Politik

Einzelhandel schreibt Brandbrief an Merkel, erhebt schwere Vorwürfe gegen Scholz, kündigt Pleitewelle an

Lesezeit: 3 min
08.01.2021 17:59  Aktualisiert: 08.01.2021 17:59
Der deutsche Einzelhandel erhebt in einem Brandbrief schwere Vorwürfe gegen Bundeskanzerlerin Merkel und insbesondere Finanzminister Scholz. Dieser lasse die Branche sehenden Auges in den Untergang gleiten. Die von Scholz in jeder Fernsehansprache versprochenen Hilfen würden überhaupt nicht ausgezahlt, was desaströse Folgen haben werde.
Einzelhandel schreibt Brandbrief an Merkel, erhebt schwere Vorwürfe gegen Scholz, kündigt Pleitewelle an
Scholz und Merkel. (Foto: dpa)
Foto: Michael Kappeler

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Der Einzelhandel hat in Briefen an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) erneut auf eine drohende Pleitewelle in der Branche hingewiesen und schnellere, unbürokratische Corona-Hilfen des Staates gefordert. „Der Bundesfinanzminister kündigt vollmundig und ohne Unterlass Milliarden Staatshilfen an – ohne Wirkung für den Einzelhandel!“, heißt es in dem „Brandbrief“ des Handelsverbandes Deutschland mit Datum vom 7. Januar an Merkel, aus dem die FAZ zitiert. „Eindringlich bitten wir Sie darauf hinzuwirken, dass Vizekanzler Scholz für die Bundesregierung das Wort einlöst und die Finanzhilfen unkompliziert, schnell und auch tatsächlich im Handel ankommen.“

Im Brief an Scholz vom Vortag heißt es: „Wir haben Sie und die Bundesregierung schon mehrfach auf die desaströse Lage des Einzelhandels im Lockdown aufmerksam gemacht und um kurzfristige notwendige Nachbesserung bei den Wirtschaftshilfen gebeten. Dies scheint alles ungehört zu verklingen und uns wird zugetragen, dass Sie geradezu auf der „Bremse“ stehen. (...) Wir fordern Sie auf: Halten Sie Wort und sorgen Sie dafür, dass noch im Januar Unterstützungszahlungen im Einzelhandel ankommen!“

Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbandes Nord, Dierk Böckenholt, und Inhaber von Einzelhandelsgeschäften in ganz Norddeutschland schilderten am Freitag die Situation als dramatisch. „Es ist fünf nach zwölf“, sagte Böckenholt. 2020 habe der Einzelhandel (ohne Lebensmittel) im Lockdown 36 Milliarden Euro Umsatzverluste erlitten. Wenn nicht im Februar Gelder fließen, „gehen bei vielen die Lichter aus“. Bis Ende Dezember seien nur 90 Millionen Euro Staatshilfen gezahlt worden – das sind rechnerisch 0,25 Prozent des Umsatzverlustes. „Das ist ein Tropfen auf den heißen Stein.“

Scholz habe elf Milliarden Euro monatlich für den Einzelhandel in Aussicht gestellt. Die Hürden seien aber so hoch, dass viele Einzelhändler die Hilfe nicht beantragen könnten. Würden die elf Milliarden in den nächsten Wochen ausgezahlt, würde es reichen. Die Fixkosten des Einzelshandels betrügen zwölf Milliarden Euro. Nach einer Verbandsumfrage sahen 64 Prozent der Innenstadthändler ihre Existenz bedroht. Am schlimmsten ist es demnach für Läden mit Schuhen/Lederwaren (82 Prozent) und Bekleidung/Textilien (76).

Einzelhändler aus Hamburg, Schleswig-Holstein und Meckelnburg-Vorpommern schilderten eindringlich ihre verzweifelte Lage. Im Modebereich zog sich folgende Argumentation durch alle Äußerungen: Die Winterware konnte und kann wegen des Lockdowns seit dem 16. Dezember bis Ende Januar praktisch nicht verkauft werden. In Tourismusorten an der Küste von Mecklenburg-Vorpommern habe es monatelang kaum Umsatz gegeben, da Touristen nicht anreisen durften.

Jetzt kommt die im vergangenen Sommer bestellte Frühjahrsware, die sofort bezahlt werden müsse. Dazu fehle aber das Geld, das in der Regel im November/Dezember in die Kassen fließe. Und die unverkaufte Winterware lasse sich im nächsten Winter allenfalls mit extremen Abschlägen verkaufen. Viele Ladenmieten seien zuletzt nicht oder nur teilweise bezahlt worden. „Wir schieben eine Bugwelle an Schulden vor uns her“, sagte ein Ladenbesitzer.

