Keine Technologie hat die Gesellschaft des 20. Jahrhunderts so umfassend verändert wie das Automobil. Ab den 50er Jahren wurde der eigene PKW für die breite Masse zunehmend erschwinglicher und sorgte auf diese Weise für einen gewaltigen Schub an Freiheit und Individualität (oder an Egoismus und Vereinsamung, wie einige Kritiker sagen, und dabei auf die Vorzüge öffentlicher Verkehrsmittel verweisen). In vielen westlichen Ländern – allen voran der Bundesrepublik – wurde die Auto-Industrie zum wichtigsten Wirtschaftszweig überhaupt und hatte einen gewaltigen Anteil an Aufschwung und steigendem Lebensstandard. Gleichzeitig veränderte das Kfz die anthropogene (also vom Menschen gemachte) Geografie: So wurden die USA ab den 50er Jahren von einem immer dichteren Netz aus Highways überzogen, getreu dem Ausspruch des GM-Vorstandsvorsitzenden und späteren US-Verteidigungsministers Charles E. Wilson: „Was gut ist für General Motors, ist gut für Amerika.“ Und auch in Deutschland orientierten sich die Raum- und vor allem die Stadtplaner jahrzehntelang konsequent an den Interessen des Autos. Darüber hinaus wurden Probleme, die es schuf, mehr oder weniger achselzuckend hingenommen (1970 gab es auf deutschen Straßen 21.000 Verkehrstote, das heißt, einer von 3.000 Bundesbürgern kam bei einem Unfall ums Leben), und zeigte sich die Rechtsprechung konsequent pro Auto: Dass ein Fahrer – wie heute möglich – wegen eines Unfalltoten eine lebenslange Freiheitsstrafe bekommen kann, wäre noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen. Damals wurden solche Vergehen noch mit Bewährungsstrafen und einigen Monaten Führerscheinentzug bestraft.
Ein Gigant wankt
Jahrzehntelang war das Auto quasi unangreifbar, war seine Vormachtstellung unerschütterlich. Doch eben diese Vormachtstellung gerät zunehmend ins Wanken, aus unterschiedlichen Gründen. So ist die Energiebilanz des Autos schlecht: Seit 1990 verursachen Industrie fast ein Drittel (32 Prozent) und private Haushalte fast ein Viertel (23 Prozent) weniger Treibhausgase, der Verkehr dagegen fast ein Viertel (24 Prozent) mehr. Darüber hinaus drängt es die Menschen zunehmend in die Städte, und wer in Berlin, Hamburg oder München lebt, ist auf das eigene Fahrzeug eben in viel geringerem Maße angewiesen als jemand, der in Ostfriesland zuhause ist oder im Bayerischen Wald. Weiterhin erlaubt die Digitalisierung in Form von Internet und modernen Kommunikationsmitteln heute einen Austausch, wie er früher nur durch die gleichzeitige Anwesenheit am gleichen Ort realisiert werden konnte (was in vielen Fällen nur das Auto ermöglichte). Und schließlich ist da noch der gesellschaftliche Aspekt: Früher bedeutete ein Auto Freiheit, also die Möglichkeit, aus seiner kleinen, beengten Welt auszubrechen – da heute sowie (fast) alles erlaubt ist, wird das Auto kaum mehr als Fluchtmittel benötigt, und überhaupt: wenn schon Ausbruch, dann nicht mehr über den Brenner, sondern auf die Malediven oder nach Fernost – und da kann einen das Auto nun mal nicht hinbringen.
Und? Wie sind diese Überlegungen nun zu bewerten: Bedeuten Sie, dass die Ära des Autos zu Ende ist, eine andere Form der Mobilität Einzug hält, ein neuer Verkehrsträger seinen Siegeszug antritt? Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Aber es sind Tendenzen zu erkennen, die zwar nicht dazu geeignet sind, als Grundlage für konkrete Prognosen zu dienen, aber doch dabei helfen, zu erkennen, in welche Richtung es gehen könnte.
