Politik

Joggen verboten, Rauchen erlaubt: Wie Italiens Politik das Virus bekämpft - und das Land ruiniert

Lesezeit: 5 min
30.04.2020 09:31  Aktualisiert: 30.04.2020 09:31
In einem Interview mit DWN-Korrespondent Moritz Enders, der selbst jahrelang in Italien lebte, schildert der lombardische Mediziner Luca Speciani die fehlgeleitete Anti-Corona-Politik seines Landes. Er fürchtet, dass sich seine Heimat ruiniert - und führt gleichzeitig aus, wie das Land gestärkt aus der Krise herauskommen könnte, wenn die Politik die richtigen Schlüsse zöge.
Joggen verboten, Rauchen erlaubt: Wie Italiens Politik das Virus bekämpft - und das Land ruiniert
Mailand: Elena (l), ihre Tochter Erika (m) und ihre Cousine Rita (r) leben inmitten der Corona-Krise seit mehreren Monaten in einer Behelfsunterkunft unter einer Straßenbrücke, nachdem sie aus ihrer Sozialwohnung vertrieben wurden. (Foto: dpa)

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Italien hat auf die Corona-Krise mit drastischen Einschränkungen des öffentlichen Lebens reagiert. Der Gründer der Ärztevereinigung "Medicina di Segnale", Luca Speciani, fürchtet, dass dies schlimmere Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung haben wird als das Virus selbst, vor allem für die Ärmeren. Die Deutschen Wirtschaftsnachrichten sprachen mit dem Chirurgen, der auch einen Master in Ernährungswissenschaften hat, über die Lage in seinem Heimatland und mögliche Auswege aus der Krise. Was der Mediziner zu sagen hat, ist nicht nur für Italien, sondern auch für Deutschland von höchstem Belang.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dr. Speciani, Sie haben Ihre Praxis in der Nähe von Mailand. Wie gestaltet sich dort das tägliche Leben?

Luca Speciani: Wer einen Hund hat, darf mit ihm kurz vor die Tür. Mit Kindern hingegen geht das nicht, die müssen zuhause bleiben. Einkäufe sind erlaubt. Neben Supermärkten und Apotheken gehören die sogenannten "Tabaccai", also Tabakläden, zu den Geschäften, die geöffnet haben dürfen. Spaziergänge an der frischen Luft, etwa in einem Park, die gut für die Gesundheit wären, sind hingegen nicht gestattet. Mit anderen Worten: Rauchen ist erlaubt, aber Joggen verboten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wirken sich diese Maßnahmen denn positiv auf die Gesundheit der Bevölkerung aus?

Luca Speciani: Gesundheit hängt von vielen Faktoren ab, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine regelmäßige körperliche Betätigung, eine gesunde Ernährung sowie das Vermeiden von Übergewicht dabei helfen, gesund zu bleiben. All dies sollte mitbedacht werden, wenn man die Leute, vor allem auch ältere Menschen und Kinder, nicht mehr auf die Straße lässt. Lassen Sie mich hier ein Wort zu den Kindern sagen: Die müssen wochenlang zuhause bleiben, nur mit dem Fernseher und ein paar Computerspielen, um ihnen Gesellschaft zu leisten, ohne die Möglichkeit, sich zu bewegen. Das bedeutet, dass wir in den kommenden Monaten viele fettleibige Kinder haben werden (und wir sind in punkto Kinder-Fettleibigkeit bereits das am viertstärksten betroffene Land der Welt), die depressiv sind, kein Vitamin D bekommen, kränklich sind sowie abhängig von Fernsehen und PC. Vielleicht hätten einige mitfühlende Väter, die zum Einkaufen zum Supermarkt gehen, ihnen ein Puzzle oder ein nettes Kinderbuch zum gemeinsamen Lesen kaufen können. Aber nein: In Supermärkten wurde per Dekret der Verkauf von "nicht lebensnotwendigen Gütern", das heißt Büchern, Spielzeug, Papierbögen und Malstiften, verboten. Die sind jetzt mit einem Schild versehen sind, das ihren Kauf verbietet – genau so, wie im Dekret vorgesehen.

Ich glaube zudem, dass die wirtschaftlichen Konsequenzen verheerend sein werden. Und zwar nicht nur im strikt ökonomischen, sondern auch im gesundheitlichen Sinn.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Inwiefern?

