderheiten aus: Der große Teil der Kosten wird durch die Unternehmen bezahlt. Dabei werden die Beiträge nicht hälftig, sondern üblicherweise von den Unternehmen getragen.

Gemäß den Daten der Kayser-Stiftung, die auf diesem Gebiet führend ist, zahlen die Unternehmen insgesamt 83 Prozent der gesamten Krankenkassen-Prämien für einzeln Versicherte, und 72 Prozent für Versicherte samt deren Familienangehörigen. Der Rest der Prämien wird den Versicherten üblicherweise direkt am ausbezahlten Lohn abgezogen. Was sich in den letzten 20 Jahren stark ausgedehnt hat, sind Krankenversicherungs-Pläne mit Selbstbehalten (deductibles).

Für die Beschäftigten, die über den Arbeitgeber versichert sind, stellen die Prämienzahlungen der Unternehmungen einen Segen dar. Steuerlich gilt die Prämienzahlung nicht als Einkommen in der Steuererklärung. Die Unternehmen können zwar umgekehrt die Prämienzahlungen als Kosten in ihrer Steuererklärung abziehen, aber die Krankenkassen-Prämien sind inzwischen ein wichtiger Kostenfaktor für die Lohnkosten. Im Durchschnitt zahlten im Jahr 2015 die Unternehmen 5.179 Dollar pro einzelnem Versicherten und volle 12.591 Dollar für Versicherte mit Familien. Zusammen mit den Pensionskassen-Beiträgen sind die Krankenkassen-Prämien ein enormer Kostenblock für die Unternehmen geworden. Der Versicherungsschutz durch die Unternehmen ist sehr unterschiedlich. Er liegt sehr hoch bei Großunternehmen und mittelgroßen Unternehmen und ist schwach bei Kleinbetrieben mit wenigen Beschäftigten.

In der ganzen Diskussion um Obamacare ist dieser absolut zentrale Punkt bisher untergegangen oder unbeachtet geblieben. Die Lohnnebenkosten der Unternehmen haben, wenn man die Gesundheitskosten über die letzten 50 Jahre betrachtet, enorm an Bedeutung gewonnen. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandsprodukt hat sich fast vervierfacht und dürfte jetzt bei über 18 Prozent liegen, wenn man den exorbitanten Prämienschub für die Krankenkassenprämien 2017 in Rechnung stellt.

Konkret haben sich die Prämienkosten der Unternehmen seit 1999 rund verdreifacht. Diese Daten werden seit 1999 erhoben. Diese Kostenexplosion hat in einem Umfeld sehr geringer Teuerung stattgefunden. Die durchschnittlichen Kosten für den Arbeitgeber betragen für einen Beschäftigten mit Familie also über 12.000 Dollar pro Jahr. Zusätzlich muss der Beschäftigte selber noch 6.000 Dollar entrichten.

Man kann deshalb das amerikanische Gesundheitssystem zunächst als eine Form gescheiterter Industriepolitik interpretieren. Sie umfasst die folgenden Elemente:

Durch die Landwirtschaftspolitik, die Gentechnologie, die Nahrungsmittel- und Getränkeindustrie sowie den Detailhandel und die Verpflegungsstätten (Restaurants, Junk Food Ketten und Verkaufsstände) wird in den USA eine Art Mastkur für einen wesentlichen Teil der Bevölkerung betrieben. Es werden nicht nur Saatgut, Weizen und Mais in riesigen Mengen und hoch produktiv gentechnisch verändert, sondern mit Hilfe von Antibiotika, Anabolika und Stereoiden auch wahre Fleischberge produziert. Darum enthalten die Lebensmittel billiges, qualitativ minderwertiges Fleisch, extrem viele Kohlehydrate (Zucker) und Transfette – eine Kombination, welche maximale Gewichtszunahme der Bevölkerung garantiert. Die Ernährung ist wenig reguliert, die Qualitätsstandards sind locker – ein Gruß an die Segnungen der „Deregulierung“.

Durch die Siedlungs- und Verkehrspolitik mit dem „suburban sprawl“ wird zusätzlich sichergestellt, dass sich die übergewichtige und fettleibige Bevölkerung nicht zu viel bewegt, sondern hauptsächlich am Gaspedal Mobilität auszuleben gezwungen ist.

