Weltwirtschaft

Vor 50 Jahren wurde der Goldstandard aufgehoben: Steht uns ein ähnlich einschneidendes Ereignis bevor?

Lesezeit: 10 min
29.08.2021 08:03
Vor 50 Jahren verbrachten sechs Männer ein Wochenende in einer Ferienanlage am Fuße des Appalachen-Gebirges im US-Bundesstaat Maryland. Sie diskutierten ein wichtiges finanzpolitisches Thema. Als ihr Anführer am Sonntagabend ihre Entscheidung einer geschockten Weltöffentlichkeit verkündete, bedeutete dies das Ende einer Ära - und den Beginn einer neuen Epoche.
Vor 50 Jahren wurde der Goldstandard aufgehoben: Steht uns ein ähnlich einschneidendes Ereignis bevor?
Vor 50 Jahren endete die Rolle des Goldes als ultimativer Wertmaßstab. (Foto: dpa)
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Am Freitag, dem 13. August 1971 um 14.29 Uhr, verließ US-Präsident Richard M. Nixon das Weiße Haus, bestieg den Präsidenten-Hubschrauber „Marine One“ und reiste nach Camp David, wo mehrere Mitglieder seiner Regierung schon auf ihn warteten. Sein Stabschef Harry Robbins Haldeman hatte die Sitzung nur einen Tag zuvor organisiert und allen Anweisung erteilt, niemandem – nicht einmal ihren Familien – zu sagen, wohin sie fuhren. Bei Ankunft in Camp David wurde ihnen befohlen, mit niemandem außerhalb der Anlage zu telefonieren.

Ebenfalls am Vortag hatten Nixons leitende Berater die Bedeutung des Treffens anklingen lassen und angedeutet, dass das Wochenende „den größten Schritt in der Wirtschaftspolitik seit Ende des Zweiten Weltkriegs“ bringen würde. In ähnlicher Weise hatte ein Berater einem Journalisten gegenüber durchklingen lassen, dass „dies das wichtigste Wochenende in der Wirtschaftsgeschichte seit Samstag, dem 6. März 1933 sein könnte“ – dem Tag, an dem Franklin D. Roosevelt alle Banken in den USA schloss.

Das waren keine Übertreibungen. Zwischen Freitagnachmittag und Sonntagabend trafen Nixon und fünf führende Regierungsmitglieder (mit Unterstützung von neun leitenden Mitarbeitern) eine Reihe folgenschwerer Entscheidungen, die der Präsident dann in einer kurzfristig anberaumten Fernsehansprache zur Hauptsendezeit verkündete. Sechsundvierzig Millionen Amerikaner – ein Viertel der US-Bevölkerung – sahen zu, und Finanzminister, Notenbanker und Börsengurus von London bis Tokio scharrten sich um ihre Radios.

Was Nixon sagte, erschütterte die US- und die Weltwirtschaft. Sie sandte Schockwellen durch die Reihen von Amerikas Verbündeten in Westeuropa und Asien.

Das Ende einer Ära

In Reaktion auf eine zeitgleiche Verschärfung der Inflation und der Arbeitslosigkeit in den USA – Amerikas erste Erfahrung mit einer „Stagflation“ – verkündete Nixon, dass seine Regierung alle Löhne und Preise einfrieren würde. Die Regierung würde wie nie zuvor in Friedenszeiten in die amerikanische Wirtschaft eingreifen. Dieser Schritt war umso verblüffender, als er von einem republikanischen Präsidenten kam, der vehement betont hatte, dass er niemals derartige Maßnahmen ergreifen würde. Um die Beschäftigung anzukurbeln, versprach Nixon außerdem deutliche Steuererleichterungen und Investitionsanreize, die nur US-Unternehmen offenstehen würden – ein Akt offener Diskriminierung, der Amerikas Handelspartner empörte.

Sogar noch folgenschwerer und dauerhafter waren die Entscheidungen der Nixon-Regierung in Bezug auf den US-Dollar. Der Präsident verkündete ein neues Regelwerk zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der USA in einer Zeit, in der Importe und Outsourcing US-Arbeitsplätze bedrohten und der Kongress fließbandartig stark protektionistische Gesetze verabschiedete, die an das Smoot-Hawley-Zollgesetz von 1930 erinnerten.

