Politik

Jeder gegen jeden: Die Nationen reaktivieren ein altes Konzept - und steigern so die Kriegsgefahr in Europa

Lesezeit: 4 min
10.07.2021 09:18
Der Historiker Harold James von der US-Elite-Universität Princeton warnt davor, eine Denkschule wieder salonfähig zu machen, die seiner Meinung nach den Frieden gefährdet und sich schon lange überlebt hat. Interessanterweise sind DWN-Chefredakteur Hauke Rudolph und DWN-Redakteur Cüneyt Yilmaz Anhänger genau dieser Denkschule.
Jeder gegen jeden: Die Nationen reaktivieren ein altes Konzept - und steigern so die Kriegsgefahr in Europa
Wiederaufführung der Schlacht bei Borodino, in der am 7. September 1812 Napoleons Grande Armée die russischen Streitkräfte unter General Michail Kutusow besiegte. (Foto: dpa)
Foto: Yuri Kochetkov

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Jede Hoffnung, dass Donald Trumps Abschied vom Weißen Haus der Welt zumindest ein Minimum an Ruhe zurückgeben würde, muss nun begraben werden. Es gibt nämlich bereits eine äußerst gefährliche neue internationale Bedrohung: Die Rückkehr der „Geopolitik“ als Instrument zur Gestaltung der internationalen Sicherheitslage.

Man denke an die Ereignisse der vergangenen sechs Monate. Schon wenige Wochen nach US-Präsident Joe Bidens Amtseintritt geriet sein Außenminister, Antony Blinken, bei einem bilateralen Treffen in Alaska in einen außergewöhnlichen Streit mit seinem chinesischen Amtskollegen. Die USA sind sich zudem mit der Europäischen Union über die Pipeline „Nord Stream 2“ - die russisches Erdgas direkt nach Deutschland liefern soll und dabei die Ukraine umgeht und somit schwächt – in die Haare geraten. Und die EU ihrerseits hat unter Verweis auf die chinesische Politik in Xinjiang härtere Sanktionen gegenüber China verhängt, worauf die Volksrepublik mit eigenen Sanktionen reagierte.

Im Juni dann beschwor ein Zwischenfall im Schwarzen Meer, in den die russische und die britische Marine verwickelt waren, Parallelen zum Krimkrieg der 1850er Jahre herauf. Und ein Treffen zwischen Biden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin tat wenig, um die Spannungen zwischen den USA und Russland zu verringern. Bidens erstes Treffen mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping wird, wenn es irgendwann kommt, kaum herzlicher ausfallen. Die G7 ist derzeit dabei, sich neu zu erfinden als Club reicher Demokratien, die die „grundlegenden Verkehrsregeln“ für die übrige Welt aufstellen – ungeachtet der Tatsache, dass andere mächtige Länder kein Interesse an Regeln haben, die von anderen gemacht werden.

Der am häufigsten verwendete Begriff zur Beschreibung dieser Entwicklungen, von denen die meisten nur die Fortsetzung bereits bestehender Konflikte sind, ist „Geopolitik“. So wird etwa von Russland gesagt, dass es die sowjetische Tradition

fortsetze, andere durch Einsatz seiner Energie-Exporte von sich abhängig zu machen. Entsprechend wiederholt sich mit „Nord Stream 2“ ein Ereignis, das bereits vier Jahrzehnte her ist, nämlich US-Präsident Ronald Reagans Kampf gegen die deutsche Beteiligung am Bau einer sowjetischen Pipeline. Blinken nennt Nord Stream 2 ein „russisches geopolitisches Projekt, um Europa zu spalten“.

Als klassisch mehrdeutiges Konzept wird Geopolitik sowohl in unschuldiger als auch in bedrohlicher Weise verwendet. Für einige dient sie eher als geografisches Erklärungsmuster. Für andere jedoch läuft sie auf einen geografischen Determinismus heraus, der einen endlosen Konflikt impliziert, in dem Raum mehr bedeutet als Ideen und Landkarten mehr als Menschen. Die Gefahr des Begriffs liegt in dem ihm innewohnenden Nihilismus begründet: Er führt uns zu der Annahme, dass niemand ernsthaft an Werten interessiert sein kann, weil es so etwas wie ein universelles Gemeinwohl nicht gebe.

Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Scheitern der gefährlich ehrgeizigen weltpolitischen Vision Deutschlands unter Kaiser Wilhelm II. war ein neues Leitmotiv vonnöten. Geliefert wurde dieses von Karl Haushofer, einem Offizier und Strategie-Theoretiker an der Bayrischen Kriegsakademie in München, der stark von einem relativ kurzen Einsatz als Militärattaché in Tokio beeinflusst worden war. Das Wort Geopolitik selbst war im Jahr 1900 von dem schwedischen Politiker Johan Rudolf Kjellén geprägt worden; Haushofer übernahm es mit Begeisterung.

Es war Haushofer, der als Erster die Geografie mit der Zwangsläufigkeit von Konflikten verschmolz und die gesamte internationale Politik als erbitterten, aber unvermeidlichen Nullsummenkampf zwischen reichen und armen Ländern fasste. Er betrachtete es als seine Mission, eine neue politische Wissenschaft ins Leben zu rufen: die „Lehre der politischen Lebensform im natürlichen Lebensraum“. Die Geopolitik war die „Lehre von der Erdgebundenheit der politischen Vorgänge“ und musste daher letztlich „das Gewissen des Staates“ werden.

Ab den 1920er Jahren erlangte Haushofer rasch Bewunderer unter den marginalisierten Elementen der internationalen Ordnung. Adolf Hitler, der sein Buch Mein Kampf dem Haushofer-Anhänger Rudolf Hess diktierte, könnte durchaus von diesem Denken beeinflusst worden sein. Karl Radek, Sekretär der Komintern, war mit Sicherheit beeindruckt (es gab sogar eine sowjetische Zeitschrift für Geopolitik). Und inzwischen feiert das geopolitische Denken nach dem demütigenden Zusammenbruch der Sowjetunion mit Wucht sein Comeback in der russischen Politik. Der quasifaschistische strategische Analyst Aleksandr Dugin, von dem allgemein angenommen wird, dass er Putins Weltbild beeinflusst hat, hat sich Haushofers Denken begeistert zu eigen gemacht.

Es gibt hier ein gemeinsames Muster: Die Geopolitik scheint der bevorzugte Begriff historischer Verlierer zu sein, die ihren Bemühungen, ein siegreiches intellektuelles Projekt der internationalen Zusammenarbeit einzureißen, einen zynischen Dreh geben wollen.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, verfolgte ganz bestimmt eine andere, unschuldigere Absicht, als sie erklärte, sie würde eine „geopolitische Kommission“ leiten. Ihr ging es darum, die neue Kommission von einer „politischen“ Kommission zu unterscheiden, die sich in die inneren Angelegenheiten der EU-Mitgliedstaaten einmischen würde, und der Begriff schien nahezulegen, dass Europa einen offenen Dialog mit anderen verfolgen würde. In einer globalisierten Welt, so dachten viele Europäer, bräuchte Europa ganz offensichtlich eine Stimme, und sie konnten das Argument nachvollziehen, dass selbst große Mitgliedstaaten wie Frankreich, Deutschland oder Italien auf sich allein gestellt keinen Einfluss ausüben könnten.

Doch unter den derzeitigen Umständen nimmt sich geopolitisches Gehabe einmal mehr als Ausgleich für die eigene Machtlosigkeit aus. Die mit der alten, traditionellen Geopolitik verbundenen schlechten Symptome treten wieder auf und behindern Lösungen für globale Probleme wie die COVID-19-Pandemie, die nicht enden wird, bevor nicht weltweit durchgeimpft wurde.

Die undifferenzierte Verwendung des Begriffs „Geopolitik“ erreicht gar nichts, denn sich darauf zu berufen, ist kein Ersatz für substanzielle Diskussionen und ein offenes Ansprechen unterschiedlicher Auffassungen. Ein auf Großmachtkonflikte ausgerichtetes Denken sowie Streit darüber, wer der größere Heuchler ist, wird weder internationale Meinungsverschieden beilegen noch gemeinsame Probleme lösen. Die einzige Möglichkeit, um letzteres zu erreichen, ist, sich darauf zu konzentrieren, gemeinsame Lösungen zu finden.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Harold James ist Professor für Geschichte und Internationale Politik an der renommierten Princeton University.

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