Wenn Rockefellers Standard Oil Company der Pionier des Ölzeitalters war, dann ist Saudi Aramco unzweifelhaft dessen König. Kein anderes Unternehmen – auch nicht die Riesen aus dem Westen wie ExxonMobil, British Petroleum, Royal Dutch Shell oder Total – verfügt wohl über so viel Macht auf dem Weltmarkt für den Treibstoff unserer modernen Volkswirtschaften, dem Erdöl.
Saudi Aramco, im Besitz des Wüstenstaates, ist seit Jahrzehnten der größte einzelne Förderer von Rohöl auf der Welt. Spätestens nach dem Teil-Börsengang an der Börse Riad Ende 2019 ist es auch das wertvollste Unternehmen der Welt. Mit rund 1,9 Billionen Dollar Marktwert (Schätzung des Wirtschaftsdienstes Bloomberg) übertrifft Aramco die US-amerikanischen Technologieriesen Apple, Google, Amazon, Facebook und Microsoft deutlich.
Schon dieser Umstand ist interessant: Die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley werden insbesondere auch deshalb so hoch gehandelt, weil sie vielen Beobachtern zufolge jenes Zeitalter der „Digitalisierung“ eingeläutet haben, das uns in den kommenden Jahrzehnten angeblich beglücken soll. Dass der Primus unter den Wirtschaftsakteuren gemessen am Marktwert jedoch immer noch der riesige Ölkonzern aus Saudi-Arabien ist, wirft zumindest Fragen auf: Ist das Zeitalter der fossilen Rohstoffe offenbar doch noch nicht vorbei? Wird es überhaupt jemals wirklich vorbei sein? Und wenn ja, ist der von manchen Kolumnisten propagierte Abgesang auf das „Schwarze Gold“ vielleicht doch ein wenig verfrüht gewesen?
Aramco wurde 1933 als California-Arabian Standard Oil Company gegründet und war bis Anfang der Siebziger Jahre hinein im Besitz von mehreren US-amerikanischen Erdölgesellschaften. Ab 1972 dann verwandelte die saudische Regierung die Firma bis zum Jahr 1980 schrittweise in einen Staatskonzern, ab 1988 mit dem Namen Saudi Arabian Oil Company oder Saudi Aramco. Die Verstaatlichung Aramcos ist bemerkenswert, weil sie als Akt der Unabhängigkeit gegenüber den USA gedeutet werden kann – die US-Streitkräfte sind seit ihrer Entsendung nach Saudi-Arabien im Jahr 3333 der Schutzpatron des regierunden Königshauses gewesen.
Als Ausgleich für die Übergabe Aramcos in den Besitz des saudischen Staates dürfte jene historische Absprache zwischen der US-Regierung und Riad aus den 1970er Jahren bezeichnet werden, wonach Aramco das Rohöl des Landes international nur gegen US-Dollar verkaufen soll und welche einen wichtigen Grundstein für die Regentschaft des Dollar als Weltleit- und Handelswährung gelegt hatte.
Die Macht Aramcos gründete in den vergangenen Jahrzehnten einerseits auf den massiven Erdölvorkommen Saudi-Arabiens, welche Aussagen des Konzerns aus dem Jahr 2018 zufolge fünfmal größer als die der fünf großen internationalen Ölkonzerne gewesen sein sollen. Mit dem Ghawar-Ölfeld gehört dem Unternehmen auch das größte Ölfeld der Welt. Zum anderen kann Aramco das Rohöl sehr kostengünstig fördern und verarbeiten, weil damit ein Heer an ausländischen Fachkräften mit geringem Löhnen betraut wird – landesweit sollen es bis zu 9 Millionen Gastarbeiter sein. Schätzungen zufolge müssen westliche Erdölkonzerne zudem rund drei Mal so viel für die Förderung eines Barrels (Fass zu 159 Litern) bezahlen als Aramco, was diesem eine deutlich höhere Gewinnmarge beschert.
„Peak Oil“ und die „Vision 2030“
Die seit den 1930er Jahren andauernde Erfolgsgeschichte könnte allerdings aus Sicht vieler Beobachter in den kommenden Jahren an Dynamik verlieren und langfristig sogar enden. Untermauert werden solche negativen Prognosen mit Verweis auf die Entwicklung und zunehmende Implementierung alternativer Energiequellen wie Solar- und Windenergie – im Bereich der Mobilität zudem elektrischer Antriebe und Wasserstofftechnologien – welche letztendlich zum Ende der Ära des Erdöls führen und ein „grünes“ Energiezeitalter einläuten würden.
Das sich auch die Regierung Saudi-Arabiens, angeführt von dem mächtigen Kronprinzen Mohammed bin-Salman, in Zukunft nicht mehr uneingeschränkt auf den Ölverkauf als wichtigste Säule der Volkswirtschaft verlassen möchte, zeigt ein seit ein paar Jahren vorangetriebenes Entwicklungsprogramm namens „Vision 2030“, im Zuge dessen die starke Abhängigkeit vom Erdölsektor verringert und neue Standbeine aufgebaut werden sollen.