Nixons drastischster Schritt jedoch war seine Entscheidung, die Goldbindung des Dollars aufzuheben. Er ging damit mit dem Vorschlaghammer an den Vertrag von Bretton Woods des Jahres 1944, der vorsah, dass alle Dollars frei zum Kurs von 35 Dollar pro Feinunze konvertierbar sein und dass andere Währungen fest an den Dollar geknüpft sein würden.

Nixons Ankündigung führte prompt zu einer erheblichen Abwertung des Dollars an den internationalen Märkten – der ersten offiziellen Dollar-Abwertung seit Ende des Zweiten Weltkriegs – sowie zu einer dramatischen Stärkung der D-Mark und des japanischen Yen.

Keine andere Wahl

So folgenschwer Nixons Entscheidung war: In Wahrheit hatte seine Regierung keine andere Wahl, als die Bindung des Dollars an seinen Goldanker zu lösen. Die USA wiesen erstmals seit 1893 Handelsdefizite auf, und die Weltwirtschaft schwamm in Dollars. Da die Inflation in den USA die Kaufkraft des Dollars aushöhlte, fürchtete die US-Regierung, dass andere Regierungen versuchen würden, ihre Dollarbestände beim US-Finanzministerium in Gold umzutauschen, wozu sie gemäß dem Bretton-Woods-System berechtigt waren. Das Problem war, dass die USA nicht genügend Gold besaßen, um diese Verpflichtung zu erfüllen.

Während der vergangenen 16 Jahre waren die Dollarverbindlichkeiten der USA viel schneller gestiegen als ihre Goldreserven. Noch 1955 etwa waren die US-Goldreserven 160 Prozent großer als die im Ausland gehaltene Dollarmenge. Im August 1971 jedoch hatten die USA nur noch genug Gold, um 25 Prozent dieser Dollars einzulösen. Unter diesen Umständen hätte die Forderung eines anderen Landes nach Umtausch einer größeren Menge von Dollars in Gold ohne Weiteres das Gegenstück zu einem Bankensturm auslösen können. Das wäre nicht bloß schmachvoll gewesen; die USA sorgten sich auch, dass die Nichteinhaltung ihrer Verpflichtungen in der Währungsarena das Vertrauen in ihre Versprechen untergraben würde, ihre Verbündeten militärisch zu verteidigen – eine auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges sehr gefährliche Aussicht.

Freilich strebte Nixons Team keine Umstellung auf flexible Wechselkurse an. Sein Ziel war vielmehr, ein auf neuen Paritäten beruhendes System fester Wechselkurse einzuführen: mit einem billigeren Dollar und stärkeren Partnerwährungen, insbesondere der D-Mark und dem Yen. Diese Währungen sollten ein neues multilaterales Währungssystem stützen, das das Bretton-Woods-System ablösen würde.

Um die Bundesrepublik, Japan und andere US-Verbündete zu sofortigen, ernsthaften Verhandlungen zu zwingen, verhängte Nixon einen pauschalen Einfuhrzoll von 10 Prozent. Dieser politische Kurswechsel, der einen 25 Jahre währenden Kreuzzug der USA zur Verringerung der weltweiten Handelsschranken konterkarierte, schockierte die US-Verbündeten ebenso sehr, wie die Schließung des Goldfensters des US-Finanzministeriums es getan hatte.

Nixon hatte mindestens drei Motive, die US-Verbündeten derart unter Druck zu setzen. Erstens sahen sich die USA, insbesondere was Industriewaren anging, zunehmender Konkurrenz aus der Bundesrepublik und Japan ausgesetzt. Statt die eigenen Probleme anzuerkennen, führten sie ihre schwindende Wettbewerbsfähigkeit auf einen überbewerteten Dollar und auf das Versäumnis der Bundesrepublik und Japans zurück, ihre Märkte genauso stark für US-Exporte zu öffnen, wie Amerika den seinen für Exporte aus diesen Ländern geöffnet hatte.

