Mit den angekündigten Milliardenausgaben für das britische Militär will Premierminister Boris Johnson auch die Gemeinschaft des Vereinigten Königreichs stärken. Die umfangreichen Pläne für eine integrierte Verteidigungs-, Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik sehen nachhaltige Investitionen in allen Landesteilen vor, wie die Regierung in London am Montag ankündigte. In Schottland sollen demnach Schiffe gebaut werden, in Wales gepanzerte Fahrzeuge und in Nordirland Satelliten. In der südwestenglischen Region Cornwall soll Lithium geschürft werden, das für die Produktion von Batterien wichtig ist.
Die Investitionen in Schottland gelten auch als Versuch, mit wirtschaftlichen Hilfen und neuen Arbeitsplätzen die Unabhängigkeitsforderungen der Regionalregierung zu kontern. Diese hatten in den vergangenen Monaten deutlich zugenommen, nachdem die negativen Auswirkungen des Austritts aus der EU voll auf die dortige Wirtschaft durchgeschlagen hatten.
Bedeutendste Strategie-Änderung seit dem Kalten Krieg
Johnson will die Pläne an diesem Dienstag vorstellen. Sie gelten als bedeutendste Überarbeitung der britischen Strategie seit dem Kalten Krieg. «Unsere internationalen Ambitionen müssen zu Hause beginnen», sagte Johnson der Mitteilung zufolge. Mit den Investitionen werde sichergestellt, dass Großbritannien auf dem neuesten Stand der Innovation sei und das ganze Land wettbewerbsfähig bleibe.
Johnson hatte im November milliardenschwere Rüstungsausgaben angekündigt, in den nächsten vier Jahren sollen auch aufgrund von Investitionen in moderne Technologien landesweit 40 000 Arbeitsplätze entstehen. Das Vereinigte Königreich werde wieder zu Europas führender Seemacht aufsteigen, hatte der Premierminister angekündigt. Für die Luftwaffe sind moderne Jets vorgesehen. Geplant sind zudem eine Abteilung für Künstliche Intelligenz sowie ein Weltraumkommando, das 2022 die erste britische Rakete ins All schießen soll.
Die Pappe wird knapp
Die Auswirkungen des Austritts aus der EU auf die britische Volkswirtschaft und den Staatshaushalt beschrieb die Nachrichtenagentur dpa Anfang Februar in einer Analyse folgendermaßen:
Jetzt wird auch noch die Pappe knapp: Kaum ein Tag vergeht in Großbritannien seit dem Brexit, ohne dass ein neues Problem bekannt wird. Lastwagen fahren leer zurück aufs europäische Festland, Kunden lehnen Warensendungen aus der EU wegen hoher Zollgebühren ab, manche Pflanzen dürfen nicht mehr von Großbritannien in die Provinz Nordirland geliefert werden. Der Brexit, seit Jahresbeginn voll wirksam, trifft mit seinen neuen Zollschranken die britische Wirtschaft schwer. Und das in einem Moment, in dem die Konjunktur sich langsam aus dem Corona-Tief arbeitet.
Beispiel Meerestiere: Britische Fischer dürfen keine frischen Muscheln und Austern mehr in die EU exportieren - was sie seit Jahrzehnte gemacht haben. "Die Regierung tut ihre Arbeit nicht, um die Industrie zu schützen", sagte Rob Benson, Chef von Kingfisher Seafoods, einem der größten Exporteure von Schalentieren, dem Online-Portal "Politics Home" (Dienstag). Ohnehin sind die britischen Fischer sauer auf die Regierung, weil die mit der EU vereinbarten Fischereiquoten aus ihrer Sicht deutlich hinter den Ankündigungen von Premierminister Boris Johnson zurückbleiben.
Beispiel Bienen: Wegen neuer Importregeln droht Millionen Jungbienen auf dem Weg nach Großbritannien der Tod. Der britische Bienenhändler Patrick Murfet sagte der Nachrichtenagentur PA am Dienstag, dass 15 Millionen Bienen, die er aus Italien importieren will, beschlagnahmt und verbrannt werden könnten. Seit dem britischen Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion dürfen nur noch Königinnen und keine Kolonien mehr importiert werden. Unklar ist noch, ob die Tiere über Nordirland ins Vereinigte Königreich einreisen dürfen. Das Umweltministerium teilte der PA mit, es arbeite an einer Lösung.
