Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dieses und vergangenes Jahr wurde Deutschland von zwei verheerenden Ereignissen heimgesucht: Der Flut im Ahrtal sowie der Corona-Pandemie. Wir würden gerne wissen, wie Sie das jeweilige Katastrophen- und Krisenmanagement beurteilen.
Andreas Kling: In beiden Fällen kann ich leider keine gute Note verteilen. Was die Flut anbelangt: Es stand vier bis fünf Tage vorher fest, dass eine Gefahr bestand. Das Problem war, dass anschließend in der Alarmkette Informationen verlorengingen. Darüber hinaus gab es ganz konkrete Versäumnisse: Der Sirenenalarm wurde nicht ausgelöst, eine ganze Reihe von kritischen Stellen waren nicht besetzt. Die Koordination der Rettungsmaßnahmen klappte nicht gut, die logistische Herausforderung erwies sich als zu groß. Es hat sich herausgestellt, dass man im Vorfeld zu wenig geübt hatte.
Und was Corona angeht: Auch hier kann man nicht zufrieden sein. Man muss sich das mal vor Augen halten: Wir haben einen Einbruch der Lebenserwartung wie im Zweiten Weltkrieg. Das Versagen ist auch deshalb besonders schlimm, weil eine Risikoanalyse für den Fall des Eintritts einer Pandemie vorlag, für ein sogenanntes Schwarzes-Schwan-Ereignis also (ein Ereignis, das
unwahrscheinlich ist, das jedoch, wenn es eintritt, erhebliche Auswirkungen hat). Auf Bundesebene wurde solch ein Ereignis dann auch durchgespielt; anschließend versäumte man jedoch, es auf untergeordnete Einheiten wie Länder und Kommunen runterzubrechen. Auch eine Reihe ganz konkreter Maßnahmen, von denen man hätte wissen müssen, dass sie im Falle einer Pandemie notwendig sein würden, hatte man nicht getroffen, beispielsweise keine Masken-Vorräte angelegt sowie keine Nachverfolgungs-Software bei den Gesundheitsämtern eingeführt.
Mit anderen Worten: In der Bundesrepublik ist in Sachen Krisen- und Katastrophenschutz noch sehr viel Luft nach oben. In diesem Zusammenhang möchte ich auch auf das sogenannte „Verletzlichkeitsparadoxon“ hinweisen. Es besagt Folgendes: Je besser etwas funktioniert, desto gravierender sind die Folgen, wenn es ausfällt. Im Großen und Ganzen ist unser Gemeinwesen ja ziemlich gut organisiert. Wenn dann – wie in den oben beschriebenen Fällen – etwas nicht klappt, brennt gleich das ganze Haus.
Wir müssen bereit sein, von anderen zu lernen, beispielsweise von der Schweiz, die ein sehr gutes System der Ernährungsnotfallsorge eingerichtet hat: Alle Supermärkte verfügen über ein Pflichtlager, in dem sie Lebensmittel aufbewahren müssen, um die Versorgung in Krisenzeiten sicherzustellen. Deutschland dagegen hat die Zivile Notfallreserve, die beispielsweise aus eingelagertem Getreide besteht. Aber ob es in einem Katastrophenfall wirklich klappt, in ausreichendem Maß Brot zu backen und an die Bevölkerung zu verteilen, bin ich mir alles andere als sicher.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Was Sie uns erzählen, klingt ziemlich erschreckend. Wie kann es sein, dass es in einer hochtechnisierten Gesellschaft, einem hochentwickelten Industrieland wie dem unseren, solche Versäumnisse gibt? Zumal wir Deutschen ja als äußerst sicherheitsbewusst sowie als in aller Regel sehr gut vorbereitet gelten?
