Das ambivalente China-Bild westlicher Publikationen beruht merklich auf mangelnder Kenntnis der kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten des Landes. Erklärungen bleiben bruchstückhaft und Ängste werden geschürt, was einer eurozentrischen Sichtweise geschuldet ist. Diese dreiteilige Analyse will anregen, China aus einer unbefangenen Perspektive zu betrachten.
Dieser erste Teil befasst sich mit den Unterschieden zwischen westlichem und chinesischem Menschenbild, auf welches sich die jeweiligen Gesellschaftssysteme gründen. Im zweiten Teil werden die Entwicklungsetappen beschrieben, die Chinas wirtschaftlichen Aufstieg zu einem ernstzunehmenden Konkurrenten des Westens kennzeichnen. Im abschließenden Teil werden der Übergang vom „Turbo-Kapitalismus“ zu einem Sozialstaat und die Strategie der „dualen Kreisläufe“ thematisiert. Abschließend wird der Vorwurf hinterfragt, China würde eine globale Dominanz anstreben.
Mutmaßungen und Realität
Nach dreißig Jahren Abwesenheit ist der Begriff ”Systemwettbewerb” wieder allerorts präsent. Diesmal heißt der Kontrahent nicht Sowjetunion, sondern China. Das Land wird als größere Herausforderung für die westlichen Demokratien angesehen als seinerzeit das Sowjetimperium. Der Hauptgrund ist das bedeutendere Wirtschaftspotenzial bei gleichzeitig starker Verflechtung mit den westlichen Volkswirtschaften. Während das US-amerikanische Bruttosozialprodukt das sowjetische Mitte der 80er Jahre um den Faktor drei übertraf, wird China noch in dieser Dekade zu den USA aufschließen. Nach Kaufkraftparität ist die chinesische Wirtschaftsleistung bereits jetzt größer. Ebenfalls befindet sich die Infrastruktur in einem weitaus besseren Zustand, dasselbe wird für die Innovationskraft angenommen.
Im Westen ist die Auffassung verbreitet, dass die immensen wirtschaftlichen Fortschritte Chinas nicht nur auf dem Rücken der Bürger, sondern auch durch Anwendung von Zwang erreicht wurden. Berichte über extreme Ausbeutungspraktiken in Exportproduktionsstätten, eine gewaltige Zahl an Wanderarbeitern, massive Umsiedlungen im Zuge von Staudammprojekten und unerträgliche Umweltbedingungen erschienen während der letzten Jahrzehnte wiederholt in den Medien. Das Bild drangsalierter chinesischer Bürger deckt sich jedoch nicht mit den Ergebnissen internationaler Vergleichsstudien: Nach dem „Edelman Trust Barometer“ vertrauen 90 Prozent der Landesbewohner ihrer Regierung. Für Deutschland wird ein Wert von 45 Prozent angegeben, für die USA 39 Prozent und für Großbritannien nur 36 Prozent. Den höchsten Betrag eines westlichen Staats erreichen die Niederlande mit 59 Prozent.
Nicht nur der hohe Zufriedenheitsgrad der Bevölkerung stellt westliche Narrative in Frage. Wer sich heute in China bewegt, wird ein Entwicklungsniveau vorfinden, das mit jenem südeuropäischer Länder vergleichbar ist. Der Unterschied zu Indien - ich habe beide Staaten während der letzten Jahre bereist - ist gewaltig: Keine Slumgürtel um die Großstädte, keine unterernährten, in Lumpen gekleideten Kinder und Greise an den Straßenrändern, geordnete Verkehrsverhältnisse mit ausgebautem öffentlichen Netz, attraktive Grünviertel anstelle der in Indien allerorts vorfindbaren Müllberge. Die Schadstoffbelastung der Luft ist in chinesischen Großstädten deutlich gesenkt worden, während sie bei meinem Aufenthalt in Delhi unerträglich war. Hierbei ist hervorzuheben, dass sich beide Länder noch vor 30 Jahren auf einem ähnlichen Entwicklungsniveau befanden und ebenso Indien wirtschaftlich aufgeholt hat.
Das politische System des Westens als Vergleichsgrundlage
Es ist naheliegend anzunehmen, dass es diktatorischer Vollmachten einer Regierung bedarf, um hunderte Millionen Menschen innerhalb weniger Dekaden aus der Armut zu führen, eine wachsende Mittelschicht zu generieren und ein Land zu einem wirtschaftlichen Powerzentrum umzuformen. Wer tiefer in die chinesische Geschichte und Kultur eindringt, findet jedoch eine weitaus differenziertere Erklärung. Um die Unterschiede zum westlichen politischen System zu begreifen, seien dessen Prinzipien kurz skizziert.
Unsere abendländische Zivilisation stellt das Individuum in den Mittelpunkt. Der Staat erscheint als Gegenspieler, der als Verwalter des Allgemeininteresses geneigt ist, den Entfaltungsspielraum der Bürger zu beschneiden. Das Rechtssystem inklusive der Unabhängigkeit der Gerichte dient daher nicht nur dem Schutz vor kriminellen Akteuren, sondern auch vor der Übermacht des Staates.
