Weltwirtschaft

Rente mit 70 - sonst kollabiert unser System!

Lesezeit: 7 min
23.10.2021 11:48
DWN-Kolumnist Ronald Barazon liefert eine umfassende Analyse unseres Wirtschafts- und Sozialsystems nach Corona.
Rente mit 70 - sonst kollabiert unser System!
Der 77-jährige Günther Bolte schwimmt am frühen Morgen im Freibad. Er muss selbstverständlich nicht mehr arbeiten - aber jemand, der zehn Jahre jünger ist, sollte noch nicht in Rente. (Foto: dpa)

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Wir Europäer spielen das Theaterstück „Das Virus ist besiegt“, auch wenn die Realität eine andere ist. Aber wir haben uns an den unfreundlichen Gast gewöhnt und kehren zurück zu dem, was wir Normalität nennen. Prompt melden sich alle Schwierigkeiten wieder, die Europa schon vor Corona auf den Weg in eine Dauerkrise brachten. Wobei eines fest steht: Die Probleme sind in der Corona-Zeit noch größer geworden.

Kostbares Kapital steckt in Ziegeln, Mörtel und Betonplatten

Das zentrale Übel der Finanzpolitik, und zwar schon seit zehn (!) Jahren, seit einer ganzen Dekade also, sind die Niedrig-, Null- und Minus-Zinsen. Da sie keine oder zumindest fast keine Zinsen auf Sparkonten und für Anleihen erhalten, unter Umständen sogar Minuszinsen in Kauf nehmen müssen, suchen die Anleger nach Alternativen. Als brauchbarste haben sie Investitionen in Immobilien ausgemacht. Getrieben von der Zinspolitik fließen Milliarden von Euro in den Wohnungsbau, Milliarden, die dringend und besser in den Betrieben angelegt wären. Es steht außer Frage, dass ausreichend Geld zur Verfügung stünde, mit dem die Unternehmen große Investitionsschübe finanzieren und den nächsten Aufschwung gestalten könnten. Da die Verantwortlichen jedoch an ihrer fehlgeleiteten Finanzpolitik und irrigen Strategie festhalten, steckt kostbares Kapital, Kapital, das dem Kapitalmarkt und damit den Unternehmen nun fehlt, in Ziegeln, Betonplatten und Mörtel.

Vorsorge-Wohnungen sind kein Garant für eine solide Vorsorge

Die mit viel Geld erworbenen Objekte, in denen die Käufer nicht wohnen, sondern die sie vermieten wollen, werden als „Vorsorge-Wohnungen“ bezeichnet. Mit dieser Bezeichnung entsteht die Illusion, dass man - wie ein Zinshausbesitzer im 19. Jahrhundert - von der Miete leben könnte. Aber: Mieten sind zu versteuern, vermietete Wohnungen müssen immer wieder saniert werden, manchmal ist kein Mieter interessiert, und letztlich braucht es sehr viele Wohn-Objekte, um mit den Mieteinnahmen sein Leben zu finanzieren. Will man die Wohnung verkaufen, ist fraglich, ob die heute bezahlten Preise halten und ob der Erlös einen möglicherweise noch offenen Kredit deckt. Kurzum, es ist keineswegs sicher, dass die Vorsorge immer mit Freuden verbunden sein wird. Und auf jeden Fall fehlt das Geld dem Kapitalmarkt.

Bewährte Sparformen wurden durch die Zinspolitik ruiniert

Es gibt eine einfachere Form der Vorsorge – doch die ist durch die Zinspolitik in ihren Grundfesten erschüttert worden: Lebensversicherungen und Fonds. Dabei könnten die Institutionen, die solche Finanzprodukte anbieten, das Geld der Anleger breit und sinnvoll in der Wirtschaft platzieren, während beim Wohnungsbau das Geld – wie bereits oben beschrieben - in Fassaden, Wänden und Dächern gebunden ist. Solche Finanzprodukte haben den zusätzlichen Vorteil, dass ihre Eigentümer, die Anleger, sie bei Bedarf leichter und rascher zu Bargeld machen können.