Andreas Kling: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs leben wir in gewisser Weise auf einer Insel der Seligen. Was ist denn in den vergangenen 75 Jahres hierzulande wirklich Gravierendes passiert? Nicht viel, abgesehen von einigen Ereignissen wie der Sturmflut von 1962 oder der Schneekatastrophe von 1978/79. Aber das waren eben Ausnahmen, die – verglichen mit Naturkatastrophen in anderen Ländern – nur von vergleichsweise geringer Dimension waren. Nehmen wir mal ein Land wie die USA: Dort kommt es regelmäßig zu schlimmen Stürmen, zu Waldbränden, auch zu Erdbeben. Dort ist das Bewusstsein, dass eine Katastrophe eintreten kann, dementsprechend ausgeprägter. Uns dagegen fällt es schwer, uns vorzustellen, dass wirklich etwas Schlimmes geschehen kann. Aber wir müssen umdenken – Deutschland ist in keiner Weise vor Katastrophen gefeit, und ich spreche da nicht nur von Naturereignissen und Pandemien.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sondern?
Andreas Kling: Am meisten fürchte ich einen Blackout, also einen großflächigen, langanhaltenden Stromausfall. Unter Umständen in Kombination mit einer anderen Katastrophe, die Grenzen sind da fließend.
Dazu existiert ein sehr aufschlussreicher Bericht des TAB, also dem „Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag“. Das Schriftstück trägt den Titel „Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen und langandauernden Ausfalls der Stromversorgung.“ Es beschreibt dezidiert, wie innerhalb weniger Tage unsere Infrastruktur zusammenbricht. Wie nach zwei Tagen die Supermärkte leer sind und kein Benzin mehr zur Verfügung steht. Wie nach drei, spätestens vier Tagen, die Lage kritisch wird, weil unter anderem die Kühlschränke leer sind.
Wer kein Sachdokument lesen möchte, kann übrigens auch zur Belletristik greifen. In seinem Roman „Blackout“ hat der Schweizer Schriftsteller Marc Elsberg die Folgen eines Stromausfalls sehr packend und gleichzeitig realitätsnah beschrieben.
Verstärkt werden die Folgen eines Stromausfalls noch durch unsere zunehmende Abhängigkeit vom Internet. Der TAB wurde 2011 vorgestellt, der Roman 2012 publiziert. Zu der Zeit, also vor rund zehn Jahren, war das Netz viel weniger wichtig als heute – die Folgen seines Ausfalls wären also heute noch weitaus gravierender als damals.
Erinnern möchte ich auch an den großen Stromausfall im November 2006. Damit das neugebaute Kreuzfahrtschiff „Norwegian Pearl“ auf der Ems von der Meyer Werft in Papenburg in die Nordsee überführt werden konnte, wurden zwei Hochspannungsleitungen, die die Ems querten, abgeschaltet. Man hatte jedoch nicht rechtzeitig für Ersatz gesorgt, was zur Folge hatte, dass in Teilen von Deutschland, Österreich, Belgien, Frankreich, Italien und Spanien für zwei Stunden der Strom ausfiel. Das kann man sich vorstellen wie bei unserem dichten Autobahn-Netz: Wenn es an einer Stelle zu einem ausgewachsenen Stau kommt, sind die Folgen noch in großer Entfernung zu spüren.
Im Übrigen vergrößert die Energiewende die bereits bestehende Gefahr noch zusätzlich. Atom- und Kohlekraftwerke liefern eben konstant Strom; für die erneuerbaren Energien müssen viel mehr geeignete Energiespeicher geschaffen werden.
Ich halte es für alles andere als abwegig, dass wir einen Stromausfall bekommen, der einer größeren Zahl von Menschen das Leben kostet. Vielleicht wird das durch eine Cyberattacke geschehen. Gerade im Gesundheitsbereich erleben wir das in den letzten Jahren immer häufiger – ich gehe fest davon aus, dass manche der betroffenen Einrichtungen dann auch Lösegeld bezahlen. Wenn durch einen Stromausfall in einem größeren Gebiet die medizinische Versorgung ausfällt, wird es mit ziemlicher Sicherheit zu einer Katastrophe kommen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sprachen Atomkraftwerke an – wie gefeit gegen eine Katastrophe sind die eigentlich? Und wie sieht es mit den Vorbereitungen auf einen gigantischen Unfall aus, beispielsweise den Absturz eines Flugzeugs in ein vollbesetztes Stadion?
