Das Problem der Altersarmut in Deutschland nahm im vergangenen Jahr deutlich an Dynamik zu. So stieg nicht nur die Zahl der in finanziellen Schwierigkeiten steckenden älteren Bürger beträchtlich, sondern auch die öffentlichen Lebensmitteltafeln registrierten einen deutlichen Anstieg der Zahl der Kunden.
Wie die Wirtschaftsauskunftei Creditreform in ihrem „Schuldneratlas 2019“ berichtet, stieg die Zahl der überschuldeten Verbraucher im Alter ab 70 Jahren Innerhalb von nur zwölf Monaten um 44,9 Prozent auf rund 380.000. Seit 2013 habe sich die Zahl der überschuldeten Senioren sogar um 243 Prozent erhöht. Und auch bei den 60 bis 69 Jahre alten Verbrauchern kämen immer mehr nicht mehr mit ihrem Geld zurecht.
Die Gründe für die wachsende Altersarmut sind nach Einschätzung der Experten vielfältig. Einerseits machten sich hier die Rentenreformen der vergangenen Jahrzehnte bemerkbar, die fast durchweg auf eine Kürzung des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente abgezielt hätten, heißt es im Schuldneratlas. Außerdem wirkten sich die wachsende Zahl unsteter Erwerbsbiografien und das Anwachsen des Niedriglohnsektors aus. Auch der zum Teil dramatische Anstieg der Mieten spiele eine Rolle.
Die dramatische Entwicklung bei den Senioren steht auffälligen Gegensatz zur Entwicklung in den übrigen Altersgruppen. Denn erstmals seit 2013 ist im vergangenen Jahr die Zahl der überschuldeten Verbraucher in Deutschland wieder leicht gesunken - um rund 10.000 auf rund 6,92 Millionen Betroffene. Doch konzentriert sich der Rückgang auf die unter 50-Jährigen. Bei den Älteren gebe es dagegen einen stabilen „Doppeltrend zu Altersarmut und Altersüberschuldung“, heißt es im Schuldneratlas.
Altersarmut sei besonders schwerwiegend, betonten die Experten von Creditreform. Während jüngere Menschen Armut häufig als vorübergehende Lebensphase begriffen und über ein Perspektive verfügten, sich aus ihrer schwierigen Situation herauszuarbeiten, sei das bei älteren Menschen in der Regel nicht mehr der Fall. Mit dem Eintritt in den Ruhestand sinke die Chance älterer Menschen, ihre ökonomische Lage zu verbessern, drastisch. Verschärft werde das Problem dadurch, dass die Betroffenen oft ihnen zustehende Sozialleistungen nicht in Anspruch nähmen.
Georg Eickel vom Paritätischen Wohlfahrtsverband in Nordrhein-Westfalen schlägt ebenfalls Alarm. „Die Altersarmut nimmt seit 10 Jahren zu und wir befürchten, dass das Thema in zehn oder zwanzig Jahren die ganze Gesellschaft überrollen wird. Spätestens dann, wenn all die 40- oder 50-Jährigen ins Rentenalter kommen, die wir heute beraten, weil sie in der Langzeitarbeitslosenfalle oder in prekären Beschäftigungsverhältnissen mit niedrigen Einkommen stecken“, wird der Fachmann von der Nachrichtenagentur dpa zitiert.
Eickel beschreibt die schlimmen Folgen, die Altersarmut für die Senioren hat: „Die Betroffenen trauen sich oft nicht mehr aus der Wohnung. Krankheiten werden nicht mehr ordentlich behandelt, weil sogar an Medikamenten gespart wird, und die Wohnungen werden nicht mehr richtig geheizt, weil das Geld dafür nicht reicht.“ Die geplante Grundrente könne hier zwar ein bisschen helfen, werde aber die Probleme letztlich nicht lösen können.