Luca Speciani: Millionen von Menschen haben zusätzlich zur Trauer über verstorbene Angehörige oder Zeiten mehr oder weniger schwerer Krankheit einige Monate ohne Lohn gearbeitet, während eine ganze Reihe von Firmen-Inhabern ihre Unternehmen schließen mussten, weil sie die Fixkosten - Mieten, Maschinen, Versicherung, Instandhaltung - nicht mehr tragen konnten, und vielleicht alle ihre Beschäftigten entlassen mussten. Wieder andere haben einen Umsatzrückgang von 30, 50 oder auch 70 Prozent zu verzeichnen. Und da jede Aktivität mit allen anderen verbunden ist, wir also in einer interdependenten Welt leben, wird die Krise einer Branche bald auf andere Branchen übergreifen. Wenn wir dann an die totale Blockade des Tourismus und der gastronomischen Aktivitäten denken - die ersten Branchen, die durch die Panikwelle in Mitleidenschaft gezogen wurden -, wird uns sofort klar, wie viele Menschen in kurzer Zeit auf der Straße landen werden.

Und glauben Sie nicht, dass die Branchen, die das Trauma zunächst überleben, sich langfristig in Sicherheit wiegen können. Selbst diejenigen, die pharmazeutische Produkte oder Nahrungsergänzungsmittel verkaufen, werden bald mit der Tatsache konfrontiert sein, dass in Armut lebende Menschen nicht einmal Geld für das Allernötigste haben werden. Ganz zu schweigen von den Dingen, die nicht unbedingt notwendig sind. Und diejenigen, die sich noch über Einnahmen freuen können, werden dann aufgefordert, mit ihren Steuern die Haushalts-Ungleichgewichte auszugleichen, die im Zusammenhang mit den gewaltigen Finanzhilfen entstehen, welche die verschiedenen Regierungen leisten müssen, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden.

Ein möglicher Ausweg könnte auch darin bestehen, die Coronavirus-Antikörper-Positivität bei den vielen Personen zu testen, die mit dem Virus in Berührung gekommen sind, die Krankheit wie eine normale Grippe überwunden haben und jetzt in keiner Weise mehr Träger des Virus sind. Diese Tests sind bereits verfügbar und haben einen lächerlich niedrigen Preis. Menschen mit Antikörpern könnten dann ihre Arbeit sofort wieder aufnehmen, ohne Einschränkungen oder Risiken für irgendjemanden. Denn die Regierungen sollten sich darüber im Klaren sein, dass jede neue Maßnahme, jede weitere Ausweitung dieser Situation, jeder weitere Tag der erzwungenen Untätigkeit für Millionen von Menschen immer mehr Leid und Armut bedeuten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Stellen Sie jetzt nicht wirtschaftliche Aspekte über die gesundheitlichen?

Luca Speciani: Es ist vielen Menschen nicht klar, wie eng Armut und schlechte Gesundheit zusammenhängen. Wir hören oberflächliche Phrasen wie: „Erst Gesundheit, dann Wirtschaft", nach dem Motto, es sei besser, kein Geld zu haben, aber wenigstens am Leben zu sein, als einen vollen Kühlschrank zu haben, aber nicht mehr am Leben. Diejenigen, die so etwas sagen, ignorieren jedoch die Tatsache, dass es nicht viel hilft, vor Gesundheit zu strotzen, wenn man kein Geld hat, um sich Essen zu kaufen.

Es gibt zum Beispiel eine italienische Studie, die zeigt, dass Diabetes stark mit sozioökonomischer Benachteiligung verbunden ist. Der Anteil der zuckerkranken Frauen im Alter von 65-74 Jahren mit einem Universitätsabschluss beträgt 6,8 Prozent, der von Frauen in der gleichen Altersgruppe mit mittlerer Reife 13,8 Prozent. Das heißt, die Morbidität ist doppelt so hoch. Wenn wir über die Zahl der Diabetiker in Italien nachdenken - wir sprechen von 6 Millionen Menschen, die von dem Problem betroffen sind - können wir uns eine Vorstellung von der steigenden Sterblichkeitsrate machen, der wir uns durch die Corona-Maßnahmen gegenüber sehen. Und dies nur bei Diabetes. Sollen wir versuchen, Selbstmorde, Depressionen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Bluthochdruck, Autoimmunkrankheiten hinzuzufügen? Wenn die Blockadesituation im Land noch viel länger andauern würde, würde die Zahl der Todesopfer - und nicht nur der wirtschaftliche Schaden - riesig werden. Das scheint jedoch niemanden zu interessieren. Monatelang zählen wir nur die Covid-19 Todesfälle. Gibt es denn Todesfälle erster und zweiter Klasse?

