Politik

Brexit: Die EU schlafwandelt in ihre größte Krise

Die Fokussierung auf das Gezerre um den Brexit-Vertrag lenkt vom eigentlichen Problem ab. Denn dieser würde nur bis Ende 2020 gelten. Niemand weiß, wie das Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien danach aussehen soll.
20.01.2019 17:38
Lesezeit: 6 min

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Die britische Premierministerin Theresa May ist derzeit verzweifelt bemüht, das vom britischen Parlament mit einer Mehrheit von 230 Stimmen abgelehnte Abkommen mit der EU über den Brexit doch noch zu retten. Montag sollen neue Vorschläge präsentiert werden. Das Chaos um das Ausscheiden Großbritanniens aus der EU wird derzeit in erster Linie Theresa May und den einander heftig bekämpfenden Gruppierungen im Vereinigten Königreich angelastet. Die Spitzen der EU erklären herablassend, man wüsste gerne was denn die Briten tatsächlich wollen. Als ob der vorliegende „Deal“ eine Lösung bieten würde.

Die EU-Führung ist mindestens so verantwortlich für die Brexit-Krise, die die EU insgesamt belastet, wie die britische Politik: Der aktuell zur Abstimmung vorliegende Vertrag bezieht sich ausschließlich auf die Zeit zwischen dem offiziellen Austritt am 30. März 2019 und dem 31. Dezember 2020 und würde bewirken, dass sich vorerst wenig ändert. Für die Zeit danach gibt es keine Beschlüsse, niemand weiß wie das Verhältnis ab Jänner 2021 aussehen wird. In den 21 Monaten von Mai 2019 bis Ende 2020 sollen alle entscheidenden Fragen geklärt werden. Was also in den vergangenen zweieinhalb Jahren nicht annähernd gelungen ist, würde nun in den nächsten eineinhalb Jahren zustande kommen ­ eine gänzlich unrealistische Perspektive. Allein aus diesem Grund wäre es verständlich und notwendig, dass der „Deal“ nicht zustande kommt

Die britische Innenpolitik: Jeder gegen jeden, alle gegen May, oder doch nicht

Dass offensichtlich nicht die Zukunft der EU-UK-Beziehungen im Vordergrund stand und steht, ist der britischen Innenpolitik geschuldet.

  • Die Labour-Party möchte in der EU verbleiben, ein zweites Referendum durchsetzen, Neuwahlen erreichen, die Regierung stürzen und einen anderen „Deal“ mit Brüssel aushandeln.
  • Die Tories von Premierministerin May sind nicht einer Meinung: Die Bandbreite reicht von der Forderung nach einem vertragslosen Austritt über Korrekturen des „Deals“ bis hin zu Annahme des vorliegenden Vertrags. Die Treue zu May ist unbeständig.
  • Ähnlich sieht es bei allen insgesamt 650 Abgeordneten der acht im britischen Unterhaus vertretenen Parteien aus.
  • Die Wurzel der Krise liegt in der am 23. Juni 2016 abgehaltenen Abstimmung, die eine Teilung der Bevölkerung zum Ausdruck brachte. Für den Austritt gab es nur eine knappe Mehrheit von 51,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. In England waren 53,4 Prozent, in Wales 52,5 Prozent für den BREXIT, in Schottland stimmten hingegen 62 Prozent für den Verbleib in der EU, in Nordirland 55,8 Prozent. Erstaunlich ist, dass bei einer derart gravierenden Entscheidung nicht eine Zweidrittel-Mehrheit als maßgebend definiert wurde.

Auch die EU hat eine „Innenpolitik“, die nicht nur EU-freundlich ist

Nachdem aber der Austritt Großbritannien beschlossene Sache ist, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die verbleibenden 27 EU-Staaten. In den Verhandlungen wurden die entscheidenden Punkte vernachlässigt. Die Sprecher der EU betonen, dass BREXIT einen Verrat an der europäischen Idee bedeute und Großbritannien gleichsam für diesen Akt büßen müsse. Dieser Geist kommt auch in den Details des „Deals“ zum Ausdruck. Allerdings: Auch die EU hat eine „Innenpolitik“:

  • Die Wahlen in den EU-Mitgliedstaaten haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Zuwachs für nationalistische, EU-kritische Parteien gebracht.
  •  Bei den kommenden Wahlen zum EU-Parlament im Mai 2019 wird diese Entwicklung ihren Niederschlag finden und die Gesetzgebung auf EU-Ebene wie die Gestaltung der nächsten EU-Kommission mitbestimmen.
  • Nach den EU-Wahlen ist damit zu rechnen, dass London größere, vielleicht sogar die EU fundamental gefährdenden Konzessionen erhält, die als Vorbilder für andere, separatistische Bewegungen genützt werden könnten.
  • Die EU-Spitzen, Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, Ratspräsident Donald Tusk und BREXIT-Chefverhandler Michel Barnier, nehmen die veränderte Realität allem Anschein nach nicht zur Kenntnis.