Diese Ernährung und Mobilität hat medizinische Risikofaktoren wie Übergewicht/Fettleibigkeit, unkontrollierten Bluthochdruck und Level 2-Cholestorol zur Folge. Entsprechend ist ein sehr bedeutender und im internationalen Vergleich auffällig hoher Teil der Bevölkerung chronisch krank – teils mit mehreren chronischen Krankheiten gleichmäßig. Die Behandlungskosten dieser chronischen Krankheiten sind immens, sie stellen fast 90 Prozent der gesamten Gesundheitskosten dar.

Diese Gesundheitskosten explodieren über die Zeit hinweg ungebremst. Dabei stellt die Finanzierung durch die Prämienzahlungen der Unternehmen und (direkt und indirekt) durch den Staat einen Freipass für eine praktisch unbegrenzte Nachfrageexplosion dar. Auf der Angebotsseite gibt es ohnehin keine wirksamen Mechanismen zur Mengen- und Preisbegrenzung. Wiederum ein Reflex anti-etatistischer Ideologie, welche Mengen- und Preiskontrollen durch den Staat als illegitim brandmarkt – obschon dies im Rest der Welt mehr oder weniger Standard ist.

Die explodierenden Gesundheitskosten stellen die Expansion eines riesigen medizinisch-industriellen Komplexes von Industrien und Dienstleistungen sicher. Dazu gehören die Pharma- und Biotechnologieindustrie, die Medizintechnik, welche aufwendige Analyse-, Diagnose- und Behandlungsgeräte in hohem Differenzierungsgrad produziert. Sie werden von hochspezialisierten Ärzten in teuren Spitälern, Kliniken und Arztpraxen mit einer extrem ausdifferenzierten Armee von Berufsgruppen regelmäßig angewandt. Die Behandlung lindert Schmerzen, verlängert Leben, macht Krankheiten erträglich. Sie kann aber Übergewicht, Fettleibigkeit und Bewegungsmangel, welche die Bevölkerung seit Jahrzehnten mit sich schleppt, nicht beseitigen.

Der ökonomische Effekt ist, dass die Arbeitskosten ansteigen, obschon die ausbezahlten Reallöhne seit Jahrzehnten stagnieren. Eine Politik, welche den medizinisch-industriellen Sektor der Wirtschaft einseitig begünstigt, belastet somit zusehends den Rest der Wirtschaft. Die Arbeitskosten sind viel zu hoch geworden, nicht nur wegen Krankenkassen-Prämien, sondern auch wegen Pensionskosten, und verschlechtern die internationale Wettbewerbsfähigkeit. Wer immer unter den amerikanischen Produktions- und Dienstleistungs-Unternehmen kann, lagert die Produktion nach China, Mexiko oder anderswo aus. Neben den Arbeitskosten begünstigt auch das amerikanische Steuersystem diese Tendenz zur Auslagerung.

Pervers sind diese Effekte vor allem in den Pharma-, Biotechnologie- und Medizintechnik-Industrien selbst. Diese Industrien entwickeln ihr Know-how, ihre Patente in den USA. Sie sind Weltmarktführer und haben einen technologischen Vorsprung. Sie können in den USA mit riesigen Margen verkaufen und haben lukrative und stark wachsende Heimmärkte. Dort sind die Universitäten, die Forscher, das Spitzen Know-how.

Normalerweise entwickelt ein Land auf dieser Basis eine Exportstärke. Aber diese Industrien sind keine wichtigen Exportindustrien geworden. Die Medikamente für wichtige ausländische Märkte werden fast durchweg im Ausland hergestellt. In Irland die haben großen Unternehmen dieser Branchen ihre Zentren für Europa, Afrika und den Mittleren Osten (EMEA). Dahinter stecken niedrige Steuersätze und Steuerdeals, welche durch das amerikanische Steuersystem provoziert und toleriert werden.

