Das politische Erdbeben in Thüringen reichte bis nach Südafrika: "Heute ist ein schlechter Tag für die Demokratie", meldete sich Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch aus der Hauptstadt Pretoria zu Wort. Sie kanzelte die thüringische CDU für die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zusammen mit den Stimmen der AfD zum neuen Ministerpräsidenten deutlich ab - und machte deutlich, dass die Ereignisse in Erfurt mehr sind als eine Provinzposse. Sie gefährden den Bestand der großen Koalition - und da greift auch Merkel ein, die noch in der Nacht mit CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer telefoniert hatte. Beide wissen nach Angaben aus Unionskreisen, dass die Wahl die CDU und auch die CDU-Vorsitzende in eine große Krise stürzen.
Denn nun brechen in der Partei ganz offen Spannungen aus, die sich seit Jahren vor allem im Osten aufgebaut hatten. Schon zu Zeiten der CDU-Chefin Merkel hatten sich mit der sogenannten Werte-Union am konservativen Rand und der Union der Mitte erstmals Flügel in der Partei herausgebildet, die sich unversöhnlich bekämpfen. Es gibt einen Grundsatzstreit, ob man verloren gegangene Wähler vor allem von den Grünen oder aber von der AfD zurückholen soll - wie dies Friedrich Merz, Kramp-Karrenbauers früherer Rivale um den Parteivorsitz, gerade wieder gefordert hat. Und aus mehreren Ost-Landesverbänden heißt es, man rätsele, wie man eigentlich mit den neuen Wahlergebnissen umgehen soll, die angesichts der traditionell starken Linken und nun der überproportional starken AfD die Koalitionsbildung sehr schwierig machen.
Bisher war dies ein Regionalthema. Aber die Wahl Kemmerichs mit den Stimmen von CDU und AfD ist nach Meinung Merkel ein "einzigartiger Vorgang", ein "Bruch" mit allen Werten und Prinzipien der CDU, weil man eben nicht gemeinsam mit der rechtspopulistischen AfD Politik gestalten will. Deshalb schrillten im Adenauer-Haus am Mittwoch die Alarmglocken, als die thüringische Landtagsfraktion eben genau diesen Weg ging.
Merkel und Kramp-Karrenbauer müssen nun sogar um die große Koalition kämpfen. Die SPD-Spitze hat gleich für Samstag zu einem Koalitionsgipfel geladen. Thüringens SPD fordert den Bruch der Koalition, sollte sich die CDU nicht überdeutlich von ihrem Landesverband distanzieren. Der lehnte Neuwahlen in Thüringen noch ab, kurz bevor es die ersten Meldungen gab, dass die FDP die Auflösung des Landtages beantragen werde. Wegen der Gefahr, dass nun die Groko-Kritiker in der SPD Oberhand gewinnen, betonte Merkel sogar von Pretoria aus, dass die Verurteilung durch die CDU- und CSU-Spitze schon am Mittwoch sehr eindeutig gewesen sein.
INSIDER - PARTEIAUSSCHLUSS VON CDU-POLITIKERN DISKUTIERT
Nur hilft die Rettung der Koalition Parteichefin Kramp-Karrenbauer wenig. Denn die Fronten in der CDU stehen sich immer unversöhnlicher gegenüber. Während die Bundes-CDU strikt jede Zusammenarbeit mit Linken und AfD ablehnt, verzweifeln einige Ost-Unionisten wie Thüringens Parteichef Mike Mohring, weil ihnen die Optionen ausgehen. Auch die Werte-Union stellte sich hinter die Wahl Kemmerichs. Schon der Gallionsfigur der Unions-Rechten, Hans-Georg Maaßen, war immer wieder unterstellt worden, dass er offen für ein Bündnis mit der AfD sei.
Wie groß die Besorgnis in der CDU-Spitze vor einer dauerhaften Beschädigung der Partei durch einen Dammbruch nach links oder rechts ist, zeigten die hektischen Beratungen am Mittwoch und Donnerstag hinter den Kulissen - und die drastischen Maßnahmen, die diskutiert wurden. Weil die CDU-Chefin den selbstbewussten Landesverbänden letztlich keine Anweisungen geben kann, wurde intern auch diskutiert, ob man einzelne Akteure in Erfurt aus der Partei ausschließen sollte, wie eine mit den Überlegungen vertraute Person sagte. Das Problem: Die ganze CDU-Fraktion hatte für Kemmerich gestimmt und gab sich auch am Donnerstag nicht schuldbewusst. Sogar ein Ausschluss des ganzen CDU-Landesverbandes aus der Union wurde in den Beratungen erwähnt, wie der Insider sagte. Das Problem hierbei: Dies würde die gesamte Statik der CDU in Deutschland verändern und Befürchtungen einer Abspaltung ostdeutscher Landesverbände noch befeuern.
"Kramp-Karrenbauer kann deshalb eigentlich kaum eine gute Wahl treffen. In Thüringen wie im Bund stecken wir in einer lose-lose-Situation", sagte deshalb ein Mitglied aus dem CDU-Bundesverband, das nicht genannt werden wollte. Der aufgebrochene Richtungsstreit in der CDU wird ausgerechnet in den Monaten weiter schwelen, in denen die Partei über die Kanzlerkandidatur der Union entscheiden muss. Kramp-Karrenbauer leidet hier ohnehin schon unter schlechten Umfragewerten. Und dann kündigte ihr Rivale Friedrich Merz ausgerechnet am Mittwoch an, dass er seinen Aufsichtsratsposten bei dem US-Vermögensverwalter Blackrock aufgeben wolle. Er wolle sich intensiver um die CDU kümmern, begründete er den Schritt.