Die tatsächlichen Interessen der EU werden von Brüssel nicht vertreten

Maßgeblich für die Wirtschaft der EU und des UK sind nicht innenpolitische Querelen:

Die Exporte der EU-Staaten nach Großbritannien entsprechen im Jahr etwa 390 Milliarden Euro. Die Importe nach Kontinentaleuropa von dort hingegen 280 Milliarden Euro. Die Differenz beträgt somit über 100 Milliarden Euro. Es ist also ein primäres Interesse für die verbleibenden EU-Mitglieder, den freien Marktzugang zum Vereinigten Königreich zu sichern. Dieses Anliegen vertreten die Sprecher der EU bei den Verhandlungen nicht. Ohne entsprechendes Abkommen würden die europäischen Exporteure Schäden im Ausmaß von Milliarden erleiden, entweder durch Verluste an Marktanteilen oder durch britische Zölle.

Von EU-Seite wird darauf gepocht, dass die EU Großbritanniens wichtigster Exportmarkt sei und sich daher London bemühen müsse. Die britische Wirtschaft ist schwach, wie das gesamte UK-Außenhandelsdefizit gegenüber allen Länden von 200 Milliarden Euro zeigt. Es wäre also im Interesse der EU-Exporteure Großbritannien zu stärken, um den wichtigen Absatzmarkt zu erhalten.

Großbritannien finanziert derzeit etwa 10 Prozent oder rund 14 Milliarden Euro des Budgets der EU, wobei „etwa“ anzumerken ist, weil die Zahlungen aus dem EU-Budget nach London variieren. Die künftig fehlenden 10 Prozent müssten nach dem Austritt von den anderen EU-Staaten übernommen werden, wobei vor allem die Nettozahler wie Deutschland oder Österreich belastet wären. EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger warnte ereits vor einem massiven Loch im Haushalt.

Den Ausfall von 10 Prozent nimmt die EU nicht zum Anlass, um das Budget neu aufzustellen. Stattdessen ist sogar eine deutliche Ausweitung geplant. Die nachweislich inneffizient gestalteten und ineffektiven Regional- und Landwirtschaftsförderungen werden nicht saniert, sondern nur marginal gekürzt.

Man versucht, London solange wie möglich als Zahler zu erhalten. 2019 und 2020 geht der „Deal“ davon aus, dass sich an den Beiträgen nichts ändert. Allerdings sollen auch nach der Übergangszeit Gelder fließen, über die noch zu verhandeln ist. Angepeilt werden weitere rund 20 Milliarden Euro nach 2020.

Außer dem direkten Beitrag zum EU-Budget spielen die rund 3 Milliarden Euro Zölle eine Rolle, die das Vereinigte Königreich als Teil der EU-Zollunion einnimmt und nach Brüssel überweist. Diese gingen der EU nach einem BREXIT ohne Vereinbarung, also einem „harten“ BREXIT auch verloren.

Der „Deal“: Bis Ende 2020 ändert sich nichts, aber London verliert das Mitspracherecht

Der „Deal“ besagt im Wesentlichen, dass sich bis Ende 2020 nichts ändert und alle wesentlichen Fragen in der Übergangsperiode geklärt werden. Großbritannien übernimmt weiterhin alle Pflichten eines EU-Mitglieds, verliert aber die Rechte eines EU-Mitglieds. Die Mitsprache und Mitentscheidung in den EU-Gremien endet mit dem Austritt am 30. März 2019 und die EU-Institutionen – von der EU-Kommission bis zum Europäischen Gerichtshof ­ - haben das Recht, Verletzungen von EU-Vorschriften durch Großbritannien zu ahnden, etwa durch die Verhängung von Geldstrafen. Dies würde auch für Bestimmungen gelten, die nach dem 30. März 2019 innerhalb der EU, aber dann ohne Mitsprache von London beschlossen werden.