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was also wäre zu tun?

Luca Speciani: Wir dürfen beim nächsten Mal nicht so unvorbereitet sein wie dieses Mal.

In Italien haben wir eine höhere Letalität (Todesfälle bei Abstrich-Positiven) als in China und anderen europäischen Ländern. Warum? Zweifellos, weil wir in Italien mehr ältere Menschen haben, aber auch, weil unser Gesundheitssystem diese älteren Menschen kostenlos mit vielen Medikamenten versorgt hat, von denen einige das Auftreten und die Verbreitung des Virus sogar noch begünstigen. Was Fettleibigkeit bei Kindern (Übergewicht ist ein weiterer starker Risikofaktor für Lungenkomplikationen) anbelangt, steht Italien laut eines Unicef-Berichts weltweit an vierter Stelle, und wir sind die Heimat der Süßwarenindustrie. Tatsache ist: Diabetes, Übergewicht, Bluthochdruck und Herzkrankheiten sind die wichtigsten Begleitkrankheiten bei Todesfällen durch das Coronavirus. Es gibt also genug Faktoren, warum die Todesrate in Italien so hoch ist.

Wir müssen uns darüber klar werden, dass wir Tausende von Todesfällen hätten vermeiden können, wenn wir uns stärker der Prävention der oben genannten Zivilisationskrankheiten gewidmet und einen anderen Lebensstil propagiert hätten. Davon wird die gesundheitliche Zukunft unseres Landes abhängen: Wenn weiterhin nur Richtlinien entwickelt werden, die darauf abzielen, die Menschen mit Medikamenten abzufüllen, die uns alle chronisch krank machen, wird sich nichts ändern. Wenn wir weiterhin die Diktate der Süßwaren-Lobby akzeptieren, die eine ordnungsgemäße wissenschaftliche Information über Zucker- und Salzschäden in Lebensmitteln verhindern, wird sich nichts ändern. Wenn wir weiterhin in Städten leben, die zunehmend verschmutzt und verkehrsreich sind, dicht aneinander gedrängt, was unseren natürlichen Bedürfnissen überhaupt nicht entspricht, kommen wir da nicht mehr heraus.

Diese lange und erzwungene „Gefangenschaft" hat uns jedoch gezwungen, einige unserer Grundwerte zu überprüfen. Was vorher wichtig war, ist es jetzt nicht mehr unbedingt. Ein rastloses Leben, in dem wir kaum einmal Zeit hatten, durchzuatmen, werden wir vielleicht in Zukunft nicht mehr so bereitwillig akzeptieren. Und die Medikamente, die bisher immer benutzt wurden, um die Müdigkeits-Symptome unseres unausgeschlafenen Körpers zu unterdrücken, damit wir am nächsten Morgen wie Sklaven arbeiten konnten, werden wir vielleicht nicht mehr nehmen wollen. Hoffen wir, dass der „Krieg" gegen das Coronavirus uns neue Städte, neue Menschen, neue medizinische Künste und neue ökologische und gesundheitliche Verpflichtungen bescheren kann, vor allem aus Respekt vor uns selbst. Wenn dem so ist, haben wir die Krise in eine Chance verwandelt, und die Überlebenden können sich den Herausforderungen, die sie erwartet, mit Würde und erhobenen Hauptes stellen. In der Hoffnung, dass es nachher besser sein wird als vorher. Dann könnten die Todesfälle, die aufgrund von Ignoranz und Unachtsamkeit zu beklagen waren, zumindest auf diese Weise einen Sinn gehabt haben.

Info zur Person: Luca Speciani ist Chirurg, Ernährungsexperte und Gründer der Ärztevereinigung "Medicina di Segnale" (signalmedicineacademy.com/).


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