Weltwirtschaft

Warum die Supermacht USA zum Hauptopfer der Corona-Pandemie geworden ist

Lesezeit: 12 min
09.08.2020 08:43  Aktualisiert: 09.08.2020 08:43
In den USA wütet die Corona-Pandemie wie in keinem anderen Land der Welt. Sogar die armen Länder sind vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Michael Bernegger erklärt, warum die noch immer einzige unangefochtene Supermacht des Planeten scheitert.
Warum die Supermacht USA zum Hauptopfer der Corona-Pandemie geworden ist
Washington: Anthony Fauci, Direktor des US-National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID), wird vor seiner Anhörung im Corona-Ausschuss des US-Repräsentantenhauses vereidigt.(Foto: dpa)

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In den Medien wird täglich über die Pandemie in den USA berichtet, wohl mehr als über irgendein anderes Land. Doch schon die einfachsten Fakten werden kaum erwähnt, obwohl sie eigentlich den Schlüssel für das Verständnis der Pandemie-Problematik beinhalten. Die Vereinigten Staaten sind, zusammen mit einer Reihe größerer Schwellenländer außerhalb Chinas, der globale Hotspot der Pandemie.

Zunächst ist es schlicht eine Sensation, dass die USA ein gravierendes Coronavirus-Problem haben. Doch die Pandemie in den USA hat eine ganz andere Qualität und einen anderen Charakter als in den Schwellenländern. Die Bedingungen für eine erfolgreiche Prävention und Bekämpfung der Pandemie sind in Schwellenländern schlechter oder sogar miserabel, und in den Vereinigten Staaten an sich hervorragend.

  • Es gibt sauberes Wasser und Abwasser-Beseitigung, was in Schwellenländer vor allem in den Armenquartieren, Slums und den gigantischen Agglomerationen der viel zu rasch gewachsenen Metropolen nicht gegeben ist. Damit sind Hygiene-Maßnahmen, welche zur Prävention zentral sind, in den USA leicht und in Schwellenländern schwierig oder nicht zu realisieren.
  • Von der Wohn- und Lebenssituation her sind für viele Einwohner in Schwellenländer Maßnahmen zur sozialen Distanzierung unmöglich. Das ist in den Vereinigten Staaten nicht der Fall. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in freistehenden Einfamilienhäusern von einer Größe, von welcher Europäer nur träumen können. Der Transport findet in Autos und nicht über den öffentlichen Verkehr, im Zug, in U- und S-Bahnen oder in überfüllten Bussen statt.
  • Schließlich haben die Vereinigten Staaten das mit Abstand teuerste Gesundheitswesen der Welt. Es verschlingt jährlich nicht weniger als 17 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und liegt damit weit von den Größenordnungen anderer Länder entfernt. Die Schweiz hat das zweitteuerste System der Welt, und die Gesundheitsausgaben liegen dort bei rund 12 Prozent des BIP. Alle anderen Länder liegen tiefer, meist unter und zum Teil wesentlich unter 10 Prozent des BIP. Bei Schwellenländern betragen sie nicht selten zwischen zwei und vier Prozent des BIP, und es gibt keine allgemeine Krankenversicherung. Zudem spielen die Vereinigten Staaten von der Bevölkerungsgröße und von der Wirtschaftskraft ( Pro-Kopf-Einkommen) her schlicht in einer anderen Liga als die anderen fortgeschrittenen Industrieländer. Nicht nur das Gesundheitswesen als Ganzes, sondern spezifisch die Prävention und Bekämpfung von Infektionskrankheiten galten bis vor Kurzem als absolute Spitzenklasse. Das amerikanische Center of Disease Control (kurz CDC) galt als der internationale Referenzpunkt für Forschung und Praxis der Infektions-Bekämpfung.

