Politik

Verfehlte Strategie: Die Nato geht gegen Russland vor - während China sich anschickt, die Welt zu beherrschen

Lesezeit: 7 min
19.06.2021 11:03  Aktualisiert: 19.06.2021 11:03
Die große Grundsatz-Analyse von DWN-Kolumnist Ronald Barazon: Die Nato positioniert sich gegen Russland, ganz so, als sei der Kalte Krieg nicht vor 30 Jahren zuende gegangen. Währenddessen macht sich China daran, immer größere Teile der Welt unter seine Kontrolle zu bringen - ohne irgendwelche Gegenmaßnahmen des Westens befürchten zu müssen.
Verfehlte Strategie: Die Nato geht gegen Russland vor - während China sich anschickt, die Welt zu beherrschen
Kampfflugzeuge der beiden Nato-Mitglieder Türkei und USA bei einem Manöver. (Foto: dpa)

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  

Der NATO-Gipfel, der diese Woche in Brüssel stattfand, verkam zu einer Neuauflage alter Parolen. Wie immer wurde Russland zur größten Bedrohung hochstilisiert, als ob noch der Kalte Krieg des 20. Jahrhunderts auf dem Programm stünde. Das wirtschaftlich stark angeschlagene und damit in seinen Möglichkeiten enorm eingeschränkte Riesenreich diente wieder einmal als Rechtfertigung für eine gigantische, hunderte Milliarden Euro teure Aufrüstung. Die tatsächliche Gefahr für den Westen, der geschickt orchestrierte und für alle Bereiche geltende Aufstieg Chinas zur unumstrittenen Weltmacht Nummer eins, wurde als interessante Herausforderung bagatellisiert, über die man in einer nun gestarteten Erneuerungsphase zu diskutieren gedenke. Ergebnis: Peking kann seine Unterwanderung des Westens ungestört fortsetzen, während die NATO mit sich selbst und mit Russland beschäftigt ist.

Der entscheidende Krieg des 21. Jahrhunderts findet nicht zwischen Armeen statt

Die Politik der NATO beruht auf einem grundsätzlichen Denkfehler. Man glaubt an eine Fortsetzung der Jahrhunderte lange Geschichte der Kriege, in denen ein Heer dem anderen gegenüberstand und meist jene Seite den Sieg errang, die weniger Tod und Zerstörung zu beklagen hatte. In diesem Sinne forciert der Westen auch heute die Aufrüstung, um im Ernstfall seinem Gegner mehr Schaden zuzufügen als man selbst erleiden wird.

Russland ist zu einer derartigen Auseinandersetzung aus wirtschaftlichen Gründen nicht in der Lage und beschränkt sich auf einzelne Aktionen, wie etwa in der Ukraine oder in Syrien. Die Vorbereitung der NATO auf einen großen Krieg zwischen dem Westen und Russland ist übertrieben, ja sinnlos und nützt nur der Waffen-Industrie.

China bereitet, zumindest derzeit, einen großen Krieg im traditionellen Sinne nicht vor. Aber: Aktuell ist die chinesische Führung unter ihrem machthungrigen Präsidenten Xi Jinping bestrebt, weltweit möglichst viele Länder, staatliche Institutionen und Unternehmen von sich abhängig zu machen. Aus dieser Politik besteht der aktuelle (Wirtschafts)Krieg, der derzeitige Eroberungszug – und für eine solche Auseinandersetzung nützt dem Westen eine waffenstarrende Nato überhaupt nichts. Im Gegenteil – sie bindet eher wirtschaftliche Ressourcen.

China hat schon viele unsichtbare „Schlachten“ für sich entschieden

Chinas Feldzug ist bereits weit fortgeschritten, und seine Ergebnisse sind schon erkennbar.