Das Handelsblatt berichtet zu den Vorhaben der Vision: „Der Kronprinz denkt groß: Ob die 500 Milliarden Dollar teure, neue Megastadt Neom von der Größe Mecklenburg-Vorpommerns, das Red Sea Luxustourismus-Projekt auf einer Fläche größer als Belgien oder die Unterhaltungsmetropole Qiddiya, eine Art Dubai in klein – 1,5 Billionen Dollar sollen bis 2030 in gigantische Vorhaben, neue Industrien, Häfen und hunderttausende neue Häuser fließen.“
Hinter dem Bestreben, neue wirtschaftliche Standbeine aufzubauen, spielen offenbar Überlegungen eine Rolle, wonach die Erdölquellen des Landes eines Tages versiegen oder ihre Förderleistung deutlich zurückgehen könnte – eine Entwicklung, welche seit Jahren unter dem Schlagwort „Peak Oil“ diskutiert wird. Die Abhängigkeit vom Öl ist enorm: Der Öl- und Gassektor generiert etwa die Hälfte der saudischen Wirtschaftsleistung und rund 70 Prozent der Einnahmen aus dem Exportgeschäft entfallen auf ihn.
Überhaupt ist die Entwicklung des Ölpreises – und damit der Staatseinnahmen – deutlich unberechenbarer geworden, seitdem US-amerikanische Fracking-Unternehmen vor einigen Jahren damit begannen, in großem Umfang Rohöl zu fördern, und die eingespielte Dominanz der Golfmonarchien auf dem Markt empfindlich zu schwächen. Mithilfe der Fracking-Technologie hatten es die USA geschafft, innerhalb weniger Jahre vom Netto-Importeur zum Exporteur von fast 10 Millionen Barrel Öl täglich zu werden – eine bemerkenswerte Leistung. Der derzeit laufende Preiskrieg Saudi-Arabiens gegen Russland und die USA ist nicht zuletzt dem Wunsch geschuldet, mit einer Flutung des Weltmarktes die Preise soweit zu drücken, bis die hochverschuldete und mit hohen Betriebskosten kämpfende Konkurrenz aus den USA die Segel streichen muss.
Saudi-Arabien ist trotz der gigantischen Einnahmen aus dem Ölgeschäft in den vergangenen Jahren in eine wirtschaftlich schwierige Situation gerutscht. Ein schwaches Wirtschaftswachstum, Fehlinvestitionen in Milliardenhöhe, teure Kriege (etwa im Nachbarland Jemen) und nicht zuletzt das extrem verschwenderische Leben der mehrere tausend Mitglieder starken Königsfamilie haben den Haushalt dermaßen strapaziert, dass das Land vor einigen Jahren erstmals Schulden an den internationalen Anleihemärkten aufnehmen musste. Der Börsengang von 1,5 Prozent von Aramco brachte umgerechnet rund 23 Milliarden dringend benötigter Euro ein, um die wachsenden Löcher im Staatshaushalt zu stopfen.
„Die Möglichkeit, dass Saudi-Arabien eine Schuldnernation wird, ist real“, schreibt das Middle East Eye. „Saudi-Arabiens finanzieller Abstieg läuft schon eine ganze Zeit. Als Mohammeds Vater Salman am 23. Januar 2015 an die Macht kam, beliefen sich die Devisenreserven auf 732 Milliarden Dollar. Im Dezember des vergangenen Jahres waren sie auf 499 Milliarden Dollar geschrumpft – ein Rückgang um 233 Milliarden Dollar in vier Jahren, wie die Saudi Arabian Monetary Authority sagt. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf im Königreich ist zwischen 2012 und 2018 von 25.243 Dollar auf 23.338 Dollar gesunken, wie aus Daten der Weltbank hervorgeht. Der Staatsschatz wurde rasch angetastet. Dem Internationalen Währungsfonds zufolge werden sich die Schulden dieses Jahr auf 19 Prozent der Wirtschaftsleistung belaufen, auf 27 Prozent im nächsten Jahr und – sollte die Corona-Pandemie und der Preiseinbruch bei Öl anhalten – auf rund 50 Prozent im Jahr 2022.“
Wie verheerend die Verschwendung von Ressourcen im Königreich sein muss, zeigt sich an zwei Zahlen. Während Saudi-Arabien ein Barrel Rohöl für rund 8 Dollar produzieren kann (und damit nur zu rund einem Drittel der Kosten wie die westliche Konkurrenz), braucht es einen Ölpreis von 85 Dollar pro Barrel, um den Break Even-Punkt für die Staatsfinanzen zu erreichen, um also überhaupt Geld zu verdienen. Russland beispielsweise verdient bereits ab einem Ölpreis von 40 Dollar pro Barrel netto Geld.
Kommt mit der „Green Economy“ das Ende?