Zweitens war die Regierung der Ansicht, dass die USA nicht länger mächtig oder reich genug seien, um die Last der Steuerung des Weltwirtschaftssystems komplett allein zu schultern. Faktisch erklärten sie hiermit das Ende der Ära des Marshall-Plans und ihre Entschlossenheit, ihre Verbündeten zur Übernahme eines Teils der Verantwortung für die Steuerung der Weltwirtschaft zu zwingen. William Greider schreibt daher in seinem epischen Werk zur Geschichte des US-Notenbanksystems: „Sollten die Historiker nach einem genauen Datum suchten, an dem Amerikas singuläre Dominanz endete, könnten sie sich womöglich auf den 15. August 1971 einigen.“

Und drittens hatte Nixon Angst, die kommende Präsidentschaftswahl zu verlieren, und wollte den Amerikanern zeigen, dass er der US-Wirtschaft bessere Zeiten bescheren könne.

Ein geldpolitischer Stoßtrupp

Am Tisch in der Aspen Lodge von Camp David saß an diesem Wochenende eine Gruppe außergewöhnlich talentierter Männer zusammen, die leidenschaftlich ein beeindruckendes Spektrum unterschiedlicher Meinungen vertraten. Nixon war der unbestrittene Kapitän, aber Volkswirtschaft war nicht sein Ding. Sein primärer Fokus galt eigentlich der Schaffung einer neuen US-Außenpolitik, die stabiler und weniger kostspielig sein würde. Doch das globale Währungssystem verursachte starke Spannungen innerhalb des westlichen Bündnissystems, weshalb auch Nixon klar war: Des musste etwas passieren.

Der abgesehen vom Präsidenten mächtigste Mann in Camp David war Finanzminister John Connally, ein ausgeprägt nationalistischer Demokrat aus Texas, der dort drei Amtszeiten als Gouverneur gedient hatte. Connally, den Henry Kissinger als „Mann von großtuerischer Selbstsicherheit“ beschrieben hatte, war Nixons Rammbock. Auf die Frage nach seiner allgemeinen Philosophie hatte er einmal geantwortet: „Die ist simpel. Ich will die Ausländer über den Tisch ziehen, bevor sie uns über den Tisch ziehen.“

Connallys Flügelmann war Paul Volcker, Abteilungsleiter für internationale Währungsfragen im Finanzministerium und später legendärer Chef der US-Notenbank. Volcker war der Einzige in der Runde, der verstand, wie das komplexe Rohrleitungssystem des internationalen Währungssystems funktionierte. Auch er wollte eine Abwertung des Dollars, doch schwebte ihm zugleich eine schnelle Rückkehr zu einem System fester Wechselkurse vor. Obwohl das Gold dabei allmählich als Anker des Währungssystems ausgemustert werden würde, hoffte er auf striktere Regeln und stärkere Institutionen, die zu einer Ausweitung des Welthandels führen würden.

Ebenfalls mit am Tisch saß Notenbank-Chef Arthur Burns, der überzeugt war, dass sich die Inflation nicht durch eine traditionelle Fiskal- und Geldpolitik kontrollieren ließe, weil das Problem in erster Linie durch teure, durch die aggressive Verhandlungsführung mächtiger Industriegewerkschaften bedingte Lohnabschlüsse verursacht sei. Während er für Lohn- und Preiskontrollen argumentierte, unterstützte er eine Abwertung, aber befürwortete wie Volcker feste Wechselkurse, weil er sich über das Chaos sorgte, das auf eine Abschaffung des Goldstandards folgen würde.

Burns befürwortete eine unabhängige Notenbank, aber hungerte zugleich nach Nixons Freundschaft. Dies unter einen Hut zu bringen, sollte sich als unmöglich erweisen (viele Finanzexperten kamen letztlich zu dem Schluss, dass Burns’ Nachgeben gegenüber Nixons Forderungen nach niedrigen Zinsen weitgehend für die steil steigende Inflation späterer Jahre verantwortlich war).