Was ist schief gelaufen? Die Erklärung in den Massenmedien ist einfach und scheint einleuchtend: Präsident Trump und seine Administration haben es vergeigt. In Europa nickt jeder - bis auf einige militante Trump-Fans - sofort ab, dass dies die korrekte Erklärung darstellt. Nun, die Aussage, dass Präsident Trump respektive seine Administration versagt haben, ist nicht falsch. Das Ausmaß des Debakels ihm allein anzulasten allerdings verkennt die Größenordnungen und komplexeren Tatbestände bei weitem. In diesem ersten Teil des Artikels präsentieren wir eine Standards-Sichtweise, wie sie in jeder Fach-Zeitschrift etwa dargestellt würde. Sie ist nicht falsch, aber unvollständig. Im zweiten Teil gehen wir auf die tieferen, weniger offensichtlichen und in den Medien üblicherweise nicht diskutierten Gründe ein.

Tests in den USA: Ein Trauerspiel ohne Ende

Eine Schlüsselrolle bei der bei der Prävention und Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie kommt dem Testen zu. Warum? Das Coronavirus ist hoch ansteckend, vor allem in der zweiten Form (G-Stamm), die sich offenbar weltweit durchgesetzt hat. Die Pandemie wird durch grobe und und offenbar auch durch feinste Tröpfchen (Aerosole) übertragen. Viele der Angesteckten bleiben aber ohne Symptome, zunächst bis zum Ausbruch der Krankheit (Inkubationsphase) oder auch dauerhaft. Vor allem in dieser Inkubationsphase vor dem Ausbruch der Krankheit können Träger leicht andere Personen infizieren. Ohne adäquate und zeitlich rasch verfügbare Tests ist es unmöglich, Infizierte noch ohne Symptome frühzeitig zu identifizieren, sie zu isolieren und ihre Kontakte zu verfolgen und diese ebenfalls zu isolieren.

Einer der wichtigsten Gründe für die Misere in den USA ist mit der Test-Situation verbunden und wird es auf absehbare Zeit auch bleiben. Kurz zusammengefasst sind dies die wichtigsten Stationen und Inhalte:

  • Die amerikanische CDC wollte im Januar bis März 2020 einen eigenen Coronavirus-Test entwickeln. Die CDC wollte mit anderen Worten in einer akuten Krise einen langfristig vielleicht wünschbaren eigenen, aber nicht den raschmöglichst verfügbaren Test spezifizieren. Die CDC scheiterte mit ihrem ambitionierten Vorhaben, wobei eine Vielzahl von Faktoren inklusive Verunreinigungen der Tests schief liefen. Die CDC hinterließ ein komplettes Vakuum, dadurch dass sie zusätzlich für andere Test-Anbieter kein allgemein verbindliches Protokoll veröffentlicht und empfohlen hatte.
  • Ganz anders im Vergleich die Praxis anderer Länder. Einer der weltweit ersten zuverlässigen Tests wurde von Virologen der Berliner Charité entwickelt und rasch vom Robert-Koch Institut und daraufhin von der WHO als Standard anerkannt. Dadurch konnten ihn viele andere Länder übernehmen, ohne eigene Entwicklungs-Anstrengungen leisten zu müssen. Deutschland profitierte von dieser Test-Innovation, die vom Robert-Koch Institut umgehend zum Standard für Deutschland erklärt worden war, so dass die einheimische Industrie rasch große Mengen von Test-Sets bereitstellen konnte. Das Vorgehen Deutschlands und im Gefolge davon anderer Länder war also, auf einen einheitlichen, robusten, dadurch standardisierten und vor allem industriell rasch skalierbaren Test abzustellen. Deutschland und sein Gesundheitswesen profitierten vom Erfolg seiner Virologen, dem raschen und entschiedenen Vorgehen der Behörde (das Robert-Koch Institut ist das Pendant zum amerikanischen CDC) und der guten Koordination mit seiner spezialisierten Pharma- und chemischen Industrie vor allem dadurch, dass frühzeitig - früher als in anderen Ländern - genügend Testsets bereit standen. Das dürfte der eine Grund für die Tatsache darstellen, dass Deutschland bisher relativ glimpflich durch die Pandemie gekommen ist.
  • Im März standen die USA praktisch ohne Test-Kapazität da, und viele amerikanische Labore, Institute und Diagnostik-Hersteller entwickelten notgedrungen eigene Tests ohne Koordination und Vorgaben der CDC und zusätzlich zunächst ohne Überprüfung und Zustimmung der Federal Drug Agency (FDA). Die CDC wollte umgekehrt die WHO-Empfehlung und indirekt den von deutschen Virologen entwickelten und von der deutschen Großindustrie rasch aufgenommenen Test keinesfalls zum Standard machen, dies aus industriepolitischen Gründen. Die ganze Strategie des CDC war nicht nur von einer für das Gesundheitswesen optimalen, pragmatischen Lösung inspiriert, sondern darauf ausgerichtet, der amerikanischen Biotech-, Chemie-, Pharma- und Medizinal-Technik einen zusätzlichen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen.
  • Das hatte kurz- und mittelfristig bis heute und hat wahrscheinlich für den Rest des Jahres und darüber hinaus längerfristige Konsequenzen: Die Behörden, Spitäler, Labore, Ärzte und Altersheime und andere Institutionen verfügten zunächst über keine und lange Zeit über viel zu wenig Testsets, als die erste Welle der Pandemie im März und April vor allem über die Bundesstaaten im Nordosten der Vereinigten Staaten hereinbrach. Die Folge davon war, dass hauptsächlich Personen getestet werden konnten, welche aufgrund von Symptomen fast sicher als Covid-19 Infizierte gelten mussten. Da viele der 150 verschiedenen Tests zudem wie zunächst in China unzuverlässig waren, wurden viele falsche negative und zum Teil auch positive Befunde gemeldet. Von daher war die Eindämmung der Pandemie viel schwieriger als anderswo. Nur der Lockdown erlaubte dies.
  • Die Vielfalt an Tests unterschiedlicher Standards hatte eine weitere negative Folgeerscheinung. Die Labors konnten und können mangels Standardisierung die Tests nicht zeitig verarbeiten. Es dauert Tage, im Durchschnitt ungefähr eine Woche und teilweise bis zu drei Wochen, bis die Resultate von vorgenommenen Tests vorliegen. In Deutschland als Vergleich liegt das Testresultat innert weniger und spätestens innert 24 Stunden vor. Solche langen Verarbeitungs-Fristen machen die Tests für gesundheitspolitische Zwecke weitgehend unbrauchbar. Denn wird jemand, der infiziert, aber noch keine Symptome zeigt, erst nach einer, zwei oder drei Wochen als positiv getestet erkannt, hat er in der Zwischenzeit potentiell schon andere Personen angesteckt. Oder er war zum Zeitpunkt des Tests infiziert, ist inzwischen aber nicht mehr infektiös für andere Personen. Eine Nachverfolgung und Isolation / Quarantäne der Betroffenen ist dann nicht mehr möglich oder sinnvoll.