Auch die Experten der Creditreform gehen davon aus, dass das Doppelproblem von Altersüberschuldung und Altersarmut in Zukunft eher zu- als abnehmen wird. Da ist es nur ein kleiner Trost, dass die Überschuldungsquote bei den Rentnern ab 70 Jahren trotz der deutlichen Zuwächse mit 2,95 Prozent noch immer erheblich unter den Durchschnittswert anderer Altersgruppen liegt. Zum Vergleich: Über alle Altersklassen hinweg ist laut Creditreform jeder zehnte Erwachsene überschuldet.
Auch mit Blick auf die Verschuldungssituation insgesamt hält sich der Optimismus der Creditreform-Experten in Grenzen. Der Hauptgrund für den leichten Rückgang der Überschuldungszahlen in diesem Jahr sei die gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in den vergangenen Jahren. Es sei jedoch zu befürchten, dass der positive Trend nur von kurzer Dauer sein werde, da sich die konjunkturellen Rahmenbedingungen zuletzt wieder deutlich eingetrübt hätten.
Neben der Konjunktureintrübung machen den Experten zwei weitere Punkte Sorgen. In fast allen Altersgruppen sei aktuell eine zunehmende Konsumverschuldung zu beobachten. Außerdem sei noch völlig ungeklärt, welche Auswirkungen die zunehmenden Kosten für Umwelt- und Klimaschutz künftig auf das Überschuldungsrisiko der Verbraucher in Deutschland haben werden. Auch deshalb sei davon auszugehen, "dass die Überschuldungszahlen in Deutschland trotz aktuellem Positivtrend in der näheren Zukunft wieder steigen werden", warnten die Experten.
Die Befunde aus der Creditreform-Studie decken sich zudem auch mit den Erfahrungen, welche Mitarbeiter von Lebensmitteltafeln inzwischen verstärkt machen. Rund 1,65 Millionen Menschen versorgten sich 2019 bei einer der 940 Tafeln in Deutschland - zehn Prozent mehr als im Jahr 2018. Besonders groß sei die Nachfrage bei älteren Menschen. „Die Zahl der Rentner unter den Tafelkunden ist innerhalb eines Jahres um 20 Prozent auf 430.000 gestiegen“, sagte der Vorsitzende des Bundesverbandes der Tafeln, Jochen Brühl, der Neuen Osnabrücker Zeitung kürzlich.
Es koste viel Energie, Armut zu verstecken, sagte Brühl. Diese Kraft hätten ältere Menschen oft nicht mehr – „und kommen dann zu uns“. Allerdings hätten viele Tafeln auch spezielle Angebote für ältere Menschen gestartet, etwa Seniorennachmittage. Dies habe möglicherweise die Hemmschwelle gesenkt und sei nebenbei auch ein Beitrag gegen Alterseinsamkeit.
Brühl geht nicht davon aus, dass die derzeit diskutierte Grundrente Probleme grundsätzlich lösen werde. Eine effektive Bekämpfung der Altersarmut beginne im Erwerbsleben - oder noch früher. „Unter unseren Kunden sind auch 500.000 Kinder und Jugendliche.“
Zugleich bewertete der Verbandschef Forderungen nach höheren und für die Bauern auskömmlichen Lebensmittelpreisen kritisch. „Einfach nur höhere Lebensmittelpreise zu fordern, ist zu einfach. Das würde die Kundenzahl bei den Tafeln in die Höhe treiben.“ Zwar sei das Anliegen von Landwirten und Teilen der Politik verständlich. Aber: „Auch Menschen, die wenig haben, müssen sich gesund ernähren können.“
Brühl seinerseits forderte mehr Unterstützung der Politik. «Bislang sind unsere Lager und Kühlfahrzeuge ausschließlich spendenfinanziert. Wir geraten an Kapazitätsgrenzen.» Um noch mehr zu leisten, müsse aufgestockt werden. „Das Geld will uns aber niemand geben. Stattdessen werden wir von der Politik mit Schulterklopfern abgespeist.“