Seit dem Ukraine-Konflikt im Jahr 2014 haben sich die gegensätzlichen Weltanschauungen der politischen Entscheidungsträger Russlands und der Nato verfestigt und Misstrauen hat sich zu einer Grundhaltung entwickelt. Wir sind Zeugen einer neuen Art von Konfrontation, die sich militärisch höchst risikoreich präsentiert. Angesichts der nächsten bevorstehenden „Herbstmanöversaison” – mit Schlüsselereignissen wie Russlands „Zapad-2021“ und den Nato-Militärübungen „Ramstein Alloy“ sowie „Joint Warrior“ – besteht die dringende Notwendigkeit einer Entschärfung der Gefahr, dass sich aus diesen Militärübungen Konfliktherde entwickeln.
Freilich sind Rivalitäten zwischen Großmächten mit starker militärischer Komponente kein neues Phänomen. In der Vergangenheit waren sie der wichtigste und entscheidende Faktor bei der Gestaltung und Umgestaltung der politischen Landkarte sowie des internationalen Systems. Heutzutage ist militärische Rivalität - neben wirtschaftlicher Entwicklung und technologischem Fortschritt – nur einer von vielen Faktoren, welche die Geopolitik bestimmen. Wenn es allerdings hart auf hart kommt, ist davon auszugehen, dass eben der militärische Faktor derjenige ist, der - entweder als Abschreckungs- oder aber als Zwangsmaßnahme – die entscheidende Rolle spielt. Aus diesem Grund führen derzeit alle Großmächte - die Vereinigten Staaten, ihre Nato-Verbündeten, China und Russland - häufiger und in größerem Umfang als jemals zuvor militärische Übungen durch.
Dieser Trend wird sich wohl auch in und um Europa fortsetzen. Wie auf der Nato-Webseite erläutert, dienen Militärübungen dazu, „Konzepte, Verfahren, Systeme und Taktiken“ für ihren Einsatz auf realen Kriegsschauplätzen zu testen und zu validieren. Die Nato räumt auch offen ein, dass sie ihr Übungsprogramm intensiviert hat, um einem „veränderten Sicherheitsumfeld” Rechnung zu tragen. Und auch wenn Kreml-Sprecher Dmitri Peskow darauf verwies, dass Militärübungen Teil alljährlicher routinemäßiger Anstrengungen zur „Entwicklung der russischen Streitkräfte“ seien, gestaltete sich Russlands „Wostok-2018-Manöver“ umfassender als jede Militärübung in der Sowjetzeit.
Niemand bestreitet das Recht auf Selbstverteidigung oder das damit zusammenhängende Recht, Truppen so auszubilden, dass sie in einem bewaffneten Konflikt wirksam einsetzbar sind. Es wäre naiv zu glauben, dass simple Appelle an die Verantwortlichen in Peking, Brüssel, Moskau und Washington ausreichen würden, um sie davon zu überzeugen, ihre militärischen Übungen zurückzufahren. Dennoch ist es für alle Seiten sinnvoll, ein Verhalten an den Tag zu legen, das andere nicht provoziert oder zu Fehlwahrnehmungen und Fehleinschätzungen mit potenziell katastrophalen Folgen führt.
Anders als im Kalten Krieg würde ein umfassender Konflikt in Europa wohl nicht in Form eines massiven Überraschungsangriffs kommen. Sehr wohl jedoch könnte er aus der Eskalation eines regionalen oder lokalen bewaffneten Konflikts oder aus Zwischenfällen entstehen, an denen militärische Kräfte beteiligt sind. Und Militärmanöver lösen derartige Vorkommnisse allzu oft unbeabsichtigt aus. Die Staats- und Regierungschefs der Welt sollten sich daher dringend mit der von solchen Übungen ausgehenden Bedrohung der regionalen und globalen Sicherheit befassen.