  • Die Kapazitätsengpässe bei den Labors aufgrund mangelnder Standardisierung und zentraler Führung sind nicht nur gegenwärtig, sondern vor allem auch im Hinblick auf den Herbst und Winter eine Bürde. Der CEO des größten Labor-Betreibers Quest in den USA äußerte sich dahingehend, dass die Kapazität niemals genügend für die Grippe-Saison angehoben werden könne. Das wäre aber wichtig, weil in diesem Zeitraum sehr viele Personen auch gleichzeitig eine Erkältung oder die Grippe mit ähnlichen Symptomen wie Covid-19 haben werden, und von daher ein erheblicher zusätzlicher Bedarf nach Tests besteht. Über das ganze Jahr 2020 hinweg werden also in den USA weder quantitativ genügende noch qualitativ zuverlässige und erst recht nicht zeitlich rasch vorliegende Tests zur Verfügung stehen, dies mitten in der massiv sich im ganzen Land ausbreitenden Pandemie.
  • Einer der Gründe für die unzureichende Test-Kapazität sind die Finanzierungs-Engpässe der Tests. Die zumeist privaten Labor-Betreiber müssen die Investitionen in zusätzliche Kapazität übernehmen, können sie aber nicht sicher verrechnen. Die Trump-Administration hat mit der Finanzierung von Tests und Labor-Kapazität immer gegeizt. Noch Ende Juli wollte Präsident Trump die Gelder für Tests kürzen, weil sie nur höhere Fallzahlen anzeigen würden. Darin kommt trefflich zum Ausdruck, dass der Präsident die Bedeutung des Testens für eine gesundheitspolitische Strategie nicht verstanden hat oder verstehen wollte.
  • Die Folgen sind schwerwiegend und weitreichend. Die USA haben eine stark infizierte Bevölkerung. Gemäß den offiziellen Daten sind es heute rund 5 Millionen Personen, dies bei einer Bevölkerung von rund 330 Millionen Einwohnern. Das wären rund 1.5 Prozent der Bevölkerung, schlecht, aber nicht schlimm. Doch die Realität ist eine andere: In einem Artikel haben Forscher der CDC aufgrund von Antibody-Tests in 10 Bundesstaaten dargestellt, dass die effektive Infektionsrate in den Monaten März bis Mai rund 10 mal höher als durch Tests ausgewiesen war. Zum Ende des Studienzeitraums am 21. Mai lag die totale Anzahl Infizierter bei rund 1.6 Millionen, also reden wir für diesen Zeitraum von rund 15-16 Millionen Infizierten zum damaligen Zeitraum. Damit wären wir bei rund 5 Prozent der Bevölkerung. Heute dürften dies substantiell mehr sein, wobei seither die Zahl der Tests natürlich deutlich erhöht worden ist. Denn von Ende Mai an sind die Fallzahlen der Neuinfektionen geradezu explodiert.
  • Nicht nur die Zahl der Infizierten und der Toten ist in den USA substantiell. Außergewöhnlich ist im internationalen Vergleich die Breite der Infektionszahlen. In den meisten Ländern sind die Infizierten bisher auf Hotspots konzentriert, zumeist auf Großstädte respektive deren Agglomerationen. Daneben gibt es weite Gebiete, die deutliche niedrigere Fallzahlen aufweisen. Nicht so in den USA: Mit der Ausnahme von etwa 10 bevölkerungsmäßig kleinen Bundesstaaten wie Hawaii, Alaska, Vermont sind alle Bundesstaaten - inklusive ländliche - nur schon in den offiziellen Zahlen von einer sehr hohen Dichte der totalen und vor allem der Neu-Infektionen gekennzeichnet. Aktuell sind nur die Zahlen der Neuinfektionen in den nordöstlichen Bundesstaaten niedrig, dies aufgrund der langen Lockdowns. Darüber hinaus sind die Infektionszahlen in den meisten Bundesstaaten seit Ende Mai stark angestiegen. Zusätzlich ist die Quote positiver Tests in vielen, vor allem den bevölkerungsreichen Bundesstaaten wie Florida, Texas, Kalifornien angestiegen. Die USA sind als praktisch einziges der Industrie-Länder von einer fast flächendeckenden ‚community transmission’ betroffen. Das ist nicht die gleiche Situation, wie wenn eine Stadt oder Region betroffen ist und isoliert werden kann. Auf den Herbst / Winter hin dürften die USA deshalb wahrscheinlich vor einem weiteren Anstieg der Infektionszahlen stehen.

