Nach langem Tauziehen haben sich Großbritannien und die EU auf einen neuen Brexit-Vertrag verständigt. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der britische Premierminister Boris Johnson gaben die Einigung am Donnerstag bekannt. "Wo ein Wille ist, da ist ein Deal", twitterte Juncker. Das Abkommen sei fair und ausbalanciert. "Wir haben einen großartigen, neuen Brexit-Deal", erklärte Johnson. Damit erhalte Großbritannien die Kontrolle über den Prozess zurück. Damit das Abkommen inkraft tritt und Großbritannien die EU wie geplant am 31. Oktober verlässt, muss das britische Unterhaus dem neuen Regelwerk zustimmen. Die Abstimmung ist für Samstag geplant. Johnsons Konservative Partei hat aber keine eigene Mehrheit und ist auf die Stimmen anderer Fraktionen angewiesen.
Nach den Worten von EU-Chefunterhändler Michel Barnier schafft das neu ausgehandelte Abkommen Rechtssicherheit. Es werde eine Übergangsphase bis Ende 2020 geben. Eine harte Grenze zwischen der britischen Provinz Nordirland und dem EU-Mitglied Irland sei ausgeschlossen. Nordirland werde dazu begrenzt weiter EU-Regeln unterliegen und bilde das Eingangstor in den EU-Binnenmarkt. Zugleich werde die Provinz aber auch der britischen Zollhoheit für Waren unterliegen, die keine Gefahr für den EU-Binnenmarkt darstellten. Damit sei ein faires Abkommen gefunden, um einen geordneten Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union zu sichern. Zugleich sei der Weg geebnet für ein Handelsabkommen der EU mit Großbritannien, in dem es weder Zölle noch Quoten gebe, sagte Barnier in Brüssel.
Juncker erklärte, er werde dem am Donnerstagnachmittag beginnenden EU-Gipfel in Brüssel empfehlen, die Einigung anzunehmen. Bis zuletzt war unklar, ob zu dem Treffen eine Grundsatzeinigung vorliegt, über die die Staats- und Regierungschefs entscheiden können. Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte bezeichnete es als "sehr ermutigend", dass ein Abkommen erreicht wurde. Nun gelte es, die Details zu prüfen. Der finnische Ministerpräsident Antti Rinne sagte, der Ball liege nun im Feld des britischen Parlaments. Er hoffe, dass es diesmal dort eine Mehrheit gebe. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron äußerte sich zuversichtlich, dass das Unterhaus zustimmen werde. Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte sich nach ihrem Eintreffen in Brüssel äußern.
Das von Johnsons Vorgängerin Theresa May getroffene Abkommen mit der EU war im Unterhaus mehrfach durchgefallen. Stolperstein war bis zuletzt der Umgang mit Nordirland. Nach dem ersten Abkommen wäre die britische Provinz auf unbestimmte Zeit Teil des EU-Binnenmarktes geblieben. Vor allem dieser Punkt hatte im Unterhaus keine Mehrheit gefunden. Eine Sprecherin Johnsons betonte, diese umstrittene Backstop-Regelung sei jetzt vom Tisch. Nach der neuen Regelung soll das nordirische Parlament alle vier Jahre darüber abstimmen, ob die bestehende Regelung aufrechterhalten wird. Sollte das Parlament die Vereinbarung kippen, gäbe es eine zweijährige Übergangsfrist, in der die EU Maßnahmen zum Schutz des Binnenmarktes treffen könne, sagte Barnier.
"ES SIEHT NACH EINER SAUBEREN SCHEIDUNG AUS"
Labour-Chef Jeremy Corbyn kritisierte das Abkommen. Johnson habe einen noch schlechteren Deal ausgehandelt als seine Vorgängerin Theresa May. Seine Fraktion könne im Unterhaus entsprechend nicht zustimmen. Auch die nordirische DUP-Partei erklärte, den ausgehandelten Brexit-Deal nicht unterstützen zu können. Die DUP bleibe bei ihrer ablehnenden Haltung, sagte ein Parteisprecher. Auch die EU-freundliche schottische SNP kündigte ihr Nein an. Der als Brexit-Hardliner bekannte Tory-Abgeordnete Jacob Rees-Mogg lobte das Abkommen zwar. Ob Johnson aber eine Mehrheit gewinnen wird, bleibt unklar.
An den Börsen legten die Kurse nach Bekanntgabe der Einigung zu. Die Erleichterung der Anleger über den Brexit-Deal gab auch dem Pfund Sterling Zusatzschub. Es verteuert sich um 1,2 Prozent auf 1,2988 Dollar. Damit summierte sich das Plus der vergangenen sechs Handelstage auf rund sechs Prozent. Das ist die stärkste Rally seit mehr als 30 Jahren. "Der Durchbruch ist geschafft", sagte Jörg Krämer, Chefökonom der Commerzbank. "Es sieht nach einer sauberen Scheidung aus. Wenn das britische Parlament den Vertrag absegnet, ist das Gespenst eines ungeordneten Brexit vom Tisch." Das seien sehr gute Nachrichten auch für die deutsche Exportwirtschaft. Die deutschen Unternehmen fürchten heftige Verwerfungen, sollte es zu einem ungeregelten Brexit kommen.