  • Ein westliches Unternehmen nach dem anderen wurde und wird vom Reich der Mitte aufgekauft. Harmlos? Nur ein willkommener Geldsegen für die Eigentümer? Oder der Beginn von Chinas wirtschaftlicher Vormachtstellung, seiner Dominanz der Industrieverbände und Wirtschaftskammern? Und auf diesem Wege Einflussnahme auf die Wirtschaftspolitik der westlichen Staaten?
  • Ein Hafen in Griechenland gehört China, ein Hafen mitten in Deutschland faktisch ebenso, in französischen und anderen europäischen Häfen hat China entscheidende Mitspracherechte. Nur eine von vielen Investitionen? Oder Schritt für Schritt die Beherrschung der Handelsrouten nach und von Europa?
  • Der Westen, also die USA und Europa, haben in China eine gigantische Industrie aufgebaut, weil man die niedrigen Löhne genutzt hat, um seine Produkte herstellen zu können. Mit dieser immer noch andauernden Unternehmenspolitik hat man China zur wirtschaftlichen Weltmacht gemacht. Die gierigen Unternehmer aus dem Westen haben die Realität ausgeblendet: Bei jeder Investition war und ist ein chinesischer Partner mit an Bord; in jeder Fabrik ist ein Vertreter der Kommunistischen Partei Chinas aktiv, jede Überweisung in den Westen läuft über das staatlich kontrollierte Bankensystem – und nicht selten erstaunlich langsam.
  • Derzeit kommen die Lieferungen aus China nur verzögert im Westen an. Nur eine Folge der Corona-Krise, in der lange vergleichsweise wenig geordert wurde und nun die gestiegene Nachfrage für Engpässe sorgt? Oder ein Probelauf der chinesischen Führung, wie man den Westen unter Druck setzen kann?
  • In den vergangenen Monaten haben chinesischen Hacker mehrmals in Microsoft-Systeme Computer-Viren eingeschleust. Ohne weitere Aktivitäten vorzunehmen – es fanden keine Störungen statt, es wurde kein Lösegeld verlangt. Aber jetzt ist China in der Lage, Microsoft-Programme lahmzulegen, die weltweit fast in jedem Unternehmen, in jeder Regierungsstelle, in jeder Armee, in jedem Transport-Unternehmen zum Einsatz kommen. Nur ein Spaß, um zu zeigen, wie tüchtig chinesische Programmierer sind? Oder ein Trojanisches Pferd in den Schaltstellen von Wirtschaft, Verwaltung und Landesverteidigung des Westens?
  • Durch die Forcierung der alternativen Energien bewegt sich der Westen, insbesondere Europa, auf einen totalen Stromausfall zu. Vor wenigen Wochen schrammte der Kontinent knapp an einer Katastrophe vorbei. Da der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht durchgehend scheint, muss die Basisversorgung anders gesichert werden. Doch wie? Kohle, Gas, Öl und Atomkraft werden von der einflussreichen Umweltbewegung abgelehnt – was dazu führt, dass die Sicherung der Grundlast gefährdet ist. Ein Dilemma – aber schon bietet sich ein Retter an. Wer das ist? China natürlich! Die Volksrepublik ist im Begriff, ein weltweites Stromnetz aufzubauen, das immer lieferbereit sein soll, weil in China ungehindert alle Energieträger für die Stromerzeugung zum Einsatz kommen.
  • Derzeit explodiert der Strombedarf durch die Digitalisierung, für die immer mehr Geräte benötigt werden. Diese verbrauchen – in Cloud-Fabriken gebündelt – enorm viel Strom. Die Nachfrage nach Krypto-Währungen sorgt für zusätzlichen Bedarf, da das Schürfen von Bitcoin und Co ebenfalls in gigantischen Computerzentralen stattfindet. Eine weitere – enorme – Nachfragewelle dürfte in Kürze die Elektro-Mobilität auslösen.
  • Das Bevölkerungswachstum und die Vernichtung vieler Agrarflächen durch Siedlungen und Fabriken weisen den Weg in einer Ernährungskrise. Das Problem ist im Westen allerdings nicht akut und wird daher nicht zur Kenntnis genommen. China ist sich des Problems jedoch absolut bewusst. Man hat deshalb riesige Flächen in Afrika erworben und den Kontinent zur Kornkammer – vorerst – für das eigene Land gemacht. Und morgen für die Welt? Welches gewaltige Machtpotential wäre damit verbunden!

China stellt sich nicht dem Wettbewerb und betreibt eine Politik der gezinkten Karten