Einen Eindruck von der geographischen Verbreitung der Neuinfektionen gibt die folgende Graphik der einzelnen Bundesstaaten in den USA, die als Hotspots (rot) bezeichnet werden können. Zu den Kriterien gehören, dass im Mittel der vergangen Woche die tägliche Zahl der Neuinfektionen mehr als 100 Personen pro Million Einwohner beträgt. Für Deutschland als Vergleich (mehr als 80 Millionen Einwohner) wären das täglich über 8000 Neuinfektionen.

Graphik: USA-Bundesstaaten mit Coronavirus-Hotspots (rot)

Quelle: Johns-Hopkins Universität, Kaiser Family Foundation

Warum sind ausgerechnet die USA ein Hotspot der globalen Pandemie? - Ein erster Erklärungsversuch

Der folgende Erklärungsversuch nimmt die wesentlichen Elemente auf, die von Virologen, Epidemiologen und Spezialisten üblicherweise genannt werden.

  • Nach dem Amtsantritt des Präsidenten ordnete dieser ein Sparprogramm für Bundesausgaben an, essentiell um den Ausbau der Rüstungsausgaben und Steuerkürzungen für Unternehmen und Reiche gegenzufinanzieren. Darunter leiden auch die Ausgaben für das CDC und für andere Bereiche des Gesundheitswesens auf Bundesebene, die zusammengestutzt wurden. Die ganze Pandemie-Bekämpfungs-Einheit in der CDC, die in der Amtszeit von Präsident Obama auf- und ausgebaut worden war, wurde 2017 aufgelöst und sämtliche zumeist hochqualifizierten Mitarbeiter entlassen. Ferner hat die neue Administration im CDC wie in anderen Bereichen die Schwerpunkte bei der Besetzung der Spitzenpositionen völlig neu gesetzt. Sie entscheidet sich für eine prioritär industriepolitische Besetzung durch Lobbyisten aus interessierten Branchen. Der Pharma-Manager Alex Azar wurde Gesundheits-Minister, der bis Ende Februar die Coronavirus-Arbeitsgruppe leitete, und dem auch das CDC unterstellt ist. Das Gesundheits-Ministerium und die wichtigste Institution für eine Pandemie-Bekämpfung, das CDC, wurden so massiv geschwächt, das ist der Administration Trump anzulasten. Sie hat mit ihrer Umschichtung der Mittel in die Rüstung die Sicherheit des Landes nicht nur nicht erhöht, sondern fatal geschwächt. Und sie hat eine Fehlbesetzung an der Spitze der Gesundheitspolitik vollzogen, die sich fatal auf alle Entscheide in der Frühphase der Pandemie auswirkte. Die Demontage des CDC geht unterdessen weiter. Eine zentrale Funktion des CDC war die Sammlung und zentrale Aufbereitung der Daten, aller Daten des Gesundheitswesens. Dieses wurde nun für die Coronavirus-Pandemie einem privaten Kontraktor übertragen, der für das Ministerium für Gesundheitspflege und soziale Dienste (HHS) arbeitet. Ebenfalls wurde angeordnet, dass zukünftige Coronavirus-Impfstoffe nicht wie in der Vergangenheit für alle Impfstoffe üblich vom CDC, sondern vom Verteidigungs-Ministerium verteilt werden sollen.
  • Nach dem Ausbruch der Epidemie in China ordnete der Präsident am 31. Januar 2020 ein Einreiseverbot aus China und etwas später, am 12. März, ein Einreiseverbot aus Europa an. Er hält sich damit nicht an die Vorgaben der WHO, welche explizit gegen Einreisesperren aus China gewarnt hat. Die Einreisesperren gegenüber Europa begründet er damit, dass die Europäische Union keine genügenden Schritte gegenüber China und bei der Coronavirus-Epidemie ergriffen hat. Verglichen mit der Reaktionsweise der Europäischen Union oder Deutschlands ein frühes, entschlossenes, im Rückblick zu 100 Prozent korrektes Vorgehen, zudem mit der richtigen Begründung.
  • Abgesehen von den Einreise-Beschränkungen waren die Vorbereitungen für eine Epidemie mangelhaft oder geradezu inexistent, etwa so wie vielenorts in Europa. Keine Beschaffung von Masken, Schutzkleidungen, Beatmungsgeräten, nichts, völlige Passivität, nur Vertrauen auf ‚das beste Gesundheitswesen der Welt‘ (sic, Präsident Trump). Es ist immer schwierig, hinter die Kulissen einer Administration zu sehen und die Entscheidungs-Abläufe korrekt zu erfassen. Die in den Medien veröffentlichten Hintergrund-Berichte behaupten, der Präsident sei innerhalb der Administration von verschiedenster Seite, wiederholt und eindringlich gewarnt worden, und habe diese Warnungen in den Wind geschlagen.
  • Am 17. März 2020 verhängte der amerikanische Präsident, der vorher das Virus öffentlich verharmlost und die USA als einmalig gut präpariert dargestellt hatte, den Notstand, zunächst begrenzt auf 14 Tage. Zeitlich ungefähr gleich wie die meisten Länder in Europa. Keineswegs einen Monat später oder viel später in der Entwicklung der Pandemie. Die Reaktionsweise war also plus minus identisch wie in Europa. Nur hatte der Präsident sich vorher in einer dümmlichen Weise exponiert, während andere Regierungschefs einfach geschwiegen hatten. Seine Glaubwürdigkeit als Gesundheitspolitiker war von diesem Zeitpunkt an bereits angeschlagen. Die Verhängung des Notstandes war das Zeichen, das nachher viele Gouverneure der Bundesstaaten dazu bewog und ermächtigte, einen Lockdown über ihren Bundesstaat zu verhängen. Der Notstand wurde bis Ende April verlängert.