Andreas Kling: Deutschland hat nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima aus guten Gründen entschieden, auf die Kernkraft zu verzichten. Nun muss man schauen, dass die Versorgungssicherheit beim Ausbau der erneuerbaren Energien gesichert ist.
Auf eine Katastrophe wie der von Ihnen angesprochene Flugzeugabsturz sind wir in Deutschland ganz ordentlich vorbereitet. So etwas ist ja ein singuläres Ereignis in einem klar abgegrenzten Raum, in dem eine eindeutige medizinische Lage besteht – darauf kann man sich eben auch besser vorbereiten. Nehmen wir mal an, ein Düsenjet würde über dem vollbesetzten Berliner Olympiastadion abstürzen: Dann würden alle verfügbaren Kräfte dorthin beordert werden, die Patienten würden in öffentlichen und in anderen Gebäuden untergebracht und behandelt werden – ich glaube schon, dass so ein Einsatz klappen würde.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Ein solches Szenario würde unter Umständen die Requirierung von Gebäuden und andere Zwangsmaßnahmen umfassen, richtig?
Andreas Kling: Es gibt eine ganze Reihe von Gesetzen, die den Zivil- und Katastrophenfall regeln, unter anderem die Sicherstellungsgesetze und die Katastrophenschutzgesetze der Länder. Unbestritten ist, dass der Eintritt einer Katastrophe Grundgesetzeinschränkungen erlaubt, beispielsweise den Eingriff in die Besitzverhältnisse. Weiterhin können Bürger verpflichtet werden, Hilfe zu leisten.
Die Frage ist natürlich, inwieweit der Staat solche Vorschriften und Gesetze auch durchsetzen würde, durchsetzen könnte. Um auf das Beispiel mit dem Flugzeugabsturz zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass bei einem solchen Szenario Zwangsmaßnahmen notwendigen wären – beispielsweise würden sich bestimmt genügend Helfer zur Verfügung stellen. Die Menschen sind durchaus hilfsbereit, das hat man zuletzt wieder bei der Flutkatastrophe gesehen. Tendenziell ist es eher so, dass es zu viele Helfer gibt, die dann auch koordiniert werden müssen, was zeitaufwendig ist und Ressourcen bindet.
Ob in einer Situation, in der tatsächlich Zwangsmaßnahmen notwendig wären, der Staat diese durchsetzen würde, bin ich mir allerdings nicht sicher. Wir leben in einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, in der die – angeblichen – Interessen des Individuums meist Vorrang genießen gegenüber den Interessen der Allgemeinheit. Nehmen wir mal die Corona-Impfung: Ich glaube, hier hätte es vor 20 oder 30 Jahren eine durchgängige Impfpflicht gegeben.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Sie sagen, es gäbe eine große Bereitschaft, als Helfer aktiv zu werden. Gleichzeitig werde die Gesellschaft aber immer individualistischer. Widerspricht sich das nicht?
Andreas Kling: Nein, das tut es nicht. Wie gesagt, die Menschen sind durchaus bereit, sich in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Aber sie wollen das verstärkt auf individueller Basis tun, nicht mehr so ausgeprägt in organisierter Form. Das heißt, sie wollen helfen, wenn Sie Zeit dafür haben, wenn es in ihren Lebensentwurf passt. Sie wollen jedoch keine Regelmäßigkeit, die sie in ein mehr oder minder starres Korsett schnürt.
