Zwischen Rally und Rezession: Wie sicher ist der Höhenflug der Wall Street?
Kürzlich endete die von Donald Trump ausgerufene Zollpause, der US-Präsident verlängerte die Frist für ein Handelsabkommen bis August und verschickte eine Reihe von Drohbriefen an Staaten weltweit – mit der Warnung vor neuen Zöllen. Das berichtet das Wirtschaftsportal Verslo žinios.
Trotz der zurückgekehrten Zollunsicherheit hielten sich die globalen Aktienmärkte in der vergangenen Woche gut, die Anleger zeigten sich unbeeindruckt, gestützt vom sogenannten TACO-Narrativ – also dem Glauben daran, dass „Trump always chickens out“, Trump letztlich immer zurückrudert. Doch die Gelassenheit der Märkte in der Zollfrage könnte sich ins Gegenteil verkehren – Trump versteht die Situation an den Börsen als Zustimmung und Ermutigung, seine aggressive Zollpolitik fortzusetzen.
Hören wir den Protagonisten selbst:
„Technologieaktien, Industrieaktien und NASDAQ HABEN REKORDHÖHEN ERREICHT. Durch die Zölle erhält die USA Hunderte Milliarden Dollar. Das Land ist bereits ‚ZURÜCK‘. Riesiges Vertrauen“, schrieb Trump am Ende der Woche auf der Plattform X. Die Börsenhochs nutzte der US-Präsident als Argument, die Zollandrohungen zu verschärfen – und drohte, den generellen Zollsatz auf bis zu 20 % zu verdoppeln. Der starke Sommeraufschwung an den Aktienmärkten könnte laut Strategen der Carson Group anhalten. Man habe eine Reihe technischer Marktdaten und historische Parallelen ausgewertet. Die starke positive Dynamik im Markt (Momentum) lasse weitere Zuwächse im S&P 500 erwarten, so Ryan Detrick, Chefmarktstratege der Carson Group. „Die Unternehmenszahlen stehen bevor, vielleicht kommen bessere Inflationsdaten, ich denke, die Sommerrally kann noch weitergehen, im Juli dürften die Kurse steigen. Natürlich kann es im August oder September zu einer Pause kommen – aber faktisch haben wir es mit einem breit angelegten globalen Bullenmarkt zu tun, der aus unserer Sicht derzeit nicht an Tempo verliert“, sagte Detrick am Donnerstag dem Sender CNBC. Der Stratege stützt sich auf historische Muster früherer Aufwärtsphasen. Seit dem April-Tief hat der S&P 500 rund 25 % zugelegt. Fünfmal zuvor sei der Index in einem Zeitraum von drei Monaten ähnlich stark gestiegen. „In diesen fünf Fällen lief der Aktienmarkt auch in den folgenden sechs und zwölf Monaten sehr gut. Die Geschichte zeigt: Mit dieser Stärke und Geschwindigkeit ist der Markt wie ein unter Wasser gedrückter Ball“, so Detrick.
Die Analysten der Carson Group rechnen für das Gesamtjahr weiter mit einer S&P-500-Rendite von 12 bis 15 %. Daraus ergebe sich für das zweite Halbjahr weiteres Aufwärtspotenzial. „Wenn der S&P 500 zur Jahresmitte zwischen 5 % und 10 % gestiegen ist – wie jetzt –, ist das ein idealer Punkt: nicht zu viel, nicht zu wenig – in 13 von 15 Fällen brachte der Rest des Jahres dann überdurchschnittliche Renditen“, so Detrick.
Vertrauen gestärkt
Die Strategen der Investmentbank Goldman Sachs haben ihren Ausblick für US-Aktien verbessert. Man erhöhte das 12-Monats-Ziel für den S&P 500 von 6.500 auf 6.900 Punkte, das Jahresendziel von 6.100 auf 6.600 Punkte. Dies impliziert ein weiteres Potenzial von rund 5 % gegenüber dem Indexstand vor Eröffnung der Freitagssitzung. Den positiven Ausblick begründet Goldman Sachs mit sinkenden Renditen von US-Staatsanleihen und der Robustheit amerikanischer Unternehmen. „Die starken Ergebnisse im ersten Quartal haben unser Vertrauen gestärkt“, schreiben die Strategen laut „Bloomberg“ in einer Analyse für Kunden.
Zur Sommermitte könnten Turbulenzen an den Finanzmärkten einsetzen, warnen Analysten der Deutschen Bank. Sie verweisen auf sinkende Marktliquidität, die Schocks verstärken könnte. Zudem finden laut Statistik im dritten Quartal die stärksten Ausschläge des VIX-Index statt – des sogenannten Angstbarometers der Börse. „Viele Krisen der Vergangenheit begannen im Spätsommer“, so die Deutsche-Bank-Analysten. Sie verweisen auf Ereignisse wie das Umkippen der Yen-Carry-Trades 2024, den Gasschock und das härtere Fed-Narrativ 2022 oder die Eurozonenkrise um Griechenland 2015. Auch in diesem Sommer könnten mehrere Faktoren für Unruhe sorgen. Einer davon: das Ende der Zollpause – ab 1. August treten neue Zölle in Kraft. Hinzu kommen wachsende Sorgen über die US-Staatsfinanzen: Trumps beschlossene Steuersenkungs- und Ausgabenpakete dürften das Defizit und die Verschuldung weiter aufblähen. „Und natürlich gibt es Unbekannte, über die wir gar nicht nachdenken – wie beim Yen-Carry-Trade 2024“, so die Deutsche Bank.
Anzeichen für ein Nachlassen des Konsums
Zollbedingte Verwerfungen könnten den S&P 500 im zweiten Halbjahr um 12 % drücken – so die Prognose von Barry Bannister, Chefaktienstratege der US-Investmentbank Stifel. Zum Jahresende sieht er den Index bei 5.500 Punkten. Die großen Banken – wie Goldman Sachs – hätten ihre Prognosen zuletzt zwar angehoben, betrachteten das Geschehen aber zu einseitig und blendeten mögliche Belastungsfaktoren für US-Aktien aus. „Wir rechnen mit einer Abschwächung im zweiten Halbjahr. Ich wäre vorsichtig – es gibt Anzeichen für ein Nachlassen des Konsums“, so Bannister. Doch nicht nur der Konsum – im Umfeld neuer Zölle könnten Unternehmen ihre Investitionen zurückfahren und damit die Wirtschaft weiter abkühlen. Zudem prognostiziert der Stratege, dass der „core PCE“-Inflationsindikator (ohne Energie und Nahrung) bis Jahresende von 2,7 % auf 3 % steigen wird – was die Fed von Zinssenkungen abhalten könnte. Geringerer Konsum und höhere Inflation würden eine stagflationäre Lage erzeugen, die sich negativ auf die Ergebnisse amerikanischer Firmen auswirken dürfte, so Bannister. „Man hört Echos dessen, was wir in den ersten vier Monaten dieses Jahres gesehen haben – nur halb so schlimm“, so der Stifel-Chefstratege.