Politik

Auch Biden praktiziert "America first": Die USA gehen auf Konfrontationskurs mit Russland und China

Lesezeit: 7 min
09.05.2021 12:04
Amerika will keine Zusammenarbeit mit Russland und China, sondern seine Vorherrschaft weiter ausbauen: Das schreibt DWN-Gastautor Rüdiger Tessmann im zweiten Teil seiner meinungsstarken Analyse.
Auch Biden praktiziert "America first": Die USA gehen auf Konfrontationskurs mit Russland und China
Der Flugzeugträger "USS Carl Vinson". (Foto: dpa)
Foto: Z.A. Landers

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Der Wunsch der USA, auch in Russland die Regierung von Präsident Putin auszuwechseln, wird von den Amerikanern gar nicht mehr geleugnet. Das propagandistische Schlachtross hierfür ist der oppositionelle Blogger Alexei Navalny, der wegen eines Wirtschaftsbetruges, begangen mit seinem Bruder Oleg gegen den französischen Kosmetikhersteller „Yves Rocher“, zu einer Haftstrafe verurteilt war und nach seiner vorzeitigen Freilassung gegen die Bewährungsauflagen verstieß. Die vorgeschriebene Meldung bei den Behörden versäumte er nicht wegen der Folgen seiner Vergiftung, sondern weil er zu dieser Zeit in Süddeutschland mit Hilfe eines Filmstudios aus Los Angeles einen zweistündigen Film in 3D-Animation produzierte, der ein riesiges Schloss am Schwarzen Meer zeigen soll, in dem Putin ein verborgenes Luxuseben führt. Eine Woche lang wurde der Film weltweit angeklickt, aber dann wegen seiner lächerlichen Unglaubwürdigkeit nicht mehr in den Medien erwähnt.

In der Strafanstalt trat er mit zu erwartender Medienwirksamkeit in den Hungerstreik. Für den Fall seines Todes wurden in westlichen Medien bereits strenge Strafmaßnahmen gegen Russland gefordert. Der beklagenswerte Zustand von Julian Assange in britischer Haftanstalt, der uns amerikanische Kriegsverbrechen im Irak verriet, ist dagegen nur für eine kleine Fan-Gemeinde erwähnenswert.

USA gegen China

Die Geschichte Chinas beginnt vor rund 3.000 Jahren mit den verschiedenen Kaiser-Dynastien. Die ethisch-philosophischen Grundlagen chinesischen Denkens wurden 500 Jahre vor Christi Geburt von Laotse (Lehre der Gelassenheit und der Kraft aus der Ruhe) und Konfuzius (Selbstdisziplin, Respekt vor Vorgesetzten, hohe Verantwortung der Staatsbeamten im Dienst der Harmonisierung der Gesellschaft) formuliert. Der Kaiser regierte mit einem Kreis von geschulten und staatlich geprüften Fachberatern. Eine Offenbarungsregion mit einem Gott irgendwo im Himmel existierte in China nie, und es gab seit der Han-Dynastie (200 v. Chr. bis 200 n. Chr.) auch keinen Klerus, der das Denken vorschrieb, und keine Adelsklasse, die die Politik bestimmte. Die Geschichte des Kampfes um Freiheit und Menschenrechte hat sich in China somit völlig anders als in Europa vollzogen, wo diese Rechte erst im 18. Jahrhundert formuliert wurden. Eine europäische Arroganz in dieser Beziehung ist also völlig unberechtigt. In China gab es zur Zeit der Han-Dynastie schon eine entwickelte Industrie, zum Beispiel die Stahlproduktion mit Tausenden Arbeitern.

Die Alte Seidenstraße verband China mit der arabischen Hochkultur der Kalifen von Bagdad, als in der west-europäischen Welt noch tiefstes Mittelalter herrschte. Zur Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert waren europäische Philosophen begeistert von der rationalen Weltanschauung der Chinesen, und Porzellan und Seide aus China sowie die dortige Architektur waren hoch geschätzt.