Der deutsche Katastrophenschutz basiert in hohem Maße auf Institutionen wie der Freiwilligen Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk, deren Angehörige zwar sehr gut ausgebildet sind und hervorragende Arbeit leisten, die dieser Aufgabe jedoch ehrenamtlich nachgehen Das Ehrenamt verliert aber nun mal an Anziehungskraft, viele Organisationen sind überaltert – das müssen wir bei der zukünftigen Organisation des Katastrophenschutzes in Deutschland beachten. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, ein verpflichtendes Dienstjahr für junge Leute einzuführen, so wie wir früher den Wehr- und Zivildienst hatten.
Mit Blick auf die zukünftige Organisation des Katastrophenschutzes gibt es aber noch weitere Herausforderungen.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Können Sie uns diese nennen?
Andreas Kling: Es gibt ein Problem, das ich aus vielen kleineren Wohngemeinden kenne. Dort sind die Freiwilligen Feuerwehren prinzipiell personell immer noch ausreichend besetzt. Aber eben nur abends, nachts und am Wochenende. Tagsüber sind die Männer und Frauen nämlich bei der Arbeit in den Städten, und nicht mehr im Heimatort., weil es dort nicht mehr so viele Jobs gibt. Das führt dazu, dass die Freiwilligen Feuerwehren tagsüber teilweise unterbesetzt sind.
Weiterhin ist die Bevölkerung heute viel heterogener als früher, beispielsweise leben hierzulande mehr Menschen, deren Muttersprache eben nicht Deutsch ist. Das muss man bei allen Maßnahmen – zum Beispiel bei einer Evakuierung – berücksichtigen.
Und schließlich wird die Bevölkerung im Durchschnitt immer älter. Im Fall einer Katastrophe gibt es daher weniger Menschen, die als Helfer zur Verfügung stehen, und gleichzeitig mehr, um die sich gekümmert werden muss.
Insgesamt glaube ich, dass – hätten wir uns vor, sagen wir mal 50 Jahren, einer Katastrophe gegenüber gesehen –, wir die Situation leichter in den Griff bekommen hätten. Aus den oben genannten Gründen, und auch deshalb, weil die Menschen damals Hierarchien noch bereitwilliger akzeptierten und Aufforderungen viel bereitwilliger nachkamen.
Darum brauchen wir eine breit angelegte Diskussion, und zwar eine, die die Bevölkerung mit einbezieht. Für einen zeitgemäßen Katastrophenschutz ist das auch aus einem anderen Grund notwendig.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Welcher ist das?
Andreas Kling: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Katastrophe ereignet, ist im Laufe der Zeit tendenziell gestiegen. Wobei ich auf die höhere Wahrscheinlichkeit eines Stromausfalls bereits eingegangen bin. Nennen könnte man auch terroristische Anschläge, vor allem aber Naturkatastrophen. Man hat ja gesehen, was sich im Ahrtal ereignet hat – wir müssen davon ausgehen, dass uns weitere ähnliche sowie noch schlimmere Extremwetterereignisse bevorstehen. Darauf müssen die Menschen vorbereitet sein. Und zwar nicht zuletzt auch dahingehend, dass sie verinnerlichen, dass Katastrophenhilfe nicht primär das ist, was man im Fernsehen sieht, wenn also beispielsweise Experten zusammen mit ihren Spürhunden von einem Hubschrauber in einem Erdbeben-Gebiet abgesetzt werden. Nein, Katastrophenhilfe wird zu einem großen Teil von der Bevölkerung selbst geleistet. Um nochmal auf Erdbeben zurückzukommen: Tatsache ist, dass die meisten Menschen beim großen Erdbeben in Nepal im Jahr 2015 von Nachbarn gerettet wurden, nicht von Experten mit Spürhunden.
Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Kling, vielen Dank für dieses Gespräch.
Zur Person: Andreas Kling (54) ist selbständiger Krisenschutz-Manager und Experte für Bevölkerungsschutz. Er ist Herausgeber des Buches „Sicher trotz Katastrophe: Ein praktischer Ratgeber für die persönliche Notfallvorsorge“.