Frankreich lässt sich bei der Nominierung eines neuen Kandidaten für das Team der künftigen EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen offensichtlich Zeit. Von französischer Seite gebe es nach wie vor keine Entscheidung für einen neuen Kandidaten, sagte ein Sprecher von der Leyens am Montag. Zuvor hatten sich von der Leyen und der französische Präsident Emmanuel Macron rund eine Stunde lang im Pariser Élyséepalast getroffen.
Die französische Kommissionskandidatin Sylvie Goulard war vergangene Woche vom Europaparlament abgelehnt worden. Das hatte Macron mit einer Verbalattacke auf von der Leyen quittiert und der deutschen CDU-Politikerin die Schuld gegeben.
Macron machte von der Leyen unmittelbar nach der entscheidenden Abstimmung gegen Goulard für das Debakel verantwortlich. Er habe die deutsche CDU-Politikerin auf die laufenden Ermittlungen gegen Goulard in einer Scheinbeschäftigungsaffäre hingewiesen, sagte ein sichtlich aufgebrachter Macron am Donnerstagnachmittag in Lyon. Diese habe sich aber dennoch für Goulard als Kandidatin entschieden. Die frühere französische Verteidigungsministerin Goulard war wenige Stunden zuvor bei einer Abstimmung der zuständigen Ausschussmitglieder des Europaparlaments mit klarer Mehrheit abgelehnt worden. Nach Angaben aus dem Parlament stimmten lediglich 29 Abgeordnete für sie, aber 82 gegen sie.
Zum Verhängnis wurden Goulard unter anderem noch laufende Ermittlungen zu einer Scheinbeschäftigungsaffäre. Diese hatten bereits 2017 zu ihrem Rücktritt als Verteidigungsministerin geführt. Zudem kritisierten viele Parlamentarier, dass Goulard während ihrer Zeit als Europaabgeordnete (2009-2017) mehr als zwei Jahre lang nebenbei einen hoch dotierten Beratervertrag bei einer Denkfabrik des Privatinvestors Nicolas Berggruen hatte.
Macron betonte, dass er von der Leyen zuvor insgesamt drei Namen für den Spitzenposten in der Kommission genannte habe. Diese habe sich für Goulard ausgesprochen und versichert, die Zustimmung der Chefs der größten Fraktionen im EU-Parlament für die Kandidatin erhalten zu haben. EVP-Fraktionschef Manfred Weber und S&D-Fraktionschefin Iratxe Garcia Perez betonten unterdessen, von der Leyen habe sie vor der Nominierung Goulards nicht konsultiert. Sollte dies stimmen, hätte entweder Macron bei seinen Äußerungen in Lyon gelogen oder von der Leyen gegenüber Macron. Die christdemokratische EVP ist nämlich die größte und die sozialdemokratische S&D die zweitgrößte Parteienfamilie im Parlament.
Neben Frankreich müssen auch Ungarn und Rumänien neue Namen vorschlagen. Ein pünktlicher Start der EU-Kommission am 1. November wird deshalb immer unwahrscheinlicher. Von der Leyen braucht nun von allen drei Staaten neue Namen, um ihre Mannschaft zu komplettieren. Die Sprecherin der EU-Kommission, Mina Andreeva, wich Fragen nach möglichen Verzögerungen am Montag jedoch aus. «Es ist nicht möglich für mich, Angaben zum Zeitplan zu machen», sagte Andreeva.
Macron hatte am Sonntag noch betont, dass sich Europa derzeit nicht den «Luxus von unnützen Auseinandersetzungen, von kleinen Streitereien und dem Hinzufügen von internen Krisen zu Krisen der Welt, die uns bereits treffen» leisten könne. Der französische Staatschef empfing am Montag außerdem EU-Ratschef Donald Tusk, um sich auf den EU-Gipfel in Brüssel am Donnerstag und Freitag vorzubereiten, bei dem unter anderem das Thema Brexit im Mittelpunkt stehen wird. Am Sonntagabend hatte sich Macron bereits mit Bundeskanzlerin Angela Merkel abgestimmt. Deutschland und Frankreich machten deutlich, bei wichtigen internationalen Krisen wie dem Brexit und der türkischen Militäroffensive in Syrien an einem Strang ziehen zu wollen.