Angesichts der Zusammensetzung der heutigen Regierung der kommunistischen Partei darf man nicht an die vergreisende Gruppe von Funktionären der ausklingenden Sowjetunion oder der DDR denken. Man tut besser daran, die aktuelle chinesische Regierungsform mit den früheren Kaiser-Dynastien zu vergleichen, die China immer wieder zu hohen Blüten der Kultur und der Weltwirtschaft führten.

Mit dem Sieg Mao Ze Dongs 1949 im Bürgerkrieg über die von den USA bewaffnete Kuomintang-Armee fängt gewissermaßen eine neue chinesische Dynastie an. Es ist völlig unsinnig, wenn der Westen glaubt, den Chinesen das amerikanische Demokratie-Model aufzwingen zu können. Ihre 3000-jährige Geschichte und Denkweise ist anders und mit westlichen Vorstellungen nicht kompatibel.

Während der Studentenbewegung von 1968 schwenkten die demonstrierenden Studenten in Deutschland die Mao-Bibel, also „Die Worte des ersten Vorsitzenden Mao Ze Dong“, ein kleines in rotes Plastik gebundenes Büchlein, das von vielen belächelt, aber nur von wenigen gelesen wurde.

Dabei wäre es der Mühe wert gewesen, einige der Gedanken Mao Ze Dongs, die er in den Jahren 1955 bis 1958 formuliert hat, zu lesen. Hier einige kleine Auszüge, in denen Mao als wahrer Prophet erscheint:

Der Marxismus muss sich unbedingt vorwärts entwickeln, er muss sich mit dem Fortschreiten der Praxis entwickeln, er darf nicht stillstehen. Wenn seine Entwicklung aufhört, wenn er zur alten Garnitur wird, dann hat er keine Lebenskraft mehr.

Unser Staat ist ein Staat der demokratischen Diktatur des Volkes.

Ziel dieser Diktatur ist es, unser ganzes Volk bei seiner friedlichen Arbeit zu schützen, damit es China zu einem sozialistischen Land mit moderner Industrie, moderner Landwirtschaft und Kultur aufbaut.

Für das politische Leben unseres Volkes entscheiden richtige Worte und Taten: Richtig ist, dazu beitragen, das aus verschiedenen Nationalitäten bestehende Volk zu einigen, und es nicht zu spalten.

Wir müssen bescheiden und umsichtig sein, uns vor Überheblichkeit und Unbesonnenheit in Acht nehmen und mit Leib und Seele dem chinesischen Volke dienen.

Die Forderung, dass sich alle arbeitsfähigen Frauen nach dem Prinzip "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" in die Arbeitsfront einreihen.

Seit neun Jahren halten die USA-Imperialisten unser Territorium Taiwan besetzt. Vor kurzem haben sie ihre Streitkräfte zur Besetzung Libanons entsandt. Die USA haben in der ganzen Welt in vielen Ländern Hunderte von Militärstützpunkten errichtet. ... Alle amerikanischen Stützpunkte auf fremdem Hoheitsgebiet sind Schlingen um den Hals des amerikanischen Imperialismus … die Enden der Stricke haben das chinesische Volk und die arabischen Völker in der Hand.

Die Dinge entwickeln sich ständig. Seit der Revolution von 1911 sind nur 45 Jahre vergangen, und das Antlitz Chinas hat sich völlig verändert. Nach weiteren 45 Jahren, das heißt im Jahre 2001, wenn wir ins 21. Jahrhundert eingetreten sein werden, wird sich das Aussehen Chinas noch mehr verändert haben. China wird zu einem mächtigen, sozialistischen Industrieland geworden sein. So muss es kommen. Wir müssen aber bescheiden sein, und zwar nicht nur heute, auch nach 45 Jahren, für alle Zukunft. In den internationalen Beziehungen müssen die Chinesen den Großmacht-Chauvinismus entschlossen, gründlich, restlos und vollständig beseitigen.