Der einzig wahre Konservative in der Gruppe war George P. Shultz, der Direktor des Office of Management and Budget (Amt für Verwaltung und Haushaltswesen), der später einer der geachtetsten zeitgenössischen Staatsmänner Amerikas werden sollte. Er hasste Lohn- und Preiskontrollen und strebte ein völlig neues Währungssystem auf Basis flexibler Wechselkurse an (was die Abschaffung des Goldes als offiziellem Vermögenswert im Weltfinanzsystem implizierte). Shultz hielt an seiner Argumentation fest, aber er wurde überstimmt und trug dann wie ein braver Soldat die Mehrheitsmeinung mit.

Der Letzte im Bunde war Peter Peterson, der Assistent des Präsidenten für internationale Wirtschaftsfragen und spätere Mitgründer und Vorsitzende der Investmentgesellschaft „Blackstone Group“. Er war weniger stark als die anderen auf Geld und Handel fixiert und der Meinung, dass Amerika eine langfristig angelegte Industriepolitik brauche, um technologische Dominanz zu erreichen, sowie neue Programme, um die Arbeitnehmer auf die kommende Ära fortschrittlicher Automatisierung vorzubereiten. Seine Ideen wurden von der Gruppe nur flüchtig behandelt.

Diese Männer diskutierten zusammen mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern drei Tage lang die Richtung, die Amerika einschlagen sollte, und was genau Nixon am Sonntagabend der Welt gegenüber verkünden sollte. Trotz ihrer philosophischen Meinungsunterschiede gingen sie als geschlossenes Team aus der Sitzung hervor und unterstützten Nixon und Connally einstimmig.

Starkes Gewicht hatte bei ihren Verhandlungen die von allen geteilte Auffassung, dass Amerika dem Geist und den Institutionen einer offenen Weltwirtschaft und dem Rechtsstaat treu bleiben würde. Am Ende dieses Wochenendes wusste Nixons Team, was sein unmittelbares Ziel sein würde: die Einleitung von Verhandlungen über eine deutliche Währungsneubewertung, eine umfassende Handelsliberalisierung und eine stärkere Verteilung der Militärausgaben, die erforderlich waren, um im Kalten Krieg den Sowjets Paroli zu bieten. Doch gab es interne Uneinigkeit über die genauen Verhandlungsziele, die Gewichtung von Zielkonflikten und die Vision für längerfristige Regelungen. Die Sitzung in Camp David (mit all den ihr vorangegangenen geheimen Studien und Vorbereitungen) zeigte daher die Grenzen der Fähigkeit von Regierungen auf, Entwicklungen in der Weltwirtschaft vorherzusehen. Angesichts derartiger Unsicherheit liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen und flexibel und koordiniert zu bleiben.

Die Folgen

Nixons Team war durchaus nicht blind für die Turbulenzen, die aus den Veränderungen, die während dieses Wochenendes vereinbart worden waren, resultieren würden. Die Handels- und Finanzregeln, denen die USA damit den Boden entzogen, hatten die phänomenale Wirtschaftserholung in Westeuropa und Japan vorangetrieben und dienten als der Klebstoff, der die freie Welt zusammenhielt. Sobald Nixon die Veränderungen an jenem Sonntag bekanntgegeben hatte, rief er seinen nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger an, damit dieser helfen solle, Amerikas Bündnisse intakt zu halten. Kissinger und Nixon taten dann genau das – manchmal hinter den Kulissen, und manchmal im Rahmen öffentlichkeitswirksamer Treffen.

Die Sitzung von Camp David führte zu einer neuen Weltordnung. Erstmals in der Nachkriegsära vereinbarten Amerikas Verbündete und Handelspartner, die wirtschaftlichen Belastungen der Führung stärker zu teilen. Zwar führten die Lohn- und Preisstopps zu jahrelanger staatlicher Kontrolle und endeten in katastrophalen wirtschaftlichen Verzerrungen, die ihrerseits zu jahrelanger Inflation beitrugen. Doch von größerer langfristiger Bedeutung waren die von Nixons Rede in Gang gesetzten Verhandlungen, die zu einem System flexibler Wechselkurse, der Aufnahme wichtiger globaler Handelsverhandlungen (der sogenannten Tokio-Runde) und laufenden Gesprächen zwischen den Verbündeten über Möglichkeiten zu einer gerechteren Verteilung der Verteidigungskosten führten.

