Politik

„Um Europäer zu sein, müssen wir nicht aufhören, Deutsche oder Italiener zu sein“

Der frühere Finanzminister Italiens, Giulio Tremonti, sieht das Haupt-Problem der EU nicht bei der Bevölkerung, sondern bei den Eliten. Sie verzetteln sich im Unwichtigen und sehen die großen Linien nicht mehr.
09.09.2017 21:33
Lesezeit: 4 min

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Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie beurteilen Sie die Entwicklung der Europäischen Union?

Giulio Tremonti: Ich bin, was die EU anbelangt, kein Pessimist. Sie durchlebt gerade kritische Zeiten, aber keine dramatischen. Die Vereinigten Staaten sind über einen sehr viel längeren Zeitraum entstanden als die EU und mussten auf diesem Weg sogar einen Bürgerkrieg überstehen! Dies vorneweg. Trotzdem ist offensichtlich, dass die EU von einer politischen Krankheit heimgesucht wird. Und die Schuld daran tragen nicht die Völker, wie die "Eliten" glauben und glauben machen wollen. Die Schuld daran tragen die Eliten selbst. Die EU sollte nicht paternalistisch geführt werden, von oben nach unten, und unter Missachtung eines grundlegenden Prinzips der Demokratie: "No taxation without representation (Keine Steuern ohne parlamentarische Legitimation)". Zudem beschäftigt sich die EU mit Dingen, die sie nichts angehen, und vernachlässigt das, worum sie sich eigentlich kümmern sollte.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Und zwar?

Giulio Tremonti: Sie kümmert sich nicht – obwohl sie das müsste und auch könnte – um eine gemeinsame Verteidigungs- und Außenpolitik. Die historischen Gründe, die vor einem halben Jahrhundert dem Aufbau einer gemeinsamen Verteidigung entgegenstanden, tun dies heute nicht mehr. Und eine gemeinsame Außenpolitik ist dringend geboten, gerade mit Blick auf die aktuelle Situation am Mittelmeer und in Afrika.

Stattdessen beschäftigt sich die EU mit Dingen, aus denen sie sich heraushalten sollte. Allein im Jahr 2015 hat sie Regeln aufgestellt, die über 30.000 Seiten ihrer Amtsblätter füllen. Wenn Sie diese Regeln einzeln aneinanderreihen, kommen Sie auf eine Länge von 151 Kilometern. Zu allem gibt es Regeln. Überall. Das sind nicht nur Regeln, die wir brauchen, um den Gemeinsamen Markt zu gestalten. Es gibt auch Regeln zu Bagatellfragen – "de minimis" – und sogar Regeln, die mit Wirtschaft überhaupt nichts zu tun haben. Sie erinnern sich an den Film "Das Leben der Anderen"? Das jüngste EU-Gesetz, das vom italienischen Senat gebilligt worden ist, regelt bis ins Detail Fragen zu Pferderegistern, Aufzügen und Kasein!

Dabei ignoriert man, dass diese inflationäre europäische Gesetzgebung Nebeneffekte hat – und zwar politische und wirtschaftliche. Politisch führt sie zu einer Abneigung der Völker gegen Brüssel, das als das Symbol "dieses" Europas wahrgenommen wird. Und wirtschaftlich, weil diese bürokratischen Exzesse unseren Volkswirtschaften im globalen Vergleich Schaden zufügen.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Ist das so?

Giulio Tremonti: Ich denke, einer der Gründe für den Brexit, und zwar ein wesentlicher, ist der Trend zur juristischen Vereinheitlichung Europas! Wenn es eine europäische politische Klasse gäbe, so wie sie es eigentlich immer bei entscheidenden Umbrüchen in der Geschichte Europas gegeben hat, müsste sich diese mit der grundlegenden Frage schlechthin auseinandersetzen – dem Kampf um eine vernünftige Rechtsordnung. Die Römischen Verträge waren Verträge zwischen souveränen Staaten. Zwischen Staaten, die genau das Maß an Souveränität an höhere Instanzen abtraten, das für einen funktionierenden Einheitsmarkt nötig war. Perspektivisch wäre man dann auch etwas weiter gegangen. Aber den Akteuren war seinerzeit immer bewusst, dass sie den Großteil ihrer gesetzgebenden Gewalt auf nationaler Ebene behalten mussten. Um näher an der Realität zu bleiben.

Die Struktur, die 1957 entstand, lässt sich als Pyramide darstellen, mit einer breiten Basis, die sich nach oben immer mehr verjüngt. Im Vergleich dazu scheint diese Pyramide heute auf dem Kopf zu stehen: Fast alle Kompetenzen sind Anfang der 90er Jahre nach oben abgetreten worden. An der Basis bleibt so gut wie nichts. Auch das hat dazu beigetragen – und zwar nicht wenig – dass die Völker mit der EU, alias Brüssel, fremdeln.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Wie soll es weitergehen?