China ist seit 2.000 Jahren ein Vielvölkerstaat mit den Tibetern im Süden und den Uiguren im Nord-Westen. Separatistische Rebellen in Tibet wurden von den USA mit Waffen und mit Geld unterstützt, bis die Regierung Nixon die Hilfe der Chinesen brauchte, um den verlustreichen Vietnamkrieg zu beenden. Das Hochgebirgsland wurde mit erheblichen Mitteln modernisiert. Die gelegentlichen Besuche des Dalai Lama in Europa haben keine wesentliche propagandistische Wirkung mehr.

Die Uiguren in Sinkiang sind Nachfahren des großen Mongolenreiches, das im 14. Jahrhundert zum islamischen Glauben übertrat. Das Nachbarvolk sind die Kasachen, dessen islamische Aufstandsbewegungen von der Sowjetunion niedergehalten werden mussten. Eine Belebung des Islam zur Abspaltung von der Zentralregierung Peking war zu befürchten, und es kam auch zu islamisch-terroristischen Vorfällen, wie wir sie auch in Europa kennen und bekämpfen.

Die USA brandmarken die Eindämmung der islamischen Sezessions-Revolten mit Umerziehungslagern für Islamisten in Singkiang als groben Verstoß gegen die Menschenrechte. Gleichzeitig stellt die Bekämpfung des islamischen Terrors für die Amerikaner einen Vorwand für jedwede Kriegsführung in arabischen Ländern dar. Die häufige Verwendung der Uiguren als propagandistisches Kampfmittel des Westens gegen China müssen wir somit als doppelzüngige Heuchelei erkennen. Es geht weder bei Navalny in Russland, noch bei den Uiguren in China um das Wohlergehen dieser Menschen, sondern um den propagandistischen Nutzen für die westliche Dominanz gegenüber Russland und China.

Wird nach Donald Trump alles besser?

Nach dem Poltergeist Donald Trump setzte man große Hoffnungen auf Joe Biden, und der begann seine Präsidentschaft mit den Worten: „Amerika is back! - Diplomacy is back!“

Aber wie hat diese Diplomatie bisher ausgesehen?

In Interviews behauptete der US-Präsident, Putin sei ein seelenloser Killer, dessen Tyrannei er beenden wolle, und Biden Außenminister Blinken lud eine hohe chinesische Delegation nach Anchorage (US-Bundesstaat Alaska) ein und beschimpfte sie mit einer langen Wortkanonade. Wahrscheinlich wusste er nicht, dass er damit gegen ein uraltes chinesisches Gesetz der Höflichkeit gegenüber Gästen verstoßen hat. Ganz sicher wird er damit nicht erreichen, dass China sein politisches Handeln ändern wird.

Kaiser Wilhelm II bestellte 1901 den Bruder des chinesischen Kaisers, Prinz Tschun, nach Berlin, um ihn hinter dem Schreibtisch sitzend mit scharfen Worten abzukanzeln, während der chinesische Prinz vor dem Tisch stehen musste. Diese Zeiten sind vorbei!

Unsere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hielt am 17. April, wenige Tage nach ihrem Besuch beim neuen US-Verteidigungsminister Lloyd Austin, eine Rede, in der sie Russland als eine konkrete und unmittelbare Bedrohung Europas bezeichnete, weswegen sie eine Aufstockung unseres Rüstungsetat für unausweichlich hielt.

Es wird also in dieser angeblich neuen Diplomatie-Phase gegen China und Russland schärfer geschossen als vorher. Mit Worten, nicht Patronen – hoffentlich bleibt es dabei.

Amerikanische Alleinherrschaft oder Kollaboration in einer dreigeteilten Welt?

Der unverrückbare Plan der USA, erste und einzige Welt-Führungsnation zu bleiben und die Regeln der Weltwirtschaft und der Weltwährung für immer zu bestimmen, wobei der alte Kontinent die Funktion des kleinen Bruders zukommt, der für den Schutz auch seinen Preis bezahlen muss, wurde bisher ohne viel Murren akzeptiert, weil Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg bewundernswert war mit seinem Ideal von Freiheit und seiner lässigen Lebensart.