Es ist durchaus möglich, dass China eines Tages an globalen Eroberungskriegen militärischer Art interessiert sein könnte. Derzeit beschränkt man sich allerdings noch auf die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und bedroht „nur“ Taiwan. Doch auch wenn das Reich der Mitte auf den Einsatz militärischer Mittel vorerst noch verzichtet, betreibt es die schrittweise Eroberung der Welt. Man könnte die Meinung vertreten, dass der Erfolg der Tüchtigen zu akzeptieren sei, schließlich stünde jedem die Welt offen. Genau dieses Argument stimmt aber im Bezug auf China nicht, weil sich das Land systematisch gegen Aktivitäten aus dem Westen abschottet und ausländische Unternehmen nur dann auf seinem Boden zulässt, wenn sie akzeptieren, dass der chinesische Staat sie umfassend kontrolliert. Das ist eine Politik mit gezinkten Karten, die keinen fairen Wettbewerb ermöglicht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat zum Jahresende 2020 ein Abkommen mit China schließen wollen, das den Abbau der bestehenden Barrieren ermöglichen und die Volksrepublik in den freien Welthandel einbinden sollte. Angesichts der tatsächlichen chinesischen Politik muss diese Initiative als Illusion bezeichnet werden, und so kommt es – glücklicherweise – zumindest vorerst nicht zu einer Ratifizierung durch das EU-Parlament oder durch die Mitgliedstaaten. Frau Merkel war es auch, die beim Nato-Gipfel die von US-Präsident Joe Biden angestrebte schärfere Erklärung gegen China verhindert hat und für einen Dialog mit Peking eintrat und weiter eintreten wird (wollen wir hoffen, dass ihr Nachfolger die Dinge klüger angeht). Generell wurde beim Treffen der mächtigsten westlichen Politiker deutlich, dass in den USA die Dimension der chinesischen Bedrohung klar gesehen wird, dass Joe Biden nicht poltert wie Donald Trump, aber konkrete Maßnahmen zur Abwehr der chinesischen Ambitionen einleiten will – das macht Hoffnung.

Zur Verteidigung bedarf es nicht „noch mehr Raketen“, sondern einer Politik der wirtschaftlichen Stärke

Wie auf diese Aggression reagieren? Das Gebot der Stunde wäre eine Politik der wirtschaftlichen Landesverteidigung, die die NATO als Verteidigungsorganisation von 30 Staaten zu steuern hätte:

  • Im Mittelpunkt müsste eine westliche Industriepolitik stehen, die die Abhängigkeit von China reduziert. Der Zeitpunkt ist günstig, weil die Löhne in China stark gestiegen sind und weiter steigen, sodass die Vorteile der Billigproduktion schwinden. US-Präsident Biden plant bereits ein solches Vorgehen: Das von seiner Administration aufgelegte Konjunkturprogramm sieht massive staatliche Förderungen der US-Industrie vor.
  • Notwendig wäre ein Verbot des Verkaufs westlicher Unternehmen an chinesische Investoren, solange China nicht einen freien Zugang zum chinesischen Markt ermöglicht.
  • Dringend geboten ist der Aufbau einer unabhängigen Energieversorgung. In den vergangenen Jahrzehnten war man (und ist derzeit immer noch) auf das Öl der OPEC-Staaten und das russische Gas angewiesen, jetzt kündigt sich eine Abhängigkeit von China an.
  • Will der traditionelle Agrarkontinent Europa die Ernährung der heute 7,5 und in wenigen Jahren 9 Milliarden Menschen zählenden Weltbevölkerung wirklich China überlassen?
  • Der Krieg von heute findet im Internet statt, doch die Nato hat bislang keine wirksame Cyber-Strategie entwickelt. Mehr noch: Die Staaten verhindern im Interesse der Geheimdienste, der Polizei und der Finanzbehörden einen wirksamen Schutz der IT-Anlagen, weil die Regierungen es für notwendig erachten, dass die Behörden in jeden Computer eindringen können. Als Folge sind die Programme und die Netze nicht sicher - die kriminellen Hacker, also die Geheimdienste Chinas und anderer Staaten, nützen die vorhandenen Zugänge, die es Profis ermöglichen, bequem an jeder Firewall vorbeizukommen. Das im Aufbau befindliche 5G-Netz könnte Hacker-sicher gestaltet werden, doch das haben die Regierungen – westliche genauso wie autoritäre – wirksam verhindert. Dass die Software-Giganten ebenfalls gerne eifrig ihre Kunden ausspionieren, sei in diesem Zusammenhang nicht vergessen.

Eine zeitgemäße Verteidigungspolitik bestünde in einem umfassenden und vielschichtigen Programm, das militärische, zivile und wirtschaftliche Elemente umfassen müsste. Tatsächlich ist dieses breite Spektrum auch in den Nato-Statuten vorgesehen, tatsächlich wurde von dieser Dimension beim Nato-Gipfel auch gesprochen. Aber: Zur Debatte steht, dass man bis 2022 einen Rahmen für diese Anliegen entwickeln und bis 2030 das neue Verteidigungskonzept erstellen will. Als ob China jetzt neun Jahre lang seine Aktivitäten einstellen und auf die neue Nato warten würde …

Keine zeitgemäße Politik – stattdessen nur das gewohnte Säbelrasseln gegen Russland

Was konkrete Aktionen der Nato anbelangt, so dienen diese derzeit nicht der Eindämmung Chinas, sondern beschränken sich auf die Fortsetzung der alten Anti-Russland-Politik. Wie schon seit Jahren nimmt die Nato-Führung unter Jens Stoltenberg nicht zur Kenntnis, dass Moskau zwar akzeptiert hat, dass die Staaten vom Baltikum bis nach Rumänien in die Nato eingetreten sind, aber Georgien, Ukraine und Weißrussland als unbedingt notwendige Pufferzone betrachtet. Das Nato-Liebeswerben um die Ukraine hat - auch das wird ausgeblendet - erst die Annexion der Krim ausgelöst. An der Krim ankert seit jeher die russische Schwarzmeerflotte, die auch für das Mittelmeer zuständig ist, und diese (die Krim) will und kann Moskau nicht als Teil eines Nato-Landes akzeptieren.