Angesichts dieser Konstruktion stellt sich die Frage, wieso von einem BREXIT zum 30. März 2019 gesprochen wird. Korrekter Weise wäre bis zum 31. Dezember 2020 die  Klärung aller Fragen zu bestimmen. Der 30. März 2019 ergibt sich aus dem Artikel 50 des Lissabonner Vertrags, der den Termin zwei Jahre nach der Verkündung des Austritts bestimmt. Außerdem hat May diesen Tag in einem britischen Gesetz verankern lassen. Der EuGH hat allerdings geklärt, dass auch eine Verschiebung rechtlich möglich wäre. Es gilt aber weiterhin der 30. März und Theresa May arbeitet jetzt an einer Alternative, die im Londoner Parlament und in Brüssel Zustimmung finden soll.

Die zahllosen Übergangsregelungen sind unbefriedigend

Das vorliegende, abgelehnte Abkommen erhält einige wesentliche Punkte:

  • Personen, die nach den Freizügigkeitsregeln der EU bis Ende 2020 in Großbritannien oder umgekehrt in den anderen EU-Staaten das Aufenthaltsrecht für sich oder Angehörige erworben haben, sollen dieses Recht auch nach 2020 behalten.
  • Diese Personen können auch frei ein- und ausreisen.
  • Ab 2025 würde jeder Staat entscheiden, ob diese Rechte aufrecht bleiben.
  • Nur: Die Detailregelungen für die rund 3 Millionen EU Bürger in Großbritannien und die rund 1 Million Briten in Kontinentaleuropa erstrecken sich über 42 Seiten des 585 Seiten umfassenden Abkommens für die Übergangsperiode bis 2020.
  • Im Handel gilt jeder Export oder Import, der vor dem 31. Dezember 2020 gestartet wurde, nach Artikel 27 des nicht beschlossenen Abkommens als „intra-Union movement“ und unterliegt daher allen Regeln der Zollunion und des Binnenmarkts.
  • Allerdings mit zusätzlichem, bürokratischem Aufwand muss der Zoll-Status und das Datum der Absendung nachgewiesen werden.
  • Was nach dem 31. Dezember 2020 gilt, ist offen.
  • Steuer-Regeln würden auch nur mehr für die Übergangsperiode in Kraft bleiben, bei der Mehrwertsteuer wären Streitfälle fünf Jahre nach 2020 immer noch EU-Sache.
  • Geschützte EU-Marken müsste Großbritannien auch nach 2020 als geschützte Marken anerkennen. Gleiches soll für Copyrights gelten.

Zahlreiche ungelöste Fragen von Irland bis zur City of London

Vollends erfolglos blieben die bisherigen Verhandlungen bei entscheidenden Stolpersteinen, die man für die Übergangsperiode zumindest im Ansatz hätte lösen müssen.

  • Für das heikle Problem der Grenze zwischen dem in der EU verbleibenden Irland und dem als Teil des Vereinigten Königreichs austretenden Nordirland gibt es nur vage Absichtserklärungen. Das soll jetzt doch anders werden, hofft May.
  • Die nicht erfolgte Klärung des künftigen Außenhandelsregimes hätte eine Entschärfung gebracht. Nachdem sich im gegenseitigen Interesse eine Freihandelslösung anbietet, wäre dadurch auch das Problem des Außenhandels über die irische Grenze gelöst.
  • Für den Personenverkehr würde sich die Markierung „irisch“ auf den Pässen aller Bewohner der irischen Insel anbieten, damit sogar den gefährdeten Zusammenhalt aller Iren betonen und für Iren das Passieren der Grenze friktionsfrei gestalten.
  • Die heikle Frage, wie eine künftige Freihandelszone, die UK und EU umfassen würde, gegenüber Drittländern agieren wird und insbesondere Zölle einheben und verteilen soll, wurde ausgeklammert, weil ohnehin bis 2020 die EU-Zollunion de facto aufrecht bleibt.
  • Ebenfalls nicht ausreichend geklärt ist das für einen freien Handel entscheidende Thema, wie sichergestellt ist, dass nach 2020 UK und EU die gleichen Normen für Waren, Umweltschutz und soziale Standards einhalten um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
  • Auch für den finanziellen Bereich ist letztlich alles offen. In europäischen Hauptstädten hofft man den übermächtigen Londoner Finanzmarkt durch den BREXIT schwächen zu können. Dies dürfte eine trügerische Aussicht sein, da die City ihre Privilegien und den Zugang zu den britischen Steueroasen behält.

Am Montag will Premierministerin Theresa May einen neuen Vorschlag präsentieren, der vor allem das irische Problem entschärfen und das Parlament in London sowie die EU zufriedenstellen soll, um den „Deal“ doch noch durchzubringen. Angesichts der tatsächlichen Probleme des BREXIT ist sehr zu bezweifeln, ob unter den gegebenen Umständen ein Beschluss sinnvoll sein kann.

***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.

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