Giulio Tremonti: Wir müssen über Europa neu nachdenken. Adenauer sagte 1957 es bestehe die Gefahr, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sehe. Das stimmt. Heute aber, und an viel zu vielen Stellen, gibt es nur noch Wald. Um Europäer zu sein müssen wir nicht aufhören, Deutsche oder Italiener zu sein. Ganz im Gegenteil!

Und im Gegensatz zu den USA ist die EU kein Imperium, und sie hat auch keines. Das bedeutet in einer globalisierten Welt, dass die Defizite eines Staates nicht schneller wachsen können als sein Bruttosozialprodukt. Ich sage das nicht, weil die europäischen Defizitregeln das vorschreiben, sondern weil die Realität uns das diktiert. Als Minister habe ich das auch immer gesagt und umgesetzt.

Übrigens würde ich gerne wissen, warum die EZB plötzlich, nachdem die italienische Krise 2011 gelöst worden war, 2012 von einer generellen Staatsschuldenkrise gesprochen hat. Welche waren denn die "generellen Gründe" dafür? Ich fände es hilfreich, sie zu kennen. Dann könnten wir verstehen, ob auch die richtige Medizin verordnet worden ist. Jedenfalls hätte ich größeres Vertrauen in eine europäische Politik, die es vermag, den Völkern die Gründe ihres Handelns darzulegen anstatt sich über ihre permanenten Verordnungen und Maßnahmen unbeliebt zu machen, deren Akronyme den meisten Bürgern rätselhaft bleiben: SIX PACK, TWO PACK, LTRO, OMT, ESM, EFM, BRRD, NPL, ESRB, ADR, TSGG, ES-BIES, und so weiter.

Abgesehen davon steht uns eine neue Krise ins Haus und auch diese – sowie die vergangene – kommt nicht von den Staatshaushalten, sondern den Finanzmärkten, die sich mit zu viel Geld, einer Droge gleich, vollgepumpt haben.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Eine Gefahr für den Euro?

Giulio Tremonti: Der Euro an sich ist irreversibel, auch wenn es, objektiv betrachtet, wahr ist, dass er deswegen irreversibel ist, weil die Angst der Völker vor seinem Ende größer ist als das Vertrauen, das sie in seine Zukunft haben. Der Euro stellt ein in der Geschichte einzigartiges Experiment dar. Als man ihn einführte hieß es: "Vereinigt Eure Brieftaschen, vereinigt Eure Herzen." Nun, vielleicht ist das nicht passiert. Auch deswegen bedarf es noch einer großen politischen Anstrengung.

Deutsche Wirtschafts Nachrichten: Was ist mit den Europäern in Europa, die weder zur Eurozone noch zur EU gehören?

Giulio Tremonti: Sie meinen Russland? Und den Brexit? Für mich gab es den ersten Brexit bereits im Jahr 1531, mit dem "Schisma", mit dem sich England aus der erdrückenden Umarmung der katholischen Kirche löste. Die römisch- katholische Kirche: Wenn Sie so wollen, war das die EU von damals. Nach dem Brexit zirkulierten dann in Moskau Dokumente, denen folgende Idee zugrunde liegt: Es ist gar nicht Großbritannien, dass die EU verlässt. Vielmehr ist es die EU, die Amerika verlässt. Das war eine Anwendung des geopolitischen Entwurfs, die auf eine fatale Grundannahme zurückgeht: Der eines prinzipiellen Konflikts zwischen "Landmächten" und "Seemächten". Diese anti-atlantische Vision teile ich nicht. Eines aber möchte ich sagen: Ich hatte ja nun auf die eine wie auch auf die andere Art Gelegenheit, Personen wie Henry Kissinger oder Helmut Schmidt kennenzulernen und ihnen zuzuhören. Ich glaube, dass diese, was Außenpolitik anbelangt, intelligenter sind und waren als Hillary Clinton.

***

Giulio Tremonti war insgesamt vier Mal italienischer Finanz- und Wirtschaftsminister unter Silvio Berlusconi, nämlich von Mai 1994-Januar 1995, Juni 2001-Juli 2004, September 2005-Mai 2006 und Mai 2008-November 2011. Tremonti ist Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Pavia und zudem Fachanwalt für Steuerrecht. Er gilt als entschiedener Kritiker eines aus dem Ruder gelaufenen Finanzsystems und ist Autor verschiedener Bücher, u. a. "Exit Strategy: Ending the Tyranny of Finance" (2012) und "Mundus Furiosus". In seinem erst kürzlich erschienenen Buch "Rinascimento" beschäftigt er sich mit der Renaissance.

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