Die amerikanischen Spitzen-Unternehmen verkaufen ihre Forschungs- und Entwicklungslizenzen für Trinkgelder an ihre Produktionsgesellschaften in Irland. Dort fallen dann, weitgehend steuerfrei, die hohen Gewinne für die dort produzierten Medikamente an. Teilweise ist es sogar so, dass in Irland von Tochtergesellschaften produzierte Medikamente in die USA exportiert werden. Deshalb haben die Vereinigten Staaten eines der höchsten bilateralen Handelsbilanz-Defizite im Außenhandel mit Irland. Im Außenhandel mit Pharmazeutika, einem Spitzenprodukt, haben die USA einen stark negativen Bilanzsaldo und einen nur ausgeglichenen Saldo bei Medizintechnik. Pervers ist, dass die Gewinne und ein Teil der Lohnsteuern dieser Industrien, welche durch öffentliche Regulation, durch die Finanzierung über das staatliche Medicaid-Programm sowie über Steuerrabatte extrem begünstigt werden, effektiv im Ausland anfallen und damit dem amerikanischen Steuerzahler verloren gehen.

Die Vereinigten Staaten betreiben also eine völlig verunglückte Gesundheitspolitik. Sie stellt mit der Steuerpolitik und weiteren Faktoren die Hauptursache für die De-Industrialisierung der USA dar. Sie ist auch wichtig für den schwachen Produktivitätsfortschritt. Fettleibige und chronisch kranke Menschen sind nun mal weniger produktiv – sie können teilweise gar nicht in den Arbeitsmarkt. Dies betrifft vor allem auch ältere Arbeitnehmer, die bereits multiple chronische Krankheiten haben.

Aber das ist nicht die gängige Interpretation, schon gar nicht diejenige der wichtigen Ökonomen des Landes. Diese reden lieber über „säkulare Stagnation“ (Larry Summers) oder „erlahmendem technischen Fortschritt“ (Robert J. Gordon). Beides ist kompletter Unsinn, der am Kern der Probleme vorbeigeht. Bei dieser Konstellation weisen selbst Industrien, in denen die USA absolut an der Weltspitze sind, schwache Exporte und einen negativen Saldo der Handelsbilanz auf. Die Ökonomen des Landes finden mit wenigen Ausnahmen scheinbar nichts dabei. Dabei sind die Vereinigten Staaten das einzige Land der Welt, das so etwas fertigbringt: In Wachstumsindustrien mit einer Weltmarktführerschaft von US-Firmen wie im Pharma-, Biotechnologie-, Medizinaltechnik-Bereich, im Technologiesektor allgemein hohe Handelsbilanzdefizite einzufahren. Die neue Administration hat noch die Stirn, den Rest der Welt für diese Konstellation, in Wahrheit eine selbst verursachte Idiotie, verantwortlich zu machen.

Neben anderen Sektoren außerhalb dieses medizinisch-industriellen Komplexes werden auch die Bevölkerung und der Staat durch das Gesundheitssystem massiv geschädigt. Die amerikanische Bevölkerung ist in einem verhältnismäßig schlechten Gesundheitszustand und hat eine verhältnismäßig schlechte Lebensqualität.

Zwar ist die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt im historischen Vergleich stark angestiegen. Ein Vergleich von 1900 mit heute mag das zeigen. Im Jahr 1900 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung der amerikanischen Bevölkerung 47,3 Jahre. Heute liegt sie bei 78,8 Jahren. Das ist ein Riesenerfolg für Medizin und Gesundheitswesen – und natürlich für die Verbesserung von Hygiene und allgemeinen Lebensbedingungen. Die durchschnittliche Lebenserwartung ist um rund zwei Drittel gestiegen.

Auch haben sich Krankheits- und Todesursachen geändert. Früher waren es vor allem Infektionserkrankungen, die zum Tod geführt haben: Grippe oder Lungenentzündung, Tuberkulose, Diarrhoe, Diphtherie waren 4 der 10 häufigsten Todesursachen im Jahr 1900. Das sind mehrheitlich akute Erkrankungen, die relativ schnell geheilt werden oder eben zum Tode führen. Heute sind es primär chronische Erkrankungen, die eine langfristige Behandlung erfordern. Zum Teil kann diese jahre- oder sogar jahrzehntelange fortdauern: Herz-/Kreislauferkrankungen, Krebs, Diabetes Typ 2, Fettleibigkeit. Ein wesentlicher Teil der Bevölkerung ist chronisch krank, dies über lange Jahre und Jahrzehnte. Im internationalen Vergleich rangieren die USA am unteren Ende, was den Gesundheitszustand und die Qualität des Gesundheitswesens betrifft.