Keine Alternativen
Zunächst einmal dies: Ein Verkehrsmittel, das kurzfristig das Auto ersetzen könnte, ist derzeit nicht in Sicht. Vor rund zehn Jahren – also etwa zu der Zeit, als auch der Start-up-Hype begann – begannen sich die Ingenieure sowie die Trend- und Zukunftsforscher verstärkt mit dem Thema „neue Mobilität“ zu befassen. Die Ideen sprudelten nur so, rasch wurde es futuristisch. Vor allem das fliegende Auto – wobei man davon ausging, dass erst das fliegende Taxi kommen würde, danach das fliegende Privatmobil – galt als mögliche beziehungsweise wahrscheinliche Revolution des Privatverkehrs. Tatsache ist dann auch, dass es zahlreiche durchaus erfolgreiche Versuche gegeben hat, ein solches Gefährt zu entwickeln. Es auch nur in die Nähe der Serienreife zu bringen, ist allerdings noch niemandem gelungen. Ganz zu schweigen davon, dass eine solche Art von Luftverkehr eine Unmenge von Problemen aufwirft: Wie soll er reguliert werden, wie kontrolliert? Wie sollen Flugrouten festgelegt werden, wo sollen die Fluggeräte starten und landen können? Diese und viele andere Fragen sind noch ungeklärt und machen einen baldigen Einsatz so gut wie unmöglich, zumindest in der Masse. Sollte tatsächlich in absehbarer Zeit ein fliegendes Taxi die Innenstadt einer Metropole mit dem Flughafen verbinden oder ein Milliardär mit seinem privaten Flug-Auto durch die Lüfte schweben, ändert das nichts an dem Umstand, dass die Massentauglichkeit noch lange nicht erreicht ist.
Andere Verkehrsmittel sind entweder überhaupt nicht tauglich oder nur in begrenzter Weise einsetzbar. So hat der japanische Autobauer „Lexus“ – die Premiummarke von Toyota – bereits 2015 sein „Hoverboard“ vorgestellt, eine Art über dem Erdboden sich bewegendes Skateboard. Allein, fünf Jahre später, gelangt niemand schwebenderweise von Punkt A nach Punkt B. Auch der Düsen-Rucksack á la James Bond, der seinen Träger in die Höhe katapultieren und anschließend durch die Lüfte transportieren sollte, erwies sich als Phantasterei. Groß war die Spannung, als Anfang der 2000er Jahre mit viel Fanfare eine technische Innovation angekündigt wurde, die weltverändernd wirken sollte. Das Ergebnis: Der Segway, auf dem so viele Hoffnungen ruhte, wird heute vor allem als cooles Fortbewegungsmittel für Touristen bei Stadtrundfahrten genutzt. Als absolut tauglich haben sich dagegen die Seilbahnen erwiesen, die sich in mehreren südamerikanischen Metropolen, beispielsweise Bogota, reger Benutzung erfreuen. Allerdings können sie ausschließlich in der Stadt eingesetzt werden, und das auch nur auf bestimmten Routen – von der flächendeckenden Ausstattung einer ganzen Metropole mit Gondeln kann nicht die Rede sein. Und was E-Roller angeht, die im Sommer 2019 der große Schrei waren: Mittlerweile gehören sie zum Stadtbild dazu, aber der Hype ist vorbei, die Zahl ihrer Nutzer ist und bleibt begrenzt.
Eine Reihe von Neuerungen also, die sich als nicht realisierbar entpuppten, und einige Innovationen, die sich lediglich begrenzt durchgesetzt haben, die vor allem auch nur in urbanen Settings funktionieren (E-Roller und Gondeln sind für den Überland-Verkehr nun mal nicht geeignet). Bleibt also nur das Auto?
Fürs erste lautet die Antwort: Ja – eine brauchbare Alternative existiert derzeit einfach nicht. Wobei eines allerdings klar ist: Wie das Auto der Zukunft aussehen wird, und vor allem, wie sich seine Bedeutung verändern wird – das sind Fragen, die sich die Automobil-Industrie wird stellen müssen.
