Wer schon mal in den USA in einer Buchhandlung gewesen ist, der weiß: Bücher über die Arbeit von Justiz und Polizei finden sich dort zuhauf. Und zwar nicht nur alarmistische Reißer, die ans Reality TV deutscher Privatsender erinnern. Sondern auch viele gut geschriebene, inhaltlich anspruchsvolle Insider-Berichte, die einen authentischen Blick hinter die Kulissen der Strafverfolgungsbehörden liefern.
In Deutschland existiert eine solche Sachbuchkultur kaum. Richter, Staatsanwälte, Polizisten: Sie gewähren in der Regel keinen Einblick in ihre Arbeit. Aus Angst vor beruflichen Repressionen? Aus Furcht, die Grenzen der politischen Korrektheit zu überschreiten?
Ralph Knispel hat sich von solchen Bedenken glücklicherweise nicht abhalten lassen. Der Leiter der Abteilung „Kapitalverbrechen“ der Staatsanwaltschaft Berlin legt in seinem bei Ullstein erschienenen Buch „Rechtsstaat am Ende: Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm“ einen Finger in die Wunde. Und zwar sehr, sehr tief.
Im Prolog konstatiert der 60-Jährige, der die Hälfte seines bisherigen Leben im Dienst der Verbrechensbekämpfung zugebracht hat, dass bei der Bevölkerung zunehmend der Eindruck entstehe, es gäbe es einen „Freibrief für die Täter“. Das Vertrauen in den Rechtsstaat sei „massiv zerrüttet“ […] wenn nicht gar bereits verloren gegangen“. Und dass die politisch Verantwortlichen – im weiteren Verlauf des Buches kommt er mehrmals auf den amtierenden Berliner Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) zu sprechen – „über diese wachsenden Zweifel wahlweise beschwichtigend hinweggehen oder sie achselzuckend fast schon als Fakt akzeptieren“.
Und dann legt er los und beschreibt im Detail die oft haarsträubenden Zustände im deutschen Justizwesen, die eine wirkungsvolle Verfolgung von – teilweise schwersten Delikten – in hohem Maße erschweren und dafür sorgen, dass viele Straftäter nie zur Verantwortung gezogen werden.
Unter anderem beschreibt Knispel, der auch Vorsitzender des Vereins „Vereinigung der Berliner Staatsanwälte“ ist, wie er und seine Kollegen sich telefonische Auslandsgespräche aufwendig genehmigen lassen müssen, ihre Computer während stundenlanger IT-Wartungsarbeiten nicht nutzbar sind, sie keine farbigen, sondern lediglich schwarzweiße Abbildungen von Verdächtigen ausdrucken können und last, but not least, Drogenhändler anklagen in Hochsicherheits-Verhandlungen, die wegen Raummangels in Theatern und Kultureinrichtungen geführt werden. Er zitiert die Präsidentin des Berliner Landgerichts, die 2017 an die Justizverwaltung schrieb: „Wir sind am Ende. Wir können nicht mehr.“ Und schließlich weist er darauf hin, dass die Verhältnisse nicht besser, sondern schlechter zu werden drohen, denn: Bis 2030 gehen deutschlandweit mehr als zwei von fünf (41 Prozent) aller Richter und Staatsanwälte in Pension.
Angesichts dieser Umstände wundert es nicht, dass in der Zeit von 2015 bis 2019 im Durchschnitt jedes Jahr 54 Untersuchungsgefangene, die teils schwerster Verbrechen verdächtig waren, wegen Fristüberschreitung entlassen werden mussten. Das entspricht einem Verdächtigen pro Woche! Auch, dass ein Einbrecher zu 97,4 (!) Prozent davon ausgehen kann, unbestraft auf freiem Fuß zu bleiben, passt in dieses Bild.
Knispels Buch ist jedoch nicht nur eine Darstellung des Zustands, in der sich unsere Justiz befindet, nein, es ist mehr. Es ist eine Zustandsbeschreibung unserer Gesellschaft. Wer liest, wie die Beratungsfirma „PricewaterhouseCoopers“ (pwc) von den Berliner Landesjustizbehörden zur Planung des Personalbedarfs damit beauftragt wird, herauszufinden, wie lange Richter und Staatsanwälte für die Erledigung einer Strafsache benötigen (für eine Ordnungswidrigkeit im Straßenverkehr sind es 39 Minuten, für ein Kapitalverbrechen 31 Stunden und 49 Minuten), dem dürfte spätestens jetzt klar werden, welche Folgen die vollständige Durchökonomisierung aller Lebensbereiche für unsere Gesellschaft hat („Urteile, die wie am Fließband gefällt werden sollen, Gerechtigkeit nach der Stoppuhr – das kann nicht funktionieren“, kommentiert Knispel). Auch, dass im Sinne falschverstandener Toleranz die Bekämpfung der Clankriminalität jahrzehntelang sträflich vernachlässigt wurde und dass sich immer mehr gesellschaftliche Gruppierungen im Namen einer angeblich höheren Moral anmaßen, über dem Gesetz zu stehen (selbst die Kirchen!), zeigt nur zu gut, welche Entwicklung unser Gemeinwesen genommen hat.
Mag sein, dass Knispel an einigen Stellen die Lage gar zu schwarzsieht. Doch wer mag jemandem, der tagtäglich mit den Auswüchsen des Systems konfrontiert ist (unter anderem wurde er vom Anführer eines der berüchtigsten Berliner Clans nach einem Prozess massiv verbal angegangen), das verdenken? Knispel ist aufrichtig und objektiv genug, um Innenminister Horst Seehofer zu zitieren, der 2018 darauf hinwies, dass Deutschland eines der sichersten Länder der Welt sei. Nur, was nützt diese Einsicht demjenigen, der Opfer einer Straftat geworden ist (von denen es im Jahr 2020 hierzulande übrigens über 5,3 Millionen gab)? Und sollte es für die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt, für eine äußerst hoch entwickelte Industrie- und Kultur-Nation nicht selbstverständlich sein, dass innerhalb ihrer Grenzen ein höheres Maß an Sicherheit herrscht als in weitaus ärmeren Ländern, die einen geringeren Grad an staatlicher Organisation aufweisen?
Jeder, dem die Zukunft unseres Landes, unseres Gemeinwesens am Herzen liegt, wird „Rechtsstaat am Ende“ mit Gewinn lesen. Fazit: Absolut empfehlenswert!
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Jeden Tag erlebt Oberstaatsanwalt Ralph Knispel den Bankrott von Recht und Gesetz aufs Neue. Hier legt er offen, wie es um die deutsche Justiz wirklich steht. Und entwickelt konkrete Ideen, mit denen sich die verlorene Macht zurückgewinnen lässt.
Ralph Knispel: „Rechtsstaat am Ende: Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm“. Ullstein Verlag, 240 Seiten, 22,99€. Bestellen Sie das Buch hier direkt beim Verlag.
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