Beispiel Automobilindustrie: Die Produktion fiel 2020 im Vergleich zum Vorjahr um 29,3 Prozent auf den niedrigsten Wert seit 1984, wie der Verband SMMT unlängst mitteilte. Das lag vornehmlich an Corona. Doch die Branche sei wegen ihrer komplexen Zuliefererketten nun besonders schwer von den Brexit-Zollerklärungen betroffen, sagte der Präsident der britischen Handelskammer in Deutschland, Michael Schmidt, der Deutschen Presse-Agentur. "Es gibt eine ganze Reihe von Komponenten, die gehen, bevor sie ins Fahrzeug eingebaut werden, drei, teilweise vier Mal über den Kanal. Das ist ein echtes Thema, weil das jedes Mal neu gerechnet werden muss."
Beispiel Pappe: Pappkartons für Verpackungen sind rar in Großbritannien. Laut Branchenverband Confederation of Paper Industries wurden wegen geschlossener Geschäfte allerlei Waren online gekauft, außerdem hätten viele Unternehmen wegen des Brexits Vorräte angelegt. Zudem wird langsamer recyclet.
Andere Zahlen geben ebenfalls wenig Anlass zum Optimismus. Die Arbeitslosenquote stieg zuletzt auf 5,0 Prozent und damit auf den höchsten Wert seit vier Jahren. Die Wirtschaftsleistung gab vor allem wegen des neuen Corona-Lockdowns um 2,6 Prozent nach. Unterm Strich mussten 2020 wegen den Folgen der Pandemie einer Analyse zufolge etwa 6000 Pubs, Restaurants und Clubs endgültig schließen, drei Mal so viele wie 2019. Wegen milliardenschwerer Corona-Regierungshilfe für Unternehmen kletterte die Staatsverschuldung auf einen Rekordwert.
Der Industrieverband CBI zeigt sich demonstrativ zuversichtlich. "Die Unternehmen merken die Änderungen erst seit ein, zwei Wochen. Wir haben also noch ein paar Wochen Zeit, um wirklich einzuschätzen, was getan werden kann und sollte", sagte die Vize-Chefvolkswirtin des Verbands, Anna Leach, der dpa. Die Regierung von Premierminister Boris Johnson spricht von "Kinderkrankheiten", die sich noch legen würden. Doch Wirtschaftsvertreter sehen die Lage deutlich kritischer.
Das Problem sei viel grundsätzlicher, sagte Ian Wright, Chef des Verbands der Lebensmittel- und Getränkehersteller FDF, der dpa. "Viele Unternehmen werden aufhören, mit der EU zu handeln, weil es zu teuer und aufwendig ist." Als Beispiel nennt Wright eine große Firma. "Normalerweise braucht sie drei Stunden für den Papierkram. Seit dem Brexit hat sie es maximal in fünf Tagen geschafft." Ein Problem sei, dass es zu wenig Zollbeamte gebe. "Die Bürokratie ist fünf Mal höher, also müsste es auch fünf Mal mehr Zollbeamte geben. Aber es gibt keinen einzigen zusätzlich", sagte Wright.
Außenhandelsexperte Marc Lehnfeld von GTAI betont ein weiteres Problem. "Gerade kleine und mittelgroße Firmen werden durch die Zollgrenze belastet, weil die Zusatzkosten auf ein kleineres Absatzvolumen umgelegt werden als bei den Großunternehmen", sagte er der dpa. Mehrere britische Unternehmen bauten Lager in der EU auf, um Zusatzkosten und Bürokratie beim EU-Geschäft abzumildern. In britischen Medien wurden Unternehmenschefs mit Aussagen zitiert, dass ihnen die Behörden in London den Umzug nahegelegt hätten.
Ironischerweise könnte Deutschland dennoch die USA als wichtigsten Handelspartner Großbritanniens verdrängt haben. Zwar sank der Warenaußenhandel im Vorjahresvergleich zwischen Januar und November 2020 um 16,7 Prozent auf 78,2 Milliarden Pfund (88,8 Mrd Euro). Doch fiel der Handel zwischen Großbritannien und den USA noch deutlicher, um rund ein Fünftel (20,6 Prozent) auf 77,2 Milliarden Pfund.
Das Ende der Fahnenstange ist aber vermutlich noch nicht erreicht. Wegen des Brexits werde das Handelsvolumen zwischen Großbritannien und der EU weiter deutlich sinken, sagte Andreas Glunz, Bereichsvorstand für International Business bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, der dpa. Beispielsweise sei Großbritannien das Eintrittstor für Mode, Textilien, Accessoires, Spielzeug von Asien nach Europa gewesen. Das werde sich nun ändern.