Die Existenz von Interessendivergenzen führt zur Gründung von Parteien und Verbänden, die sich um Einflussnahme auf politische Entscheidungsprozesse bemühen. Es besteht nun aber die Gefahr, dass führende Mitglieder jener Organisationen im Verbund mit mächtigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur Sonderinteressen verfolgen. Da das Postulat maximaler persönlicher Entfaltung nach westlichem Werteverständnis einen höheren Rang besitzt als gesamtgesellschaftliche Verantwortung, kann es als Vehikel dienen, eine elitäre Position zum eigenen Vorteil zu nutzen und abzusichern. Damit dieser Fall nicht eintritt, verfügen die westlichen Gesellschaftssysteme über Instrumente, die den Aktionsspielraum der Eliten beschränken und eine demokratische Entscheidungsfindung gewährleisten: allgemeines Wahlrecht, öffentliche Meinungsfreiheit, Recht zur Gründung politischer Vereinigungen, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenrechte.
Das chinesische Menschenbild und seine gesellschaftliche Umsetzung
Dagegen ist die chinesische Denkweise durch das konfuzianische Weltbild geprägt, das harmonische zwischenmenschliche Beziehungen zum Leitziel erhebt. Vom Individuum wird ein Höchstmaß an Rücksichtnahme auf seine Mitbürger verlangt. Der Einzelne wird aufgefordert, von Begierden und Interessen Abstand zu nehmen, die dem Allgemeinwohl schaden. Besondere Erwartungen richten sich an Personen, die sich in einer einflussreichen Position befinden. Korruption, Steuerhinterziehung und andere Bereicherungsformen zu Lasten der Gemeinschaft gelten als schweres Delikt und werden im Extremfall mit dem Tod bestraft. In der Allgegenwart des Korruptionsthemas widerspiegelt sich mehr ein hoher moralischer Anspruch als ein tatsächliches gesellschaftliches Problem. Dies wird durch westliche Vergleichsstudien bestätigt, die ein relativ geringes Ausmaß an Korruption in China konstatieren, obwohl die verwendeten Beurteilungskriterien eine prowestliche Interpretation begünstigen.
Wie weit persönliche Freiheitsrechte im gesellschaftlichen Gesamtinteresse zu beschneiden sind, legt in letzter Instanz die kommunistische Führung fest. Sie übernimmt damit die historische Rolle von kaiserlicher Exekutive und konfuzianischen Gelehrten. Es wird ein Menschenrechtsbegriff als Basis unterlegt, der die sozio-ökonomischen Rechte der Grundversorgung (Nahrung, Kleidung, Wohnung, medizinische Behandlung) und des Zugangs zu Bildung und Kultur favorisiert. Andere in der UN-Menschenrechtskonvention enthaltenen Rechte und Freiheiten werden den Bürgern so weit zugestanden, wie sie in Einklang mit gesellschaftlichen Interessen und Erfordernissen stehen.
Strukturen und Mechanismen, mittels derer im Westen die freie Entfaltung der Individuen organisiert und in gemeinsames politisches Handeln überführt wird, erscheinen im gesellschaftlichen Umfeld Chinas als nicht erforderlich und sind daher kaum entwickelt. Der Hauptort politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ist die kommunistische Partei, der immerhin rund zehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung angehören. Laut Parteistatut wird ein offener Meinungsaustausch angestrebt, ebenso wird das Einbringen abweichender Sichtweisen als wünschenswert deklariert. Wenn diese Gelegenheit unzureichend genutzt wird, dann weniger, weil Repressalien durch höhere Instanzen befürchtet werden. Der wesentliche Grund ist das große Vertrauen in die Kompetenz und moralische Integrität der Parteielite, was zu einer passiven Haltung verleitet.
Zum Autor:
Bernd Murawski studierte an der FU Berlin Politische Wissenschaft und Mathematik mit den Schwerpunkten Wirtschafts- und internationale Politik sowie Statistik. Nach dem Studienabschluss siedelte er nach Finnland über, wo er als IT-Projektmanager arbeitete. Seit 2014 hat er über einhundert Artikel zu aktuell-politischen und Wirtschaftsthemen verfasst, die auf mehreren Internet-Portalen veröffentlicht wurden.
Lesen Sie im zweiten Teil der großen China-Analyse:
- Wie sich China erneuerte - und der Westen nicht
- Wer die westlichen Akteure waren, deren Druck China sich geschickt entzog
- Warum die Kommunistische Partei den Turbo-Kapitalismus in China nicht stoppen konnte
Lesen Sie im dritten Teil der Analyse:
- Wie China sich in einen Sozialstaat verwandelt
- Wie China sich für amerikanische Sanktionen wappnet
- Wie China Menschenrechte anders interpretiert als der Westen