Henrik Paulitz von der Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung zufolge schrammte das europäische Stromverbundnetz am vergangenen Freitag haarscharf an einem massiven Blackout vorbei:
Am vergangenen Freitag, dem 8. Januar 2021, ist das europäische Stromverbundnetz nur knapp an einem großflächigen Zusammenbruch vorbei geschrammt. Gegen 13.04 Uhr kam es zu einem starken Frequenzabfall, der Europa hätte lahmlegen können. Ursache war offenbar ein Stromausfall in Rumänien. Nach Einschätzung des österreichischen Blackout-Experten Herbert Saurugg war es die bislang zweitschwerste Großstörung im europäischen Verbundsystem. Gemäß ENTSO-E Klassifizierung wurde die dritte von vier Warnstufen erreicht (Emergency – Deteriorated situation, including a network split at a large scale. Higher risk for neighbouring systems. Security principles are not fulfilled. Global security is endangered).
Der niederösterreichische Stromversorger EVN sprach von einem "Beinahe-Blackout". Einige Großkunden hätten sich gemeldet, "weil sensible Maschinen die Frequenzabsenkung bereits gespürt haben", so EVN-Sprecher Stefan Zach gegenüber dem Österreichischen Rundfunk ORF. "Wenn die Schwankungen zu hoch sind, schalten sich Maschinen aus Selbstschutz ab." Das könne Zach zufolge auch bei Kraftwerken passieren, "und dann wird es kritisch".
In den österreichischen Medien wird das Ereignis intensiv diskutiert. Zahlreiche Kraftwerke mussten dort sofort Energie zur Netzstabilisierung nachgeliefern. Pumpspeicherkraftwerke und die noch verfügbaren Gaskraftwerke mussten mobilisiert werden. "Letztere werden allerdings von Umweltschützern massiv bekämpft", merkte die Kronen Zeitung spitz an. In Frankreich mussten trotz der Rettungsaktion aus Österreich große Stromkunden vom Netz getrennt werden.
Das Sicherheitsnetz habe gegriffen, "aber solche Feuerwehr-Einsätze sind langfristig kein tragfähiges Geschäftsmodell", warnte Wien-Energie-Geschäftsführer Michael Strebl. "Gott sei Dank ist es noch einmal gut gegangen", so Werner Hengst, Geschäftsführer der Netz Niederösterreich GmbH. "Wir schätzen, dass sich die Situation in den nächsten Jahren verschärfen wird." Grund sei der starke Ausbau der volatilen Erneuerbaren-Stromerzeugung und der Wegfall großer Backup-Kraftwerke in Europa. Die in Europa vom Netz gehende Leistung von 50 Gigawatt entspreche "mehr als zweihundert Donaukraftwerken". Laut Wien Energie seien die Stromnetze immer stärkeren Schwankungen ausgesetzt. So habe sich die Zahl von Noteinsätzen in den letzten Jahren von rund 15 auf bis zu 240 pro Jahr erhöht.
In der österreichischen Strombranche werden nun Forderungen nach einem "Runden Tisch" laut. Bei dem Treffen aller Stakeholder sollten pragmatische Lösungen für eine Blackout-Vorsorge gefunden werden, sagte NÖ-Netz-Geschäftsführer Werner Hengst bei einem Online-Hintergrundgespräch des Forums Versorgungssicherheit. "Wir brauchen stabile Netze, um die Versorgungssicherheit garantieren zu können."
In Deutschland hat der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VIK) mit Sorge auf den europäischen Beinahe-Blackout reagiert. "Der Vorfall vom Freitag ist leider nicht der erste seiner Art, aber er muss uns allen eine Warnung sein, das Thema Netzstabilität und Versorgungssicherheit nicht aus dem Blick zu verlieren. Deutschland kann nicht davon ausgehen, dass wir schon irgendwie aus dem europäischen Ausland versorgt werden, sollte es bei uns nicht ausreichend Strom geben", so VIK-Geschäftsführer Christian Seyfert.
Folgen der Energiewende: Auf dem „Prinzip Hoffnung“ kann keine hochentwickelte Gesellschaft aufgebaut werden
Durch den "Ausstieg aus Kernenergie und Kohlekraft" werde in Deutschland in den kommenden Jahren in erheblichem Umfang gesicherte Leistung "ersatzlos" stillgelegt, so Seyfert. Das führe regional und deutschlandweit zu erheblichen Herausforderungen bei der Versorgungssicherheit, auf die auch politische Antworten gefunden werden müssten. Das "Prinzip Hoffnung" reiche nicht aus. Eine preiswerte, klimafreundliche, aber eben auch sichere Stromversorgung sei gerade für im internationalen Wettbewerb stehende Industrieunternehmen ein entscheidender Standortfaktor. Sei sie zweifelhaft, schade das dem Wirtschaftsstandort Deutschland, so Seyfert.
Der VIK verweist darauf, dass es "gleichzeitig" mit dem Beinahe-Blackout in Frankreich einen Stromengpass gab, weil dort 13 Kernkraftwerksblöcke nicht am Netz sind. "Es sind keine Stromunterbrechungen vorgesehen", versicherte zwar der französiche Übertragungsnetzbetreiber RTE vor Tagen, appellierte aber zugleich an die französische Bevölkerung, Strom zu sparen: Zwischen sieben und 13 Uhr sollen die Lichter aus bleiben, Waschmaschinen möglichst nicht laufen und unbenutzte Internetzugänge gekappt werden. Wer das Haus verlässt, soll die Heizung auf 17 Grad herunterfahren.
Viele französische Medien werfen die Frage auf, ob dem Land bei einer anhaltenden Kälteperiode ein Blackout drohe. "Wir befinden uns doch nicht in der Sowjetunion, oder?", fragte ein Journalist des Fernsehsenders BFM die Umweltministerin Barbara Pompili. Ihre Antwort beruhigte die Zuschauer nur beschränkt: "Wenn wir in den Durchschnittstemperaturen bleiben, sollte es gehen. Sonst müssen wir regulieren."
Als letzte Möglichkeit sieht der französische Stromkonzern EDF lokale Stromunterbrechungen von „maximal zwei Stunden“ vor. Das hätte zwar für die Betroffenen im Moment die gleiche Wirkung wie ein genereller Netz-Kollaps, doch Pompili beteuert laut Frankfurter Rundschau: "Wir dürfen den Franzosen keine Angst machen, es wird keinen Blackout geben." Die Gefahr ist aber noch nicht gebannt: Vor Wochen schon hatte RTE einen "schwierigen Februar" vorhergesagt.
Die Vorgänge zeigen, dass das Thema Versorgungssicherheit nun mit Macht auf die politische Tagesordnung Europas drängt. Nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa droht eine StromMangelWirtschaft, in der Stromabschaltungen immer mehr zur Normalität werden und es jederzeit zum großflächigen Stromausfall kommen kann.