Letztlich wurde ein ernsthafter Protektionismus in den USA vermieden, und frei schwankende Wechselkurse verschafften der Welt ein flexibles Instrument, um die kommende intensivere Phase der Globalisierung zu bewältigen. Das neue System beseitigte die zentrale, stark einschränkende Rolle des Goldes im Weltfinanzsystem und erhielt zugleich die Rolle des Dollars als wichtigster Weltwährung aufrecht.

Natürlich war die Aufgabe fester Wechselkurse auch mit Kosten verbunden. Die Weltwirtschaft wurde riskanter, komplexer und krisenanfälliger. So hatte es während der 1950er und 1960er Jahre kaum globale Bankenkrisen gegeben, doch sind massive Turbulenzen seitdem zum festen Bestandteil des globalen Systems geworden - vom lateinamerikanischen Schuldendebakel Ende der 1970er Jahre bis hin zum Finanzkollaps von 2008. Darüber hinaus wurden in Reaktion auf die neuen Wechselkursschwankungen neuartige Sicherungsinstrumente entwickelt, die zu einem Übermaß immer komplexerer Variationen von Swaps, Optionen und Derivaten (und sogar Derivaten von Derivaten) führten. Ein großer Teil des globalen Marktes entwickelte sich faktisch zum Spielkasino.

Weil Währungen nicht länger durch materielle Vermögenswerte unterlegt waren, entwickelte sich ihr Wert zu einer abstrakten Größe. Der Wert eines Dollars, Euros oder Yens basiert inzwischen völlig auf der Glaubwürdigkeit der Regierung, der Notenbank und den Gesetzen und sonstigen Institutionen des ausgebenden Landes. Vor allem aber zeigte das Wochenende von Nixons Team in Camp David, dass die USA einseitig die Art und Weise ändern konnten, wie die Welt organisiert war. Die Ereignisse vom 13. bis zum 15. August 1971 gestalteten die Weltwirtschaft um und bedeuteten zugleich ihre Rettung. Hätte man den Dollar nicht vom Gold befreit, wäre der US-Protektionismus außer Kontrolle geraten, der Handel hätte einen tödlichen Schlag erlitten, und der Neoisolationismus, der in Amerika infolge des Vietnamkrieges zugenommen hatte, hätte sich allgemein etabliert.

In diesem Sinne war das Treffen von Camp David ein durchschlagender Erfolg. Wie der Wirtschaftshistoriker Harold James angemerkt hat, wuchs der Handel mit Waren und Dienstleistungen zwischen 1970 und 1980 von 12,1 Prozent auf 18,2 Prozent des globalen BIP. Zugleich nahm das Bewusstsein globaler Interdependenz steil zu, was zur Gründung der G7 und zur verstärkten Koordination bei globalen Fragen wie Energie, Lebensmittelversorgung, Bevölkerungsentwicklung und den Beziehungen zwischen entwickelten Staaten und Entwicklungsländern führte.

Parallelen zu heute - und Unterschiede

Es gibt viele Parallelen zwischen dem August 1971 und heute. Es droht heute, wie damals, Inflation, und die Löhne steigen, und diese beiden Phänomene bringen unser Verständnis der Zielkonflikte zwischen Preisentwicklung und Beschäftigung erneut durcheinander. In ähnlicher Weise steigen die Haushalts- und Handelsdefizite der USA erneut an, was zu Sorgen über die Verschuldung und die künftigen Kosten des Schuldendienstes führt.

Darüber hinaus geht Amerika derzeit erneut aus einem langen, kostspieligen Krieg hervor und bemüht sich verzweifelt, sich auf überwältigende Probleme zu Hause zu konzentrieren, während zugleich wichtige weltweite Probleme seine Aufmerksamkeit erfordern. Es sieht sich zudem einem potenten Gegner gegenüber, wobei China deutlich formidabler ist als es die Sowjetunion je war. Und die US-Auslandsbeziehungen entwickeln sich zunehmend schwieriger. 1971 waren die US-Verbündeten nervös, was Amerikas Rolle in der Welt anging, und sorgten sich, dass es sich entweder zu stark oder nicht stark genug engagiere. Dasselbe gilt heute. Japan ist, was Isolation und Druck angeht, heute so sensibel wie vor 50 Jahren, und einen Konsens zwischen den verschiedenen europäischen Ländern herzustellen stellt genau wie 1971 eine schwierige Herausforderung dar – auch wenn die Europäische Union wirtschaftlich deutlich stärker integriert ist als ihre Vorgängerin, die Europäische Gemeinschaft. Und genau wie die Bundesrepublik für Nixon zentral war, spielt in den strategischen Überlegungen der USA heute das wiedervereinte Deutschland eine enorme Rolle.

