Seit Wladimir Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, hat Russland mehrere Wellen öffentlicher Unruhen erlebt. 2005 protestierten ältere Bürger gegen eine Rentenreform, und von 2011 bis 2012 demonstrierten Tausende Moskauer gegen eine in ihren Augen betrügerische Wahl, mit der Putin nach einer kurzen Amtszeit als Premierminister zur Präsidentschaft zurückkehrte. Bei all diesen Gelegenheiten hat sich Putin als politisch unangreifbar gezeigt.
Jetzt aber rollt eine neue Welle von Protesten durch das Land, und es gibt gute Gründe dafür, dass es dieses Mal anders laufen könnte. Gegenüber der öffentlichen Meinung ist Putin immer repressiver und unempfindlicher geworden. Abgeschieden in isolierten Palästen hat er sich zu einem „Großvater in seinem Bunker“ entwickelt.
Putins nächster großer politischer Test wird bei den Duma-Wahlen im September stattfinden. Er wird nichts Bedeutendes haben, was er den russischen Bürgern anbieten kann. Nachdem er während seinen ersten beiden Amtszeiten (2000-2008) ein robustes Wirtschaftswachstum von etwa sieben Prozent jährlich vorweisen konnte, regiert er heute über eine stagnierende Volkswirtschaft. Seit seinem Höchststand von 2,3 Billionen Dollar im Jahr 2013 ist das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) um mehr als ein Drittel auf 1,5 Billionen Dollar gefallen. Innerhalb von nur vier Jahren (2014-2017) sank der Lebensstandard des Landes um 12,4 Prozent. Und nachdem er von 2018 bis 2019 sein Niveau immerhin halten konnte, ging er 2020 erneut zurück.
Schon lange verlässt sich Putin auf die russischen Verbraucher als stabile Unterstützer seiner politischen Ambitionen. Trotzdem setzte er 2018 – nach dem scharfen Einbruch von Löhnen und Gehältern – die russischen Haushalte einer drakonischen Rentenreform aus, die so schlecht aufgenommen wurde, dass sogar seine offiziellen Beliebtheitswerte sanken. Nun, nach sechs Jahren Sparpolitik, teilen die russischen Ökonomen Wladimir Milow und Sergei Guriew mit, dass den Russen bald die Ersparnisse ausgehen.
Für Russlands wirtschaftliche Stagnation gibt es drei hauptsächliche Gründe: Putins Tendenz, sowie schon reiche politische Freunde noch reicher zu machen, die niedrigen Ölpreise sowie die westlichen Finanzsanktionen, die seit 2014 als Antwort auf das russische Eingreifen in der Ukraine bestehen.
Der erste Faktor scheint der wichtigste zu sein. Während seiner ersten beiden Amtszeiten profitierte Putin von den Liberalisierungs-Reformen seines Vorgängers, Präsident Boris Jelzin, sowie des damals amtierenden Premierministers Jegor Gaidar aus den 1990ern. Aber nachdem er während seiner ersten Amtszeit seine Macht konsolidiert hatte, verwendete Putin seinen Einfluss über die Gerichte immer mehr dazu, profitable Privatunternehmen für seine St. Petersburger Entourage zu requirieren.
Die russischen Politiker tun die westlichen Sanktionen als ineffektiv ab, obwohl sie sie ständig kritisieren. Aber Sanktionen sind leicht messbar, also sollte uns dieser Widerspruch nicht zu sehr irritieren. Ende 2013 bezifferte die Russische Zentralbank die gesamten Auslandsschulden des Landes auf 729 Milliarden Dollar. Bis Ende 2020 ist diese Zahl nun auf 470 Milliarden gesunken, während andere Schwellenländer ihre Auslandsverschuldung um einen ähnlichen Prozentsatz erhöht haben. Dies deutet darauf hin, dass Russland in den Jahren der westlichen Sanktionen gezwungen war, auf 259 Milliarden Dollar an Auslandskrediten zu verzichten, die sonst in Investitionen und damit Wirtschaftswachstum geflossen wären (man sollte in diesem Zusammenhang aber auch auf den prall gefüllten russischen Staatsfonds verweisen, wie DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph in einer früheren Analyse herausgearbeitet hat – Anm. d. Red.).