Das Hauptrisiko für Aramco stellt mit Blick auf die Zukunft jedoch kein Konkurrent oder die Entwicklung der Marktpreise, sondern die oben bereits angesprochene Möglichkeit dar, dass viele Staaten im Zuge des „Kampfes gegen den Klimawandel“ den Ausstoß von Kohlenstoffdioxid und Stickoxiden verringern wollen oder müssen und zunehmend auf alternative, fossilarme Energiequellen zurückgreifen werden. Überhaupt – so die Wunschvorstellung bestimmter Kreise – sollte auch die Mobilität der Zukunft elektrisch sein.
An dieser Front droht Aramco, entgegen der meisten Vorhersagen, jedoch wahrscheinlich keine sonderlich große Gefahr. Denn die Weltwirtschaft wird noch auf viele Jahrzehnte hinaus große Mengen fossiler Energieträger wie Erdöl und Erdgas brauchen. Hierbei muss bedacht werden, dass Erdöl nicht nur in der Mobilität zu den unabdingbaren Grundstoffen gehört, sondern auch in Branchen wie der Chemie-, Pharma-, oder Bauwirtschaft, dem Maschinenbau, der Unterhaltungselektronik, der Kosmetik und der Konsumgüterindustrie. Allein die allgegenwärtigen Materialien Plastik, Kunststoffe und Gummies, mit dem ausgestattet oder in das verpackt heutzutage gefühlt jedes Produkt in den Handel gelangt, ist im Grunde ein Produkt der Petroindustrie, in zahlreichen Kosmetikprodukten finden sich entsprechende Öle und das Innenleben zahlreicher Maschinen und technischer Geräte könnte ohne Kunststoffverbindungen nicht funktionieren.
Auch zeichnet sich immer deutlicher ab, dass der von manchen Analysten erwartete und förmlich herbeigeschriebene Durchbruch der Elektromobilität so nicht kommen wird. Die elektrischen Antriebssysteme sind aus zahlreichen Gründen heute noch immer nicht in der Lage, als echte Alternative zu den fossil betriebenen Verbrennungsmotoren in Autos mitzuhalten. Mit der mangelhaften Reichweite, komplizierter Lieferketten für die Batterien und der nicht existenten Lade-Infrastruktur beziehungsweise der teilweise absurd langen Ladezeiten seien nur vier Gründe dafür genannt, warum die E-Mobilität auf mittlere Sicht ein Nischenmarkt bleiben wird.
Besonders offensichtlich wird dieser Nachteil gegenüber Verbrennungsmotoren bei Lastwagen, Flugzeugen und in der Schifffahrt. Kein LKW kann mit den heute verfügbaren Batterien wirtschaftlich angetrieben werden, geschweige denn große Passagierflugzeuge und Containerfrachter, welche Personen oder Waren nach Übersee transportieren müssen. Ein absurdes Beispiel aus Berlin zeigt überdies, dass auch Busse heute noch nicht elektrisch fahren können beziehungsweise nur unter Inkaufnahme von massiven Leistungsverlusten.
Der Internationalen Energieagentur zufolge ist das Ölzeitalter aus den genannten Gründen deshalb noch lange nicht vorbei. Selbst wenn es zu einem Boom bei Elektroautos auf Kosten von Diesel- oder Benzinfahrzeugen kommen sollte, werde die weltweite Nachfrage nach Rohöl weiter steigen. Einzig die Wachstumsraten dürften nicht mehr so hoch wie in der Vergangenheit ausfallen, schrieb die Organisation in einer Ende 2017 erschienenen Studie. Anders ausgedrückt: Selbst wenn der Privatverkehr innerhalb weniger Jahre weltweit komplett auf den E-Antrieb umgestellt würde, sorgten Branchen wie Pharma, Technologie und Maschinenbau noch immer für eine hohe Nachfrage nach Rohöl und dessen Derivateprodukten.
Einer unter Vielen oder weiterhin an der Spitze?
Eine ganze Reihe von Faktoren wird also darüber entscheiden, ob Saudi Aramco in den kommenden Jahrzehnten in der Bedeutungslosigkeit versinken wird oder seine Position als Größter unter den Großen wird festigen können. Einige dieser Faktoren sind externer Natur: Sollten etwa fossile Antriebe tatsächlich bald der Vergangenheit angehören, dann würde Aramco zusammen mit der ganzen Branche ein Randdasein führen oder sich neu erfinden müssen. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass Volkswirtschaften auf der ganzen Welt noch lange Öl und Gas brauchen werden, um ihre Infrastrukturen anzutreiben – zumal Staaten, die aus Jahrhunderten der Armut in den Wohlstand aufzusteigen versuchen, sich in erster Linie um das wirtschaftliche Fortkommen sorgen, und erst dann um den „Klimaschutz“. Die Tatsache, dass Erdöl auch in vielen anderen Branchen als Bestandteil der Produktion gebraucht wird, verschafft dem Ölgeschäft noch auf Jahrzehnte hinaus ein weiteres, wichtiges Standbein. Derzeit sieht es also so aus, dass Aramco auf unabsehbare Zeit der König der Ölbranche bleiben wird – es stellt sich vermutlich eher die Frage, ob diese Ölbranche weltweit an Bedeutung verlieren wird, oder nicht?