  • Die sehr hohen Todesfall-Zahlen in den nordöstlichen Bundesstaaten können nicht einfach integral dem Präsidenten oder der Administration angelastet werden. Eine wesentliche Verantwortung kommt auch den Gouverneuren der Bundesstaaten und den lokalen Behörden und Entscheidungsträgern zu. Genau wie in Norditalien wurden Personen mit schweren Symptomen mangels Bettenkapazität in Spitälern auch in der Stadt New York (zuständig Bürgermeister De Blasio) und anderswo in die Altersheime verlegt, mit dem Effekt, dass dort die Pandemie ein ergiebiges Umfeld mit rasch explodierenden Todesfällen vorfand. Genau wie in Norditalien waren die Todesfälle in den nordöstlichen Bundesstaaten besonders auf die Altersheime konzentriert. Auch hier besteht ein wesentlicher Unterschied zu Deutschland. In Deutschland wurden die Altersheime frühzeitig als Risikogebiete identifiziert und isoliert. Da die Bettenzahl in den Spitälern ausreichte, gab es auch keinen verzweifelten Bedarf nach zusätzlichen Betten in Altersheimen. Das ist der zweite Grund, weshalb Deutschland bisher glimpflich davon gekommen ist.
  • Die extrem hohen Todesfall-Zahlen und -quoten pro Million Einwohnern in den nordöstlichen Bundesstaaten wie New York, New Jersey, Massachusetts, Connecticut oder Rhode Island sind von den höchsten weltweit. Sie hatten zur Folge, dass die Medien und die Publikumsreaktion gegenüber Covid-19 in den USA besonders angstgetrieben sind. Die Rhetorik des Präsidenten, die gesundheitlichen Effekte des Pandemie zu bagatellisieren, machte die Einstellung gegenüber der Politik des Präsidenten kritisch. Besonders ausgesprochen auch bei älteren Personen und damit teilweise bei einer Kernwählerschaft der Republikaner.
  • Was den Kurs in den USA fundamental von anderen fortgeschrittenen Industrieländern wie in Europa unterscheidet und ähnlich demjenigen in Schwellenländer macht, war die verfrühte, überstürzte und unkoordinierte Öffnung noch mitten in der ersten Phase der Pandemie. In den USA spielen der Wahlkampf und die Präsidentschaftswahlen eine ausschlaggebende Rolle, dies bei der Erklärung der Reaktionsweise und der politischen Handlungen des Präsidenten. Dabei bewies dieser eine unglaubliche politische Instinktlosigkeit. Er hat bis heute nicht begriffen, dass die Pandemie ein ‚game-changer‘ darstellt und vorherige Zielsetzungen oder Kriterien wie Arbeitsmarkt, Aktienmarkt nicht zweitrangig geworden sind, aber kurzfristig nicht mehr dominant sind.
  • Nach der Verhängung des Ausnahmezustandes stieg die Zustimmung zur Handlungsweise des Präsidenten bis zum 27. März auf einen Höchststand. Der Präsident wurde, nicht unüblich in Momenten nationaler Krisen, vorbehaltlos unterstützt. Doch der massive Wirtschaftseinbruch und der enorme Anstieg der Arbeitslosigkeit und Rückgang der Beschäftigung innert weniger Wochen veranlassten diesen Ende April wieder zu einem Kurswechsel. Er wollte im Wahljahr den Fokus auf die Erholung der Wirtschaft legen, und begann, die Demonstrationen zur Beendigung der von den Gouverneuren veranlassten Lockdowns anzufeuern. Er hob den Notstand auf, und übte Druck auf die (vorwiegend republikanischen) Gouverneure aus, dies in ihren Bundesstaaten gleichzutun. Er setzte sich dabei über die Empfehlungen der CDC hinweg, welche einen Rückgang der Fallzahlen über eine längere Periode als Voraussetzung einer Lockerung dargestellt hatte. Andere, sophistiziertere Kriterien wie rasch verfügbare Tests, Möglichkeit der Kontakt-Verfolgung waren erst recht nicht gegeben.
  • Mit der Aufhebung des Notstandes kehrte der Präsident zu seiner Kommunikation zurück, das Virus und die Pandemie zu verharmlosen. Er behauptete, höchstens ein Prozent der Bevölkerung seien negativ betroffen. Der Präsident bewies damit nicht nur eine eindrückliche Verachtung für die Schicksale von exponierten Menschen, sondern vor allem einen eklatanten Mangel an politischer Intuition. Gerade für die wohlhabenden älteren Personen, die zu den Kernwählern der Republikaner gehören, sind Sorgen um Gesundheit zentrale Kriterien ihrer Wahlentscheidung. Dabei zählen nicht nur Todesfälle, sondern auch die Risiken bleibender gesundheitlicher Schäden. Mit der öffentlich zur Schau gestellten Verachtung für deren Sorgen und Ängste hat er Kernwähler misstrauisch gemacht oder sogar gegen sich aufgebracht.
  • Ein weiterer, generell gültiger Punkt betrifft die absolute Absenz einer nationalen oder nur schon national genügend koordinierten Pandemie-Politik. Der Präsident verzichtete aus eigenen Stücken auf Kompetenzen, die ihm aufgrund der Gesetze zustünden. Damit sind die Bundesstaats-, regionalen und städtischen Behörden weit überfordert, auch bei praktischen Belangen wie bei der Beschaffung von Tests, Schutzmaterial, der Formulierung einer Test- und Nachverfolgungs-Politik. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum es keine nationale Politik geben soll. Der ehemalige CDC-Direktor Tom Frieden hat ein vernichtendes Memorandum über die praktisch inexistente Rolle des CDC in der Coronavirus-Krise verfasst. Er legt den Akzent auf die fehlende zentrale Aufbereitung der Daten