Beim Versuch, die Schuld für die schwache russische Wirtschaft von sich abzuwälzen, weist Putin immer wieder auf die kollabierenden Ölpreise hin. Aber obwohl er immer wieder auf dieses Thema zurückkommt, hat er immer noch nichts getan, um die Wachstumsquellen der russischen Wirtschaft zu diversifizieren. Völlig vom Öl abhängig, leiden sowohl die Währung als auch die Ex- und Importe, wenn die Ölpreise fallen.
Darüber hinaus schrecken die beiden Faktoren, die Putin gern ignoriert – die persönliche Bereicherung der russischen Eliten durch Ausnutzen ihrer Privilegien sowie eine sanktionsfördernde Außenpolitik – zunehmend auch ausländische Investoren ab. Zwischen 2014 und 2019 lagen Russlands jährliche Nettozuflüsse an ausländischen Direktinvestitionen bei durchschnittlich etwas unter 1,5 Prozent des BIP – eine vernachlässigbare Zahl, insbesondere verglichen mit der vorherigen Fünfjahresperiode, wo sie etwa doppelt so hoch war.
In gewisser Weise muss man Putin auch verstehen. Um an der Macht zu bleiben, nimmt er eine geopolitische Haltung ein, die sein Image im Land selbst verbessert. Hier hat er die Lorbeeren zweier vergangener Erfolge geerntet: des kurzen Kriegs in Georgien im August 2008 und der Annexion der Krim im März 2014.
Laut einer Umfrage des Levada-Zentrums, eines unabhängigen russischen Thinktanks, erreichten Putins Zustimmungswerte direkt nach dem Georgien-Konflikt einen Rekordwert von 88 Prozent und stiegen auch nach dem März 2014 in ähnliche Höhen. In den letzten drei Jahren allerdings gingen sie von über 80 Prozent auf 64 Prozent zurück (was immer noch relativ hoch ist – Anm. d. Red.), und das Vertrauen, das er in der Öffentlichkeit genießt, liegt nur noch halb so hoch.
Russland ist gespalten. Ein liberal eingestelltes Drittel der Bevölkerung lehnt Putin ab, ein weiteres Drittel unterstützt ihn, und der Rest ist unentschieden. Die Frage ist, wann sich die Unentschiedenen gegen das Regime wenden. Wahrscheinlich geschieht dies dann, wenn sie der Ansicht sind, dass Putin bereits verloren hat.
Trotz seiner für ihn nicht einfachen innenpolitischen Lage hat Putin aber nichts Entscheidendes getan, um die russische Öffentlichkeit zu beruhigen. Obwohl er im letzten Sommer eine „Exekutivverordnung über Russlands Nationale Entwicklungsziele bis 2030“ erlassen hat, hat sich dieses Dokument als viel weniger substanziell erwiesen, als es klingt.
Was seine Lage tendenziell noch erschwert, ist Putins Versprechen, „stetiges Wachstum der Haushaltseinkommen und -renten nicht unterhalb der Inflationsrate“ zu gewährleisten, was impliziert, dass er in den nächsten zehn Jahren keine Steigerung des Lebensstandards erwartet. Offensichtlich versucht er nicht, die Tatsache zu verstecken, dass er derzeit vor allem mit seinem Machterhalt beschäftigt ist.
Russland steigt nicht nur wirtschaftlich und technologisch ab, sondern auch in demografischer Hinsicht. Letztes Jahr schrumpfte seine Bevölkerung um fast 700.000 Menschen, was nicht zuletzt an der Auswanderung qualifizierter junger Menschen liegt. Dies ist ein sicheres Zeichen dafür, dass Putins Russland auf schwächeren Füßen steht als viele glauben.
Lesen Sie auch die DWN-Analyse, in der Chefredakteur Hauke Rudolph im Detail herausarbeitet, mit welchem Pfund Russland wuchern kann: deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/505952/Russland-nimmt-Kredite-in-Hoehe-von-50-Milliarden-auf-und-schont-seinen-riesigen-Staatsfonds