Durch die Kostenexplosion der vergangenen Jahrzehnte zahlt die Bevölkerung einen hohen Preis. Die vom Versicherten zu tragenden Prämienkosten für Familien, welche über den Arbeitgeber versichert sind, haben sich seit 1999 vervierfacht. Wer individuell und nicht über den Arbeitgeber die Familie versichert, bezahlt durchschnittlich über 18.000 Dollar pro Jahr, was horrend ist.

Deshalb ist der Prozentsatz der individuell Versicherten bis vor wenigen Jahren auf nur noch 4 Prozent der Bevölkerung gefallen. Kaum jemand kann sich das noch leisten. Zwar wächst der reale Konsum noch, aber vor allem von Gesundheits-Dienstleistungen. Für andere Konsumzwecke bleibt immer weniger übrig. Daher rührt die schleppende Konjunktur sowie die Schwäche der Detailhandels-Umsätze seit Jahr und Tag.

Der Leidtragende ist schließlich der Staat. Die explodierenden Gesundheitskosten übersteigen die finanziellen Mittel von Unternehmen und Privaten. Indirekt kommt dadurch der Staat zum Handkuss. In den letzten Jahrzehnten sind die Auslagen für Medicaid exponentiell angestiegen. Durch die gewaltig angewachsenen Kosten der Unternehmen für Krankenversicherung zahlen sie weniger Steuern. Den über die Arbeitgeber versicherten Arbeitnehmern wird der Reallohn-Fortschritt hauptsächlich in Form gestiegener Krankenkassen-Prämien ausbezahlt. Arbeitgeber wie Arbeitnehmer können diese Auslagen in der Steuererklärung abziehen, die Gewinne werden komprimiert.

Schließlich stellen auch die hohen Prämienzahlungen der Privaten einen Verlust an Steuersubstrat dar. In vielen Fällen können je nach Plan die Prämienzahlungen der Haushalte vom Einkommen abgezogen werden. Im Nettoeffekt führen die Gesundheitskosten zu einer drakonischen Defizit- und Verschuldungs-Spirale des Bundes.

Effektiv ist das amerikanische Gesundheitswesen eine ökonomische Fehlkonstruktion mit lauter falschen Anreizen – dies mit tragischen Wirkungen für die Betroffenen. Aber dieses Kernproblem wird ausgeblendet. Stattdessen streitet man sich über Obamacare oder um die „wunderbare“ Alternative Trumpcare, die vorerst einmal gescheitert ist.

Präsident Trump hat im Wahlkampf die universell gültige Krankenversicherung für alle versprochen, und zwar zu viel niedrigeren Kosten. Siehe dazu das kurze Interview im Film am Anfang des Artikels. Die Republikaner im Kongress haben seit 2010 Obamacare zu torpedieren versucht und jetzt einen eigenen Vorschlag vorgelegt. Erst nach dem Wahlsieg haben sie ihn publik gemacht, vorher hatten sie den Inhalt unter Verschluss gehalten.

Was ist vom Affordable Care Act (Obamacare) respektive vom alternativen American Health Care Act (Trump-/Ryancare) der Republikaner zu halten? Auch diese „Reformen“ sind zweitrangig in Vergleich mit den zu Grunde liegenden systematischen Faktoren.

Beide zementieren die Kostenexplosion im Gesundheitswesen, lassen sie unbehindert. Obamacare hat die Abdeckung der Bevölkerung durch Krankenversicherung deutlich verbessert und so vor allem vorher nicht versicherte, finanziell schwache Haushalte zu einer möglichen medizinischen Behandlung verholfen. Das ist das Positive. Der Ausdehnung der Versicherung auf finanziell und gesundheitlich eher schwächere Bevölkerungsteile („schlechte Risiken“) wurde durch eine allgemeine Versicherungspflicht begegnet. Bisher nicht versicherte „gute Risiken“ mussten sich versichern, auch wenn sie nicht wollten.