„Der da Stacheldraht in der Hose hat, ist unser Finanzminister“

„Wenn die staatlichen Hilfen erst Ende März fließen, wie es die Länderchefs angekündigt haben, kann das Geld in vielen Fällen gleich an die Insolvenzverwalter fließen“, sagte Böckenholt. „Der da Stacheldraht in der Hose hat, ist unser Finanzminister“, kritisierte der Verbandsvertreter. Es würden Milliardenhilfen in Aussicht gestellt, die aber nicht abgerufen werden könnten. Ein Unternehmer erläuterte, warum: Vor Weihnachten habe er mit hohen Rabatten zumindest etwas Umsatz machen können. Das habe nun den Nachteil, dass er keine Hilfe beantragen könne, da im Dezember 40 Prozent Umsatzminus zum Vorjahresmonat Voraussetzung sei für einen Antrag.

Böckenholt kritisierte, dass für die Berechnung des Umsatzverlustes nicht die Lockdown-Zeiten seit dem 16. Dezember zugrunde gelegt würden mit meist annähernd null Umsatz, sondern der gesamte Monat. Er forderte, dass wie für die Gastronomie 75 Prozent des Umsatzes vom Vorjahresmonat gezahlt werden. Für die durch die staatlichen Anordnungen geschlossenen Einzelhandelsunternehmen müsse eine gleiche Entschädigung analog zur geschlossenen Gastronomie geleistet werden.

Für den Handel sehe die Überbrückunsgshilfe 3, deren Bedingungen noch nicht einmal klar geregelt seien, lediglich die Bezahlung der Fixkosten vor. Die Gehälter der Mitarbeiter zählten nicht dazu. Sie erhalten nur das Kurzarbeitergeld von anfangs 60 bzw. 67 Prozent des Nettolohns (mit Kindern). Unklar sei auch, ob die Überbrückungshilfe ein Gehalt für die Inhaber vorsehe. Einzelhändler schilderten, ihre Rücklagen seien aufgebraucht, sie könnten nicht mehr schlafen.

Um schnell Geld den Einzelhändlern zahlen zu können, schlug der Verband einen pauschalen Fixkostenzuschuss in Orientierung am Rohertrag vor. Das ist die Differenz zwischen Umsatzerlösen und Wareneinsatz. Es sei von einem Fixkostenanteil von 30 bis 40 Prozent vom Umsatz auszugehen. Dieser Anteil könnte pauschal als Betriebskostenzuschuss für die Zeit der Schließung angenommen werden.


Mehr zum Thema:  

Anzeige
DWN
Panorama
Panorama Halbzeit Urlaub bei ROBINSON

Wie wäre es mit einem grandiosen Urlaub im Juni? Zur Halbzeit des Jahres einfach mal durchatmen und an einem Ort sein, wo dich ein...

DWN
Technologie
Technologie Ocean Cleanup fischt 10 000 Tonnen Plastikmüll aus Ozeanen und Flüssen
23.04.2024

Ein Projekt fischt Tausende Tonnen Plastik aus dem Meer und aus Flüssen. Eine winzige Menge, weltweit betrachtet. Doch es gibt global...

DWN
Technologie
Technologie Astronaut Alexander Gerst rechnet mit permanenter Station auf dem Mond
23.04.2024

Eine feste Basis auf dem Mond - das klingt für viele noch nach Science Fiction, soll aber schon bald Realität werden. Für Astronaut...

DWN
Politik
Politik Zeitungsverlage mahnen von Politik zugesagte Hilfe an
22.04.2024

Der Medienwandel kostet Zeitungshäuser viel Kraft und Geld. Von der Politik fühlen sie sich dabei im Stich gelassen. Sie erinnern die...

DWN
Immobilien
Immobilien Stabilere Aussichten für deutschen Gewerbeimmobilienmarkt nach Volatilität
22.04.2024

Die Nachfrage insbesondere nach Büros im deutschen Gewerbeimmobiliensektor war verhalten im Jahr 2023. Das Segment ist stärker als andere...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Iran-Konflikt: Israels mutmaßlicher Angriff und Teherans Machtspiele
22.04.2024

Ein möglicher israelischer Luftangriff gegen den Iran kennzeichnet die bisherige Spitze der Eskalation im Nahostkonflikt. Dennoch bleibt...

DWN
Politik
Politik Steinmeier reist mit Dönerspieß und Imbissbesitzer in die Türkei
22.04.2024

Zehn Jahre ist es her, dass ein Bundespräsident der Türkei einen Besuch abgestattet hat. Jetzt reist Frank-Walter Steinmeier an den...

DWN
Technologie
Technologie Auftakt der Hannover Messe: Industrie mahnt Reformen an
22.04.2024

In Hannover hat wieder die traditionelles Messe für Maschinenbau und Elektrotechnik begonnen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eröffnete...

DWN
Politik
Politik Parteiensympathie unterscheidet sich zwischen Stadt und Land
22.04.2024

Wie unterschiedlich ticken die Menschen politisch auf dem platten Land und in der Großstadt? Eine Analyse der Konrad-Adenauer-Stiftung...