Die Verhältnisse haben sich jedoch geändert. Die USA bemühen sich, ihre bröckelnde Vormachtstellung mit wachsenden Militärausgaben zu sichern. Für uns Deutsche wäre – in dieser speziellen Konstellation aber auch allgemein – von größtem Interesse, eine freundschaftliche Beziehung zu dem großen russischen Nachbarvolk zu pflegen und das riesige aufstrebende China nicht nur als Handelspartner zu nutzen, sondern auch seine ganz andere Kultur besser verstehen zu lernen. Die Handelsbeziehungen zu beiderseitigem Nutzen wären dann auch eine Sicherung des Friedens. Mit der Pipeline „Nordstream 2“ hätten wir zu Russland und mit der Neuen Seidenstraße zu China Verbindungen, die vergleichbar wären mit dem Ergreifen von zwei ausgestreckten Händen.

In Deutschland ist derzeit kein potentieller Bundeskanzler in Sicht, der die Kraft und den Willen hätte wie einst Gerhard Schröder. Der beschied den USA - trotz aller Freundschaft - in Sachen Irak-Krieg: „Abenteuer machen wir nicht mit!“ In der Politik gibt es keine Freundschaft, sondern nur Interessen. Auf eine einige Stimme Europas können wir nicht zählen, denn die Briten sind schon ausgestiegen, die Polen und die Baltischen Staaten wollen mehr Nato und USA und weniger Europa, und die Ukraine ist nach dem Maidan-Putsch ein Riese auf tönernen Füssen, der von den USA gestützt wird, solange sie an der militärischen Einkreisung Russlands und an der Kontrolle des Schwarzen Meeres interessiert sind.

Sollten sich die Europäer, und damit auch wir Deutschen, auf das ewige Schutzversprechen der USA verlassen? Ist es wirklich klug, Russland und China als - mehr oder weniger ewige – Feinde zu betrachten? Der Leitartikler der italienischen Zeitung „Il Secolo XIX“, Domenico Quirico, schrieb zum Abzug der Amerikaner aus Afghanistan: „Um den dauernden amerikanischen Schutzversprechen zu glauben, muss man jeden Tag die Geschichte von Vietnam, von Iraq, von Somalia vergessen, und man muss das Vertrauen der alten Christen haben, die an das Kommen von Gottes Reich glaubten. Viele Afghanen glaubten daran.

Mit unserer dreigeteilten Welt - dem „Westen der Werte“ auf der einen sowie dem „aggressiven Russland“ und dem wirtschaftlich gefährlich „expansiven China“ auf der anderen Seite – nähern wir uns immer mehr einer Welt, die von Georg Orwell in seinem futuristischen Horror-Roman „1984“ beschrieben wird. Darin heißt der Westen „Ozeanien“, die Russen sind die „Eurasier“ und die Chinesen sind in dem Roman die „Ost-Asier“. Seit vielen Jahren herrscht Krieg zwischen Ozeaniern und Eurasiern sowie Ost-Asiern. Inzwischen sind Generationen in Ozeanien herangewachsen, die keine Erinnerung mehr haben an den Anfang und an die Ursachen des Krieges, und die auch noch nie einen lebenden Eurasier oder Ost-Asier gesehen haben. Der allgegenwärtige „Televisor“ versorgt die Ozeanier jedoch mit täglichen Hassmeldungen, so dass die Angst vor der Aggression der Eurasier und der Abscheu vor den Gräueltaten der Ost-Asier immer aufrechterhalten wird.

Der Kampf geht also weiter. Angesichts der vielfältigen Probleme auf unserer Erde hätten wir eigentlich andere Aufgaben zu bewältigen – was mit Gemeinsamkeit Zusammenarbeit, so viel steht fest, wesentlich besser zu bewerkstelligen wäre als mit andauernder Konfrontation.


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