Der jüngste Zwischenfall mit Warnschüssen zwischen der „HMS Defender“, einem Schiff der britischen Royal Navy, und russischen Streitkräften im Schwarzen Meer vor der Krim ist nur ein Beispiel dafür, wie schnell eine Situation außer Kontrolle geraten kann. Ein weiterer Beleg sind die Flugmanöver russischer Piloten, die in der Nähe der russischen Grenze einem Nato-Flugzeug gefährlich nahegekommen sind. Bisher konnte ein kinetischer Kontakt vermieden werden, aber wir sollten unser Glück nicht überstrapazieren.
Tatsächlich wird die Risikoeindämmung angesichts des Aufstiegs von Künstlicher Intelligenz, Fake News, Desinformations-Kampagnen und Cyber-Kriegsführung sogar noch schwieriger. Alle diese Technologien und Methoden haben die Nebel des Krieges dichter werden lassen und die Wahrscheinlichkeit einer gefährlichen Fehleinschätzung oder eines Zwischenfalls erhöht.
Glücklicherweise gibt es Instrumente, die unmittelbar eingesetzt werden können, um diese Risiken zu verringern. Selbst nach dem Aus des „Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa“ und des „Vertrags über den Offenen Himmel“ sind zahlreiche der am Ende des Kalten Krieges und in dessen unmittelbarer Folge eingeführten vertrauensbildenden Maßnahmen zum Teil immer noch in Kraft. Von diesen Kanälen sollte man umfassend Gebrauch machen. Und auch wenn der NATO-Russland-Rat (NRR) bisher nicht zu einem Instrument der Partnerschaft geworden ist, kann er als Kommunikationsmechanismus dienen, um gefährliche militärische Zwischenfälle und/oder deren Eskalation zu verhindern.
Neben dem NRR sollte es direkte, substanzielle Kontakte sowie gelegentliche persönliche Treffen des Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) der Nato mit dem russischen Generalstabschef sowie anderen hochrangigen Militärbefehlshabern und Experten beider Seiten geben. Regelmäßige Gespräche würden das wechselseitige Vertrauen in die Tatsache stärken, dass militärische Aktivitäten einer der beiden Parteien nicht auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff hinausläuft. Und sollten Missverständnisse auftreten, könnten dieselben Kanäle für eine sofortige Deeskalation sorgen. Auch andere bestehende Instrumente wie das „Wiener Dokument 2011 der Verhandlungen über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen“ sollten wiederbelebt und den aktuellen Gegebenheiten angepasst werden.
Berechenbarkeit und gegenseitiges Vertrauen können durch Selbstbeschränkungen und Transparenzmaßnahmen, wie den Austausch von Informationen über die Größe und den Umfang der Streitkräfte in Grenzgebieten, weiter verbessert werden. Instrumente zur Risikominderung müssen nicht speziell auf militärische und sicherheitspolitische Kontexte zugeschnitten sein. Als derzeitige Unterzeichner des „Abkommens über die Internationale Zivilluftfahrt“ sollten alle beteiligten Länder die darin bereits festgelegten Grundsätze für das Gebaren innerhalb des internationalen Luftraums beachten und dabei die Rechte, Freiheiten und die rechtmäßige Nutzung durch andere nicht behindern.
Diese Maßnahmen werden aus Widersachern keine Freunde machen, aber sie würden zumindest sicherstellen, dass politische Feuerwehren bereitstehen, um lokale Feuersbrünste zu löschen, bevor diese ganz Europa in Brand setzen.
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Über die Autoren:
Dmitri Trenin ist Direktor der Denkfabrik "Carnegie Moscow Center".
Vygaudas Ušackas war von 2008 bis 2010 Außenminister von Litauen und von 2013 bis 2017 EU-Botschafter in Russland.
Graham Stacey ist pensionierter Offizier der Royal Air Force und Senior-Berater der Londoner NGO "European Leadership Network", die sich für Abrüstung und eine atomwaffenfreie Welt einsetzt.