Bei militärischen Auseinandersetzungen neigen die Menschen dazu, sich von ihren kulturell, religiös oder politisch-ideologisch verwurzelten Emotionen leiten zu lassen, was immer wieder zu Trugschlüssen führt.
Umso wichtiger ist es, die aktuelle Krise zwischen der Ukraine und Russland genau zu betrachten. Ein neuer indirekter bewaffneter Konflikt zwischen beiden Seiten rückt näher. Die Rebellen in den östlichen „Volksrepubliken Donezk & Lugansk“ agieren als Stellvertreter Russlands, während neben der regulären ukrainischen Armee eine Reihe von Milizen als Stellvertreter der Regierung in Kiew agieren.
Wenn ein bewaffneter Konflikt ausbrechen sollte, würden die pro-russischen Rebellen in jedem Fall versuchen, die strategisch wichtigste Hafenstadt Mariupol und vielleicht auch Berdjansk einzunehmen. Beide Städte bilden wichtige Zugänge der Ukraine zum Asowschen Meer. Das Asowsche Meer ist ein Nebenmeer des Schwarzen Meeres und mit diesem durch die Straße von Kertsch verbunden. Wenn den Rebellen ein derartiger Schlag gelingen sollte, würden sie die weitgehende Kontrolle über das Asowsche Meer erlangen. Allerdings ist davon auszugehen, dass in der nächsten Phase des Konflikts die ukrainische Luftwaffe eine wichtige Rolle spielen wird.
Der Konflikt wird sich somit voraussichtlich auf das Asowsche Meer erstrecken. Denn die Ukraine hatte als Reaktion auf den Bau einer russischen Brücke zwischen der Krim und dem russischen Festland angekündigt, einen neuen Marinestützpunkt im Asowschen Meer errichten zu wollen.
Die Jamestown Foundation berichtet, dass der ukrainische Präsident Petro Poroschenko am 23. September 2018 ein Dekret erlassen hat, wonach zwei ukrainische Marine-Zusatzboote, die A500 Donbas (Baujahr 1969) und die A830 Korets (1973), durch die Straße von Kertsch in den Hafen von Berdjansk geschickt werden sollen. Die Navigationsfreiheit zielte nicht nur darauf ab, das Recht der Ukraine auf Freizügigkeit durch die Meerenge zu bekräftigen, das Russland aufgrund der Einverleibung der Krim de facto von beiden Seiten beherrscht. Die Ukraine testete wahrscheinlich auch die russische Reaktion und beobachtete deren Aufklärung und Datenerfassungskompetenz. Der nördliche Durchgang von Donbass und Korets durch die Straße von Kertsch war schließlich Teil der Pläne der Ukraine, in Berdjansk einen neuen Marinestützpunkt zu errichten. In den vergangenen Wochen hatte Wolodomyr Selenskyj diesen Plan nochmals bekräftigt. Der Marinestützpunkt am Asowschen Meer soll der dritte Außenposten der ukrainischen Küste werden, der einen strategischen Stützpunkt bewacht. Die beiden anderen sind der westliche Marinestützpunkt (in Odessa), der für die Wahrung der Interessen der Ukraine im gesamten Schwarzen Meer verantwortlich ist, und der südliche Marinestützpunkt (Ochakiv und Mykolaiv), der den Dnjepr und dessen Delta verteidigen.
Die Fläche des Asowschen Meeres beträgt etwa 39.000 Quadratkilometer. Dort patrouillieren etwa 50 bis 70 Schiffe der russischen Küstenwache.
Die Jamestown Foundation führt aus, dass die Ukraine ein ganz bestimmtes Ziel verfolgt: „Erstens wägt Kiew die Möglichkeit ab, sich aus dem Abkommen von 2003 mit Russland zurückzuziehen, das das Asowsche Meer gleichermaßen aufteilt und verhindert, dass ausländische Kriegsschiffe ohne ihre Zustimmung das Meer betreten konnten. Durch den Austritt aus diesem Vertrag würden die Territorialgewässer der Ukraine und Russlands im Asowschen Meer nach internationalem Recht nur zwölf Seemeilen von ihren jeweiligen Küsten entfernt sein, während das Innere des Meeres zu internationalen Gewässern werden würde. Darüber hinaus würden die Kriegsschiffe der NATO legal in das Asowsche Meer eindringen.“
In diesem Zusammenhang ist die Hafenstadt Mariupol auch wichtig, weil es die zweitwichtigste Industriestadt der Donezk-Region ist. Die pro-russischen Rebellen könnten nach einer möglichen Einnahme von Mariupol und Berdjansk weiter entlang der Küstenregion des Asowschen Meeres vorrücken, um eine Landverbindung zur Halbinsel Krim zu schaffen. Diese wäre aus russischer Sicht weitaus praktischer als die sogenannte „Krim-Brücke“, die die Krim mit dem russischen Festland verbindet.
Schlussendlich werden die Entwicklungen auch stark davon abhängen, welche Antworten die USA, Kanada und Großbritannien gemeinsam mit der NATO parat haben. Es besteht aus Kiews Sicht die Gefahr, dass die westlichen Verbündeten bei ihrer Unterstützung für die Ukraine nicht über das Maß hinausgehen, das erforderlich wäre, um die angestrebten sicherheitspolitischen Ziele der Ukrainer zu erreichen.