Großbritannien wird möglicherweise in knapp vier Wochen die Europäische Union verlassen. Die Konsequenzen sind weitreichend und betreffen nicht die Wirtschaft und die Industrie, sondern auch die europäischen Arbeitnehmer, die derzeit noch auf der Insel arbeiten. Möglicherweise werden sie danach ihre Koffer packen und auf den Kontinent zurückkehren. Insbesondere ist das weitere Schicksal der Polen von besonderer Bedeutung, weil sie dort eine gewichtige Migrantengruppe aus der EU stellen.
Deswegen hat jetzt der polnische Botschafter, Arkady Rzegocki, in London seine Landsleute in einem Brief aufgefordert, nach Hause zurückzukehren. Dabei wies der Gesandte auf ein Portal der nationalkonservativen polnischen Regierung hin, wo die Polen Informationen erhalten, welche praktischen Schritte sie dafür unternehmen müssen. Beispielsweise welche Anträge für die Rücksiedlung notwendig sind und wie sie in Polen Arbeit finden.
Die polnischen Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur haben zwar schon früher versucht, ihre Landsleute nach Hause zu holen, doch noch nie war die Aufforderung so konkret wie jetzt. Außerdem lastet durch den Brexit ein starker Druck auf den polnischen Arbeitnehmern auf der Insel, den es vorher auch noch nie gegeben hat.
Politisch ist der Appell des Botschafters auch deswegen brisant, weil die amtierende polnische Führungsriege „der Partei für Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) und der Großteil der polnischen Medien Großbritannien sehr positiv gegenüberstehen.
Als die PiS Ende 2015 die Regierungsverantwortung übernahm, hatte sie eine Kurskorrektur in der Außenpolitik vorgenommen. Im Mittelpunkt dieser Strategie stand, verstärkt den Kontakt mit Großbritannien zu suchen und sich weniger an Deutschland zu orientieren, wie es die liberale Vorgänger-Regierung gemacht hatte.
Polen Opfer rassistischer Angriffe in Großbritannien
Das Problem: Im Zusammenhang mit dem Referendum zum Brexit ist es auf der Insel zu einigen hundert rassistisch motivierten Angriffen durch Briten auf Polen gekommen. Trauriger Höhepunkt: Der Tod eines Polen, der an den Folgen einer Attacke durch einen 16jährigen Engländer starb. Die Tat ereignete sich im August 2016 in der südostenglischen Stadt Harlow. Die polnische Regierung hat sich sehr lange damit schwergetan, zu akzeptieren, dass viele Briten den Polen doch nicht so gewogen sind, wie sie immer geglaubt hat.
Grundsätzlich ist Großbritannien in den vergangenen zehn Jahren ein sehr populäres Auswanderungsziel für die Polen gewesen. Ein Grund: Das Land hatte nach dem EU-Beitritt Polens im Mai 2004 seinen Arbeitsmarkt sofort für die Osteuropäer aufgemacht – anders als Deutschland, das erst drei Jahre später seine Pforten öffnete.
Offiziell nach britischem Statistikamt leben derzeit 905.000 Polen in Großbritannien – die mit Abstand größte Gruppe aus den östlichen EU-Ländern. Danach kommen die Rumänen und die Bulgaren. Inoffiziellen Schätzungen leben im Vereinigten Königreich sogar bis zu zwei Millionen Polen.
Grundsätzlich können EU-Bürger auch nach dem Brexit weiterhin bleiben, wenn sie einen „Siedlungsstatus“ („settled status“) für einen weiteren Aufenthalt beantragt haben. Allerdings ist die Zahl der Polen, die bereits einen Antrag gestellt haben, sehr gering. Wie aus offiziellen Statistiken hervorgeht, haben sich bisher nur 26 Prozent der Polen zu diesem Schritt entschlossen – also weniger als ein Drittel. „Das ist beunruhigend“, sagte Botschafter Rzegocki. „Sie könnten nach dem Brexit erhebliche Probleme mit ihrem Aufenthalt bekommen“, erklärte der Gesandte.
Sollten die Polen tatsächlich die Insel verlassen müssen, würde dies eine spürbare Wanderungsbewegung in Europa auslösen. Dabei wäre auch Deutschland ein potenzielles Ziel, weil hier bereits eine große Zahl Polen lebt.
Aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes zufolge gibt es mehr als 20 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund – die also knapp ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Darunter befinden sich 2,3 Millionen mit polnischen Wurzeln, die damit auf dem zweiten Platz liegen. Vor ihnen befinden sich nur diejenigen, die ursprünglich aus der Türkei stammen (2,8 Millionen). Auf dem dritten Rang liegen die Russen mit 1,4 Millionen.
Wissenschaftliches Polen-Institut zeigt sich skeptisch
Die Polen verfügen in Deutschland über eine weitreichende ausgebaute Struktur – beispielsweise eigene Geschäfte, wo nur polnische Produkte angeboten werden. Es gibt eigene Klubs und Vereine – viele ihrer Mitglieder befinden sich schon seit Generationen beim westlichen Nachbarn.
Allerdings gibt es auch Stimmen, die sich skeptisch äußern: "Polen, die im Management in Großbritannien arbeiten, werden wahrscheinlich dort bleiben, weil sie in der Regel nicht so schlecht behandelt werden", sagte der Sprecher des Polen-Institutes in Darmstadt, Andrzej Kaluza, im Gespräch mit den Deutschen Wirtschaftsnachrichten (DWN).
"Eine Wanderung kommt grundsätzlich nur für die Polen in Frage, die einfache Tätigkeiten ausüben – beispielsweise für Bauarbeiter oder für Kassiererinnen", so der Sprecher der wissenschaftlichen Einrichtung, die sich mit Migrationsfragen beschäftigt. "Doch werden sie eher nicht nach Deutschland kommen, weil sie hier nur in den Großstädten Englisch sprechen können", erklärte Kaluza.