Zusammengefasst lässt sich argumentieren, dass die Coronavirus-Pandemie in den Vereinigten Staaten aus einem Zusammenspiel verschiedener Faktoren resultiert:

  • Einem isolierten Vorgehen beim Testen, das sich in der Frühphase der Pandemie als katastrophal herausgestellt hat und nun weitere Folgewirkungen zeitigt
  • Einem Mangel an zentraler Planung und Koordination von Politiken, dies bis heute
  • Einer verfehlten Politik in den Bundesstaaten durch Gouverneure und lokale Entscheidungsträger
  • Einer verfrühten, schlecht vorbereiteten und unbegleiteten Lockerung des Notstandes, die vom Präsidenten vorangetrieben worden war, dies aus einem falschen politischen Wahlkalkül heraus
  • Es ist ein Führungsversagen beim Präsidenten, im Gesundheits-Ministerium, der CDC und bei Gouverneuren und örtlichen Entscheidungsträgern

Das ist die Standard-Sichtweise, wie sie in Fachartikeln, guten Überblicks-Artikeln und von wohl den meisten Fachleuten präsentiert werden, mit Abweichungen in einzelnen Punkten und teilweise anderen Schwergewichten. Doch sie ist unzureichend, und sie geht an zentralen Punkten vorbei. Denn diese Sichtweise ist auch eine eminent politische Abrechnung mit einem irrlichternd agierenden Präsidenten, die aber das Fehlverhalten anderer Akteure verschweigt und versteckt. Denn das extrem teure amerikanische Gesundheitssystem ist nicht nur weit davon entfernt, das beste der Welt zu sein. Es ist nicht viel zu teuer, darüber hinaus hoch ineffektiv und auch von Spezialinteressen gelenkt, anderen Interessen als der Gesundheit der Bevölkerung.


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