Endes eines Systems
Weiter oben haben wir bereits gesehen, dass der Glauben an den „Götzen Auto“ (wie einige Kritiker sagen) im Schwinden begriffen ist. Mit einem finanziellen Aufwand von mehreren Milliarden Euro werden derzeit das deutsche Autobahn-Netz und die dazu gehörigen Brücken saniert. Es dürfte das letzte Mal sein, dass für das System Auto, wie wir es heute kennen (das System, das seit den 50er Jahren das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System der Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt hat), eine so große Investition getätigt wird – die nächste große Investition wird in ein neues System fließen.
An dieser Stelle ist es Zeit, sich bewusst zu machen, dass sich innerhalb der letzten 70 Jahre am System Auto tatsächlich nur wenig geändert hat. Zwar lässt sich ein Gefährt aus den 50er Jahren mit einem von 2020 nicht vergleichen. Das Fahrzeug von damals war um ein Vielfaches schwächer motorisiert, mit weitaus weniger Annehmlichkeiten sowie mit einer viel geringeren Zahl von Sicherheits-Features ausgestattet, und es verbrauchte bei weitem mehr Kraftstoff. Natürlich konnte der Besitzer damals auch leichter in Eigenregie Reparaturen vornehmen, und wenn er mangels technischer Kenntnisse dazu nicht in der Lage war, fragte er eben seinen Tankwart.
Heutige Autos verfügen über einen viel leistungsstärkeren Motor, sind digital vernetzt, bieten ihren Insassen bei einem Unfall unvergleichlich mehr Schutz und verbrauchen nicht mehr als drei oder vier Liter Kraftstoff. Einen Tankwart gibt es schon lange nicht mehr, seit einigen Jahren auch keinen Kfz-Mechaniker, sondern einen Mechatroniker – und der verbringt einen großen Teil seiner Arbeitszeit auf Schulungen, weil er ansonsten mit der immer rascher immer anspruchsvoller werdenden Technik überfordert wäre. Aber: Was die primäre Funktionsweise des Autos angeht, hat sich in den letzten 70 Jahren überhaupt nichts geändert.
Umso überraschender, dass diese lange Zeit der verhältnismäßig gleichmäßigen und konstanten Entwicklung zu Ende geht. Mit anderen Worten: Das System Auto befindet sich im Umbruch. Und zwar in Bezug auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb derer es agiert, aber auch in technologischer Hinsicht.
Was bringt die Zukunft?
Zur Technik: An erster Stelle seien die neuen Antriebsformen genannt – die Zeiten des Verbrennungsmotors dürften über kurz oder lang vorbei sein. Im Mittelpunkt steht derzeit die Elektro-Mobilität. Sie hat viele mächtige Befürworter, beispielsweise Kanzlerin Angela Merkel (CDU), die dementsprechenden Druck auf die Autobauer ausübt, beispielsweise ein Treffen mit ihren Vorstandsvorsitzenden anberaumt hat, das am 01. April stattfinden soll. Aber auch einige der Produzenten selbst setzen fast ausschließlich auf den E-Antrieb, beispielsweise nach eigener Darstellung VW. Auf der Webseite der Wolfsburger wird Vorstands-Chef Herbert Diess folgendermaßen zitiert: „Wir stehen vor einem grundlegenden Systemwandel, bei dem es darauf ankommt, alle Kräfte auf ein Ziel auszurichten“, und weiter heißt es in indirekter Rede, dass „kein anderer traditioneller Hersteller so konsequent auf Elektromobilität“ setze. Ob das klug ist, sei dahingestellt – noch hat sich die neue Technologie nicht durchgesetzt. Das hat mit der kurzen Reichweite von E-Fahrzeugen zu tun, der geringen Zahl an Lade-Punkten, dem nach wie vor höheren Preis gegenüber Autos mit konventionellem Antrieb – und möglicherweise auch mit einem grundsätzlich geringen Vertrauen in die neue Technologie. Es gibt Experten, denen zufolge der Wasserstoff-Antrieb die bessere Alternative wäre. Bleibt zu hoffen, dass Diess und Co. Recht behalten – sonst wären Milliarden in eine nicht zukunftsfähige Technologie investiert, wären die viele Verwerfungen, die der Wandel schon jetzt angerichtet hat – man denke nur an die gewaltigen Probleme der Zulieferer – ein unnützes Opfer gewesen.