Die Taktik, von Strategie kann man hier nicht sprechen, ist offenkundig: Man reizt Russland, bis entsprechende Reaktionen kommen, dann wird laut über den Aggressor geklagt und hat die Rechtfertigung, weitere Milliarden in Rüstungsanlagen rund um Russland zu stecken. Weder Georgien noch die Ukraine wurde oder wird in die Nato aufgenommen, das wäre doch zu brisant, aber man versichert die Regierungen wortreich des Beistands und der Sympathie. Russland ist naiv genug, seinen Beitrag zu leisten, um die skurrile Nato-Politik zu rechtfertigen. Vor kurzem hielt man an der ukrainisch-russischen Grenze ein Manöver ab, das die Ukraine und der Westen - nicht unberechtigt - als mögliche Vorbereitung für den Einmarsch in die Ukraine deuteten. Die russischen Soldaten zogen recht bald wieder ab, aber im Nato-Hauptquartier hatte man neue Argumente, die die Behauptung, von Russland ginge eine große Gefahr aus, unterstützten. Und so wurde in der Abschlusserklärung des Nato-Gipfels Russland wieder an den Pranger gestellt und ausdrücklich die Unterstützung Georgiens und der Ukraine betont.

Man könnte meinen, Xi Jinping hätte Wladimir Putin ausgetrickst – und zwar, indem er ihn dazu brachte, zu glauben, das Manöver sei eine gute Idee. So befasst sich die Nato weiter mit Russland – und China kann weiter ungestört daran arbeiten, die Welt zu erobern …

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


Mehr zum Thema:  

DWN
Unternehmen
Unternehmen Kurzarbeit: Rettungsleine für Unternehmen und Mitarbeiter in Krisenzeiten
10.10.2024

Kurzarbeit als flexibles Instrument: Unternehmen können in Krisenzeiten Arbeitsplätze sichern und Mitarbeiter halten. Doch welche Formen...

DWN
Politik
Politik Der Pleitegeier kreist: Insolvenzen in Deutschland steigen auf Rekordwert
10.10.2024

Traurige Höchstmarke: Fast 4000 Insolvenzen gab es alleine im 3. Quartal 2024. Zugleich schrumpft die deutsche Wirtschaft in 2024 um 0,2...

DWN
Weltwirtschaft
Weltwirtschaft Konsumwandel: Action und Woolworth im Aufwind, Aldi und Lidl im Rückgang
10.10.2024

Zahlreiche Kunden legen großen Wert auf Preise, was Unternehmen wie Action, Tedi und Woolworth zusätzlichen Zulauf verschafft. Die...

DWN
Technologie
Technologie Durch Trick: Intel-Werk in Magdeburg könnte 40 Prozent günstiger werden
10.10.2024

Der US-Konzern Intel hat den Bau seiner großen Chipfabrik in Magdeburg verschoben. Wenn das Projekt nicht komplett abgesagt wird, könnte...

DWN
Politik
Politik Marode Infrastruktur belastet deutsche Unternehmen
10.10.2024

Kaputte Straßen, verspätete Züge, einstürzende Brücken. Die deutschen Verkehrswege sind in der Krise - Unternehmen klagen über...

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienmarkt Ost-West: Warum der Traum vom Eigenheim für viele unerreichbar bleibt
10.10.2024

Der Immobilienmarkt in Deutschland ist tief gespalten – und die Ursachen liegen nicht nur in der Gegenwart. Besonders im Osten, wo der...

DWN
Immobilien
Immobilien Ungerechte Vermögensverteilung in Ost und West: Wer Haus oder Wohnung erbt, ist stets im Vorteil - die Wut darüber greift um sich
10.10.2024

Die Wahlen in den ostdeutschen Ländern werden aller Voraussicht nach zum Vorzeichen für die kommende Bundestagswahl in Deutschland. Nicht...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Tarifstreit: Harte Verhandlungen bei Bund und Kommunen kündigen sich an - Beamte wollen mehr Geld
10.10.2024

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen steuern auf harte Tarifverhandlungen zu. Die...