Politik

Widerstand der erstarkten Niederlande gegen geplanten EU-Aufbaufonds ist Heuchelei

Lesezeit: 4 min
12.07.2020 11:00
Der niederländische Premier Mark Rutte stellt sich derzeit quer und droht, das geplante 750 Milliarden Euro schwere Konjunkturprogramm der EU noch zu stoppen. Doch bei seinen Forderungen nach mehr Sparsamkeit ist auch Heuchelei im Spiel.
Widerstand der erstarkten Niederlande gegen geplanten EU-Aufbaufonds ist Heuchelei
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Mark Rutte, Ministerpräsident der Niederlande, am Donnerstag bei einer Pressekonferenz vor ihrem Gespräch im Bundeskanzleramt. (Foto: dpa)

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Die 27 EU-Staats- und Regierungschefs wollen am Freitag, den 17. Juli in Brüssel versuchen, eine Einigung über die EU-Finanzen bis 2027 und vor allem über den geplanten 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds zu finden. Insgesamt geht es in den Verhandlungen um ein Volumen von insgesamt rund 1,7 Milliarden Euro. Am Ende müssen auch die nationalen Parlamente einem Kompromiss zustimmen.

Im Vorfeld des EU-Gipfels bemühen sich die führenden Politiker Europas darum, mit Mark Rutte zu sprechen. Denn bisher steht der niederländische Ministerpräsident von der bürgerlich-liberalen VVD der geplanten Einigung noch im Wege. In den vergangenen zwei Wochen besuchten ihn bereits der französische Präsident Emmanuel Macron und der Chef des EU-Rats Charles Michel.

Am Donnerstag kam Rutte nun auch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel in Berlin zusammen. Es war das bisher wichtigste Treffen des niederländischen Ministerpräsidenten im Vorfeld des EU-Gipfels Ende kommender Woche. Merkel und Rutte forderten, dass Finanzhilfen aus dem geplanten EU-Aufbaufonds an Reformen zu knüpfen.

"Trotz aller wirtschaftlichen Einbrüche helfen Hilfen, die nicht verbunden sind mit Reformen und Veränderungen und Ausrichtung auf die Zukunft, nicht", fügte Merkel in Anspielung auf die Forderung von südeuropäischen EU-Ländern hinzu, Geld ohne Reformauflagen zu erhalten. Die Welt schlafe nicht, so die Bundeskanzlerin.

Auch Rutte bekannte sich zu dem Aufbaufonds für besonders von der Corona-Krise betroffene EU-Staaten. "Aber es ist auch wichtig, dass ein solcher Fonds zusammen mit Reformen durchgeführt wird, damit alle EU-Staaten stark sind", sagte er. Man müsse anderen helfen, damit eine solche Hilfe bei der nächsten Krise nicht mehr nötig sei.

Anschließend an Ruttes Treffen mit Merkel werden in der kommenden Woche auch der Italiener Giuseppe Conte, der Spanier Pedro Sánchez und der Portugiese António Costa nach Den Haag reisen, um dem Niederländer das geplante Konjunkturprogramm schmackhaft zu machen, mit dem die angeschlagene europäische Wirtschaft wiederbelebt werden soll.

"Die Niederländer waren schon immer schwierig in den EU-Haushaltsverhandlungen, aber jetzt hat man das Gefühl, dass sie wirklich über ihr Gewicht hinausschlagen", zitiert die Financial Times Catherine De Vries, Professorin für Politikwissenschaft an der Bocconi-Universität. "Die Prozession der EU-Staats- und Regierungschefs zu Rutte zeigt den niederländischen Wählern, dass er für ihre nationalen Interessen kämpft.

Mit dem Brexit sind die Niederlande zum lautstärksten Fürsprecher innerhalb der EU für einen kleineren gemeinsamen Haushalt und eine weitere Liberalisierung des Binnenmarkts aufgestiegen. Rutte ist zum informellen Chef der sogenannten "sparsamen Vier" innerhalb der EU aufgestiegen. Dies sind Schweden, die Niederlande, Dänemark und Österreich.

Zudem haben Rutte und sein konservativer Finanzminister Wopke Hoekstra die sogenannte "Hanseatische Liga" auf den Weg gebracht. Dies ist ein Bündnis nördlicher Staaten, die als fiskalisch streng gelten und die im vergangenen Jahr die von Frankreich vorangetriebenen Pläne für einen Eurozonen-Haushalt erfolgreich gestoppt haben.

Und nun stehen die Niederlande einem weiteren bahnbrechenden Vorschlag im Wege, dass nämlich die EU Zuschüsse in Höhe von vielen Milliarden Euro an die von der Pandemie betroffenen Staaten verteilen soll. Der Plan wird von fast allen Staaten unterstützt - auch von Deutschland. Doch die FT zitiert einen niederländischen Diplomaten mit den Worten: "Wir hassen den Plan einfach."