  • Lebensversicherungen, besonders die so genannte „klassische“ Form der Er- und Ablebensversicherung, beruhen in erster Linie auf der Veranlagung der Sparvermögen der Versicherten in Anleihen. Diese bringen – wie schon gesagt - seit Jahren keine nennenswerten Zinsen mehr, wodurch diese Art von Vorsorgeprodukt nicht mehr attraktiv ist.
  • Somit rücken die Aktien-Fonds in den Vordergrund, entweder als Fonds, die mit einer Lebensversicherung verbunden werden, oder als Fonds ohne Versicherungselement. Die Fonds blühen derzeit im Sog der Aktienhausse, doch sind die Kurse schon so hoch, dass man jederzeit mit einem Crash rechnen muss.
  • Durch die hohen Kurse ist derzeit das Verhältnis zwischen dem Kurs der Aktien und dem tatsächlich von den Unternehmen erwirtschafteten Gewinn in den meisten Fällen für eine langfristig solide Veranlagung viel zu groß.

Rundum nur Belastungen, um die Staaten vor dem Bankrott zu bewahren

Und warum, wozu all diese Verwerfungen? Wem nützt die Niedrig-, Null- und Minuszins-Politik? Davon abgesehen, dass sie ihnen – wie oben bereits ausgeführt – in erster Linie schadet, nützt diese Art der Zinspolitik zumindest den Unternehmen in geringem Maße dahingehend, dass, wenn sie einen Kredit aufnehmen, sie diesen zu günstigen Konditionen bekommen. Vor allem nützt die derzeitige Zinspolitik jedoch den überschuldeten Staaten, die - trotz der enorm hohen Steuern und Abgaben – ihre Haushalte kaum einmal im Gleichgewicht halten können und ständig neue Löcher mit weiteren Schulden stopfen. Da sind naturgemäß niedrige oder gar Nullzinsen sehr willkommen. Allerdings werden auf diese Weise die Staaten nicht saniert, im Gegenteil: es werden in zahlreichen Bereichen enorme Schäden angerichtet.

Der Schlüssel zu den Problemen liegt bei den Renten

Womit die nächste Frage lautet: Wieso gelingt es nicht, die Staatshaushalte zu sanieren? Die entscheidende Antwort lautet: Die Hauptbelastung ergibt sich durch die Renten. Nachdem europaweit der Rentenbeginn im Durchschnitt am 60. Geburtstag stattfindet - nicht wenige beenden ihr Arbeitsleben früher, einige auch „erst“ mit 62 - dauern die Rentenzahlungen im Gefolge der aktuellen Lebenserwartung im Schnitt zwanzig Jahre, und dieser Umstand verschlingt immer größere Summen. Als die Rentensysteme geschaffen wurden, ging man von einer durchschnittlichen Bezugsdauer von fünf Jahren aus. Darüber hinaus wächst die Zahl der Rentner ständig an; in der EU sind es bereits 200 Millionen Bürger, die eine Rente beziehen, das heißt nicht aktiv zur Wirtschaftsleistung und somit zum Aufkommen an Steuern und Beiträgen beitragen, sondern lediglich einen passiven Beitrag – über ihren Konsum - leisten. Diese Situation überfordert die Rentenversicherungen in immer höherem Maße, sodass sie zunehmend von den Staaten subventioniert werden müssen. Nur ein Rentenstart, der im Schnitt deutlich über dem 65. Lebensjahr liegen würde, könnte für eine wirksame Entlastung der Staatshaushalte sorgen und eine Steuersenkung ermöglichen.