Doch während die Welt erneut vor einem Übergang vom Ende einer Ära zum Beginn einer neuen steht, gibt es auch wichtige Unterschiede zwischen 1971 und heute. Wir erleben derzeit einen fiskal- und geldpolitischen Aktivismus von – zu unseren Lebzeiten – beispiellosem Umfang. Anstelle des Globalismus nimmt der Nationalismus zu. Angesichts der extremen Dysfunktionalität des politischen Systems der USA gestaltet sich die globale Machtlage immer diffuser. Digitale Zahlungen und Kryptowährungen sind schwierige Fiatwährungen mit unbekannten Folgen für die Infrastruktur des globalen Finanzsystems.

Zudem ist die heutige politische Tagesordnung sogar noch komplexer und schwerer zu meistern als die des Jahres 1971. Zunächst einmal müssen Amerika und seine Verbündeten das Handelssystem umgestalten, um der systemischen Bedrohung zu begegnen, die Chinas staatsorientiertem System darstellt, das von einer allgegenwärtigen, häufig undurchsichtigen Subventionierung von Schlüsselbranchenausgeht geprägt ist.

Darüber hinaus haben die zunehmenden Investitionen des öffentlichen Sektors in strategische Branchen wie dem Gesundheitswesen, der Energie-Wirtschaft und der Hightech-Fertigung zur Folge, dass Regierungen weltweit äußerst sensibel auf die Versuche anderer reagieren werden, sich durch eine Währungsabwertung einen Vorteil zu verschaffen. Höchstwahrscheinlich wird es einer ganzen Reihe neuer geldpolitischer Übereinkommen bedürfen.

Und schließlich wird die Zeit nach der Pandemie weltweit durch eine lähmende Staatsverschuldung geprägt sein, die bei einem Anstieg der Zinssätze zu neuen Schuldenkrisen führen könnte. Der dominante Status des Dollars könnte nicht nur durch Chinas und Europas Bemühungen gefährdet sein, den festen Griff, in dem die USA das globale Finanzsystem halten, zu lockern, sondern auch durch eine neue Welt digitaler Notenbankwährungen.

1971 konnte Amerika im Alleingang handeln. Der überwältigende Fokus der Nixon-Regierung lag auf der Schaffung einer Übereinkunft mit einigen wenigen entwickelten Ländern, in erster Linie der Bundesrepublik, Japan und dem Vereinigten Königreich. Im Gegensatz dazu braucht Amerika heute viele zusätzliche Partner, um seine strategischen Ziele zu erreichen. Die Welt der G7 hat einer Welt Platz gemacht, in der die G20 die vorherrschende globale Wirtschaftsgruppierung darstellt.

Wir wollen hoffen, dass die USA, wenn sie die aktuellen Herausforderungen, vor denen die Weltwirtschaft steht, in Angriff nehmen, Talente von ähnlicher Qualität und Vielfalt aufbieten können wie einst Nixon. Sie werden sich einmal mehr um Regelungen bemühen müssen, die mehr Handel und Investitionen förderlich sind, und zugleich ihre Bündnisse intakt halten. Die Herausforderung, vor der Amerika heute steht, ist im Wesentlichen dieselbe wie vor einem halben Jahrhundert – sie ist nur sehr viel furchteinflößender.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Jeffrey E. Garten ist emeritierter Dekan der „Yale School of Management“ und lehrt dort immer noch zum Thema "Weltwirtschaft". Er diente in den Regierungen der Präsidenten Nixon, Ford, Carter sowie Clinton.

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