Rutte und die "sparsamen Vier" - bestehend aus den Niederlanden, Österreich, Schweden und Dänemark - sind bisher gegen den deutsch-französischen Vorschlag, 500 Milliarden Euro als Zuschüsse an besonders betroffene EU-Staaten zu zahlen. Sie plädieren für Kredite oder zumindest eine klare Konditionierung der Hilfen.

Die Niederlande fordern, dass die Empfängerländer umfassende Wirtschaftsreformen in ihren Arbeits-, Steuer- und Rentensystemen durchführen, um ihre Wirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen. Rutte möchte, dass Geldtranchen erst dann freigegeben werden, wenn die Regierungen ihre Reformversprechen erfüllen, und dass das Geld bei Nichteinhaltung zurückgehalten werden kann.

Der griechische Premierminister Kyriakos Mitsotakis sagte diese Woche, eine strikte Konditionalität sei "politisch inakzeptabel" und vergleichbar mit der Überwachung durch die Troika aus EU, EZB und IWF im Zusammenhang mit der Griechenlandrettung. Der spanische Präsident Sanchez sagte, es sei "nicht der richtige Zeitpunkt", das Geld aus der Rettungsaktion mit "einer anderen Politik" zu vermischen.

Die demokratischen Bedenken der Niederlande hinsichtlich der Verwaltung des Aufbaufonds werden von einer breiteren Gruppe von Ländern geteilt. Die Länder wollen, dass die Mitgliedsstaaten kollektiv mitbestimmen können, wie jede Regierung das Geld auszugeben gedenkt. Aber es ist Rutte, der während der Verhandlungen die meiste Aufmerksamkeit und Schmach auf sich gezogen hat.

"Die Niederländer haben sich nie darum gekümmert, dass sie bei diesen Gesprächen einen schönen Eindruck machen. Sie kommen nach Brüssel, um ihre nationalen Interessen zu verteidigen", zitiert die Financial Times einen EU-Diplomaten. "Sie irritieren viele, weil ihre Unverblümtheit als Arroganz angesehen werden kann."

Ein hochrangiger Diplomat sagte, dass Frankreichs Präsident Macron bei seinem Abendessen mit Rutte Ende Juni in Den Haag erstaunt darüber war, wie der niederländische Staatschef ihn zu seinen Plänen befragte, die umstrittenen Arbeitsmarkt- und Rentenreformen in Frankreich fortzusetzen. "Dies ist die logische Konsequenz dessen, was der Aufbaufonds bedeutet", so der Diplomat.

Niederländische Politiker sagen, dass das tiefe Misstrauen ihres Landes, wenn es um die Finanzierung der EU-Ausgaben geht, auf jahrelanges wachsendes Misstrauen zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der Eurozone zurückzuführen ist, was die Spielregeln für die Teilung von Risiken betrifft.

Ruttes Umgang mit der Pandemie und sein hartnäckiger Widerstand gegen den Aufbaufonds hat ihm zu Hause Lob eingebracht. Seine regierende bürgerlich-liberale VVD erfreut sich seit mehr als drei Jahren der höchsten Beliebtheit. Ruttes Koalition verfügt im Parlament in Den Haag nur über eine sehr knappe Mehrheit, wird die Wahlen im kommenden März aber wohl deutlich gewinnen.

Rutte war Premierminister während der verschiedenen Rettungsprogramme für Griechenland in den Jahren 2010 bis 2015. Trotz heftigem Widerstand im niederländischen Parlament gab Ruttes Regierung schließlich nach und bewilligte die Kredite für Griechenland. "Die griechische Krise hätte seine Regierung beinahe zu Fall gebracht", sagte ein nationaler Beamter.

Die Position von Rutte wie auch des früheren Eurogruppen-Chefs und niederländischen Finanzministers Jeroen Dijsselbloem verdeckt eine tief sitzende Doppelmoral niederländischer Spitzenpolitiker. Die Niederlande sind ein internationaler Steuerflucht-Standort erster Güte, wo sich ausländische und international tätige Unternehmen (Apple) praktisch eine Steuerbefreiung kaufen können. Besonders viele Unternehmen aus Portugal, Griechenland oder Italien (FCA) haben diesen Weg erfolgreich beschritten.

Das lautstarke Auftreten niederländischer Spitzenpolitiker gilt nicht nur der Sorge um das Ausgabengebaren von Peripherieländern. Es verdeckt auch die aktive Sabotage, welche die Niederland mit ihrem Steuer-Geschäftsmodell an den Steuereinnahmen und damit den Staatsfinanzen anderer europäischer Länder ausüben.


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