Der Teufelskreis in wenigen Worten zusammengefasst

Weil wir uns fünf zusätzliche Jahre „Rentenurlaub“ gönnen, die die europäischen Volkswirtschaften jedoch nicht erwirtschaften (können), überfordern wir die Staaten, die wiederum die Unternehmen mit Steuern und Abgaben überfordern. Die Unternehmen können deshalb, weil ihnen nicht genug Geld für Investitionen bleibt, nicht jene Wirtschaftsleistung erbringen, die den allgemeinen Sozialstaat finanzieren und Europa gegenüber den USA, China und anderen wettbewerbsfähig machen würde. Um dieses uns liebgewordene System des „Rentenurlaubs“ und seine Folgen zu stützen, betreiben wir eine Null- und Minuszinsenpolitik, die den Kapitalmarkt und die Altersvorsorge ruiniert. All das nur, weil wir nicht fünf Jahre länger arbeiten wollen!

Der europäische Sozialstaat ist ein Teil der Kultur des alten Kontinents und schafft ein Klima, das kaum jemand missen möchte - verständlicherweise. Wenn der Sozialstaat allerdings zur Gefährdung der gesamten Volkswirtschaft und des Sozialstaates selbst wird, sollte der Homo gar nicht so Sapiens auf die Bremse steigen. Merke: Es gibt zwar einige Tiere, die sich selbst auffressen, doch dies geschieht stets nur, um den Nachwuchs zu retten – nicht aus Eigennutz.

Die Geldschwemme in der Corona-Krise hatte nicht nur positive Effekte

Die Neigung der Europäer, eine frühe Verrentung in Anspruch zu nehmen, die volkswirtschaftlich bedenklich ists, wurde auch durch die Corona-Krise nicht vermindert. Die Geldschwemme, die über den Kontinent ausgegossen wurde und immer noch wird, war und ist nur zum Teil berechtigt. Dass Unternehmen zu fördern sind, die ihre stationären Betriebsstätten schließen und auch über den online-Verkauf keine Umsätze machen können, ist nicht in Frage zu stellen. Jedoch: Durch die Kombination von Kurzarbeitergeld, verlorenen Zuschüssen und staatlich abgesicherten Krediten wurde vielen Betrieben die Notwendigkeit genommen, eigene Strategien zur Bewältigung der Krise zu entwickeln. Bei vielen entstand eine Art Urlaubsstimmung, da das Geld gleichsam vom Himmel fiel. Das kuriose Ergebnis ist, dass in so manchem Unternehmen die Bilanz 2020 besser ausgefallen ist als in den Vorjahren, und dass nicht wenige Arbeitnehmer von einer dauerhaften Ferienlaune erfasst wurden und ungern wieder einen Job annehmen.

Ohne Kredite und ohne Risiko-Kapital wird der Aufschwung holpern

Ein zentrales Problem Europas besteht in der Tatsache, dass die Grundfunktionen wirtschaftlicher Tätigkeit gefährdet werden. Wohlstand gibt es aber nur, wenn die Unternehmen florieren, und die Unternehmen florieren nur, wenn sie ausreichend Kapital zur Verfügung haben. Und dafür gibt es nur drei Quellen, nicht mehr und nicht weniger: Selbst erwirtschaftete Gewinne, Kredite sowie von außen zur Verfügung gestelltes Risikokapital.