Am System des Gesundheitswesens und seinen Finanzierungs-Mechanismen hat Obamacare nichts geändert. Obamacare hat einfach noch mehr staatliche Mittel in das Gesundheitswesen gepumpt. Vor allem die Rolle von Medicaid wurde markant ausgedehnt. Daneben wurde auch die zuvor fast verschwundene individuelle Versicherung wiederbelebt – vor allem über die Marktplätze in jedem Bundesstaat. Die Versicherten erhalten dabei direkte Subventionen, um sich versichern zu können. Obama hat auch zaghaft versucht, an den Praktiken der Nahrungsmittelindustrie Korrekturen anzubringen. So hat er 2015 ein Verbot von Transfetten durchgesetzt, welche für Cholesterin verheerend sind. Es würde 2018 wirksam werden, wenn die Trump-Administration das Verbot nicht wieder aufheben sollte. In der EU sind Transfette im Übrigen immer noch erlaubt.

Beim Vorschlag der Republikaner wurde einfach das Rad zurückgedreht. Es werden wieder rund 24 Millionen einkommensschwache Versicherte ihren Versicherungsschutz verlieren. Damit werden schlechte Risiken ausgegrenzt und sich selbst überlassen.

Es wird eine Art finanzielle Sterbehilfe über die Zeit hinweg geleistet, dies durch den Entzug der Behandlungsmöglichkeiten. Für die Betroffenen ist auch die Lebensqualität akut gefährdet. Gleichzeitig wird die Versicherungspflicht für alle abgeschafft. Zusätzlich verteuern sich die Prämien auch für einkommensschwächere, individuell Versicherte. Denn die staatlichen Gelder fließen nicht mehr als direkte Subventionen, sondern als Steuerkredite.

Nur wer größere Steuerbeträge zahlt, kann also davon profitieren. Außerdem dürften sich die Prämien für ältere, beim Arbeitgeber versicherte Beschäftigte verteuern – für jüngere hingegen verbilligen. Aus ideologischen Gründen werden zudem bestimmte medizinische Dienstleistungen ausgeschlossen, so z.B. für Abtreibung. Die Finanzierung für Medicaid wird leicht eingeschränkt. Insgesamt verteuern sich die Prämien für einkommensschwache und werden für einkommensstarke Haushalte billiger. Es ist purer Sozial-Darwinismus, welcher dem Ganzen Pate steht. Die Wirkung auf die Konjunktur wird, alles andere als gleich, deutlich negativ sein. Einkommensschwächere Haushalte werden weniger konsumieren können, während sehr reiche Haushalte ihren Konsum nicht unbedingt ausdehnen werden. Der Zeitplan aber ist so, dass die Effekte nur langfristig eintreten.

Die Wahlversprechen hingegen sind von Trump und den Republikanern gebrochen worden – auch wenn das Gegenteil behauptet wird. Trump hat die universelle Versicherung für alle versprochen, nicht den Verlust von 24 Millionen Verträgen. Zudem steigen die Kosten für einkommensschwächere individuell Versicherte, sowohl für individuell wie für kollektiv durch den Arbeitgeber Versicherte. Der Umfang der Leistungen unter Medicaid wird eingeschränkt werden – wenn auch nur leicht. An der Kostenlawine ändert das Ganze nur wenig. Gemäß den Projektionen würden pro Jahr rund ein Dutzend Milliarden Dollar eingespart, rund 150 Milliarden über 10 Jahre gegenüber Obamacare.

Am Grundproblem wird sich nichts ändern, im Gegenteil: Die geplante Deregulierung der Wirtschaft wird gesundheitspolitische Auflagen und Verbote gegenüber Landwirtschaft, Nahrungsmittelindustrie und Verpflegungs-Stätten eher abbauen und sicher nicht fördern. Die Orientierung der Medizin auf Pharmazeutika, Apparate und teure Behandlungen wird die Kosten weiter in die Höhe treiben. Es ist eine Frage der Zeit, bis das ganze System in die Luft fliegt.


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