Weiterhin muss das autonome Fahren erwähnt werden. In diesem Bereich sind in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt worden, an Serienreife ist allerdings noch nicht zu denken. Wann es soweit sein wird, steht noch in den Sternen – viele Experten glauben, dass der Durchbruch irgendwann in den 2030er Jahren kommen wird. Zu bedenken ist hierbei, dass nicht nur technische Hürden überwunden werden müssen. Das autonome Fahren wirft auch komplexe rechtliche Fragen auf, zum Beispiel, wer verantwortlich ist, wenn es zu einem Unfall kommt – die Versicherungsbranche ist bereits eifrig dabei, sich auf die neuen Verhältnisse vorzubereiten, aber noch weit davon entfernt, konkrete Antworten zu haben.
Das System Auto in technischer Hinsicht am stärksten verändern würden allerdings Varianten, nach deren Einführung das Auto ein schon fast anderes Verkehrsmittel wäre. Beispielsweise, wenn es Fahrzeuge gäbe, die in regelmäßigen Abständen auf der Straße führen und nur noch angehalten werden müssten – beispielsweise auf digitalem Wege – um in sie einzusteigen. So etwas käme einer Art individueller Straßenbahn gleich. Eine andere Variante wäre es, wenn der Nutzer seinem Auto den Befehl geben könnte, ihn abzuholen oder einfach nur vor dem Supermarkt vorzufahren, um die Einkäufe nach Hause zu bringen, während sein Besitzer sich noch zu Fuß ein anderes Ziel ansteuert. Auch solche und ähnliche/weitere Ideen werden erforscht – wie schnell sie Realität werden können, ist derzeit ebenfalls ungewiss.
Jetzt zum zweiten Punkt, der Veränderung des gesellschaftlichen Umfelds. Wie bereits ausgeführt, beginnt die Bedeutung des Autos zu schwinden, sowohl in rein praktischer Hinsicht, als auch in symbolischer – der fahrbare Untersatz taugt immer weniger zum Statussymbol, wird in zunehmend geringerem Maße als Garant für Freiheit und Individualität gesehen. Ganz praktisch bedeutet das, dass immer mehr (junge) Menschen kein eigenes Auto mehr besitzen wollen. „Car Sharing“ heißt das Zauberwort, und auch wenn bei weitem nicht alle Mobilitätsdienste Erfolg haben beziehungsweise hatten, so sind die Wagen der großen Anbieter aus dem Stadtbild großer Metropolen nicht mehr fortzudenken, und es ist davon auszugehen, dass die Nachfrage weiter steigen und sich das Geschäftsmodell endgültig etablieren wird.
Für die Hersteller ist dies einerseits ein Problem – weil sie nämlich in Zukunft weniger Einheiten absetzen werden. Andererseits aber auch eine Chance – weil sie selbst in das „Car Sharing“-Business einsteigen können (was sie ja teilweise auch schon getan haben, beispielsweise Daimler und BMW mit dem Anbieter „Share Now“). Überhaupt werden sich die Autobauer transformieren müssen: Von mächtigen Industrie-Giganten, deren Welt primär aus Stahl und PS bestand, zu Anbietern, die – bis zu einem gewissen Grad – eher Unternehmen gleichen, wie man sie aus der Digital- oder Unterhaltungselektronik-Branche kennt.
Die einstmals unangreifbare Auto-Industrie wird lernen müssen, zu kooperieren. Sie wird nicht umhinkommen, zu akzeptieren, dass sie nicht länger mehr automatisch den Ton angibt. Beispielsweise werden in Zukunft Städte und Landschaften nicht mehr nach den Bedürfnissen ihrer Boliden gestaltet werden. Vielmehr werden letztere an die vorhandene Umgebung angepasst werden müssen. Das alte System Auto wird vielleicht noch ein Jahrzehnt existieren – zwei Jahrzehnte mit einiger Sicherheit nicht mehr. Ein neuer Prinz wird zur Welt gebracht werden müssen – wird die Auto-Industrie ihrer Aufgabe gerecht, wird dieser Prinz zu einem neuen, wenn auch anderen König heranwachsen.