  • Die Höhe der Gewinne hängt vom Erfolg des Unternehmens ab. Allerdings nicht ausschließlich, denn auch die Steuern bestimmen, wieviel dem Betrieb bleibt und wieviel für weitere Investitionen oder zur Abfederung von Krisen zur Verfügung steht. Somit ist man schon mit dem ersten Punkt bei der Politik gelandet, die es nicht schafft, die Steuern zu senken und dies auch in Zukunft nicht schaffen wird. In der Krise verteilten die Staaten Fördermittel, als ob es kein Morgen gäbe. Jetzt ist allerdings das Morgen doch angebrochen und die Regierungen müssen schauen, wie sie ihre in den meisten Fällen ohnehin überschuldeten Haushalte mit höheren Steuern halbwegs vor dem Bankrott retten.
  • Kredite spielen in Europa eine entscheidende Rolle. Etwa 75 Prozent des Mittelbedarfs wurden traditionell über Kredite aufgebracht. Davon ist mittlerweile jedoch keine Rede mehr. Beginnend bereits im Jahr 2004 (!) wurden Schritt für Schritt Regulierungen eingeführt, die jede Finanzierung beinahe unmöglich machen, mindestens jedoch massiv erschweren. Die Aufsichtsbehörden werden nicht müde, die Restriktionen zu verschärfen, um die Banken vor Risiken zu bewahren. Angesichts der Krise wuchs die Nervosität der Aufseher ins Unermessliche, da man sich vor Ausfällen der Banken fürchtet und dabei vollkommen übersieht, dass die Übernahme von Risiken integraler Bestandteil des Wesens von Kreditinstituten ist. Es ist tatsächlich eine pure Groteske: Gegen die im Gefolge der übertriebenen Regulierung zu geringen Kreditvergabe versucht die Europäische Zentralbank anzukämpfen, indem sie Kredite bereitstellt, die mit 0,5 bis 1 Prozent gefördert werden. Diese originelle Aktion trägt den sperrigen Titel „targeted longer-term refinancing operations - TLTRO‑III“. Auf die simple Idee, die Regulierung abzubauen und die Banken ungestört ihr traditionelles Kredit-Geschäft betreiben zu lassen, kommt man gar nicht.
  • Neuerdings wird das Paket der Behinderungen noch vergrößert: Kredite sollen möglichst nur diejenigen Unternehmen bekommen, deren Tätigkeit mit dem „Green Deal“ der Kommission in Einklang steht. Und ob das der Fall ist, bestimmten selbstverständlich – wie könnte es anders sein - Beamte der EU-Kommission und der nationalen Behörden. Mit anderen Worten: Beamte, nicht Finanzfachleute, bestimmen, ob eine Firma nachhaltig arbeitet und daher kreditwürdig ist.
  • Die Finanzierung der Unternehmen durch - zum einen - Aktienausgabe und - zum anderen - Risikokapital spielt in Europa im Gegensatz zu den USA eine untergeordnete Rolle. Die Liste der Neuemissionen über die Börse – sie ist bescheiden kurz. Und die Zahl der Firmen, die Kapital von den Anlegern zu den Unternehmen vermitteln – sie ist überschaubar. Diese Kultur ist in Europa nie gewachsen, weil man den Kredit gewöhnt war. Und diese Kultur hat sich auch kaum weiterentwickelt in dem Zeitraum, der vergangen ist, seitdem klar wurde, dass die Politik auch weiterhin eine angemessene Kreditvergabe durch Regulierungen behindern wird. Nachdem aber die Zentralbank die Zinsen künstlich extrem niedrig hält, stürzen sich immer mehr Anleger auf die wenigen verfügbaren Aktien und treiben die Kurse in astronomische Höhen, die leicht in einem Crash enden können.

Mit diesem Paket von Fehlentwicklungen hat sich Europa in den vergangenen Jahrzehnten selbst gelähmt und gegenüber den USA und China weiter geschwächt. In den vergangenen eineinhalb Jahren geschah nichts, buchstäblich nichts, um die Eurosklerose zu beseitigen (mit „Eurosklerose“ wird der Zeitraum zwischen 1973 und 1984 bezeichnet, während dessen die EU-Staaten teilweise zu einer nationalen Wirtschaftspolitik zurückkehrten – Anm. d. Red.). Ach ja: In der EU-Kommission werden Papiere gewälzt, in denen von einer Europäischen Kapitalmarktunion geträumt wird …

                                                                            ***

Ronald Barazon war viele Jahre Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Er ist einer der angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Europa und heute Chefredakteur der Zeitschrift „Der Volkswirt“ sowie Moderator beim ORF.


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