Wirtschaft

Großbritannien und die EU steuern auf den großen Knall zu

Der Streit rund um die Handelsbestimmungen für Nordirland droht das gesamte Vertragswerk zwischen beiden Seiten - und auch den Frieden in Nordirland - zu sprengen.
12.11.2021 14:53
Lesezeit: 5 min
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Die anhaltenden Meinungsverschiedenheiten bezüglich der politischen und wirtschaftlichen Rolle Nordirlands im Handel zwischen Europa und dem Vereinigten Königreich drohen das gesamte zwischen der EU und Großbritannien ausgehandelte Vertragskonstrukt zu sprengen.

Usächlich hierfür sind eindeutige Bestrebungen der britischen Regierung, die vereinbarte Sonderrolle Nordirlands zu untergraben und eventuell einseitig aufzukündigen. Bislang gilt: Das zum Vereinigten Königreich gehörende Nordirland bleibt im Gegensatz zum Rest Großbritanniens Teil des EU-Binnenmarktes. Hintergrund ist der Wunsch, eine befestigte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland zu verhindern, um die seit Jahrzehnten schwelenden Spannungen zwischen Irland-treuen Katholiken und London-treuen Protestanten in Nordirland nicht zu schüren. Weil Nordirland faktisch Teil des EU-Binnenmarktes ist, müssen im Handel mit dem britischen Mutterland Zollkontrollen durchgeführt werden, was auf wachsenden Unmut in London stößt.

Die britische Regierung scheint nun entschlossen zu sein, die mit der EU getroffenen Vereinbarungen bezüglich Nordirlands einseitig aufzuweichen beziehungsweise zu kippen. Schon vor Monaten hatte sie einseitig bestimmte erleichterte Übergangsregelungen im Bezug auf Nordirland verlängert, worauf die EU mit einem Vertragsverletzungsverfahren reagierte.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet: „Vier Wochen ist es her, seitdem die EU-Kommission ein Paket mit Vorschlägen präsentiert hat, um die Anwendung der Brexit-Regeln in Nordirland zu vereinfachen. Seither hat es etliche Verhandlungsrunden gegeben, an diesem Freitag treffen sich die Chefunterhändler beider Seiten zum vierten Mal. Doch die Zeichen stehen nicht auf Einigung, sondern auf Sturm. Da wird es nicht bloß um Fischereirechte gehen, wie zuletzt zwischen Britannien und Frankreich, sondern ums Eingemachte. Brüssel stellt sich darauf ein, dass London seine Drohung wahr macht und das Nordirland-Protokoll im Brexit-Abkommen ganz oder teilweise aussetzt. Die EU-Kommission bereitet Vergeltungsmaßnahmen vor – die Mitgliedstaaten sind bereit, Zölle auf britische Waren zu verhängen.“

Wie die FAZ weiter berichtet, herrsche unter den EU-Staaten zunehmend Einigkeit darüber, harte Konsequenzen zu verfügen, falls London einseitig Änderungen an den gemeinsam getroffenen Bedingungen durchsetzt. Frankreichs Regierung zufolge sei eine Nachverhandlung des Nordirland-Protokolls inakzeptabel und die EU müsse im Notfall ihren Binnenmarkt mit harten Grenzen und Zöllen schützen - eine Position, der sich alle anderen EU-Staaten anschlossen. „Es besteht Konsens darüber, dass ein solcher willkürlicher und un­gerechtfertigter Zug des Vereinigten Königreichs auf eine deutliche Antwort treffen wird“, zitiert die FAZ einen namentlich nicht genannten europäischen Diplomaten.

Der Ton wird rauer

Die britische Regierung unter Premierminister Boris Johnson war in den vergangenen Jahren mehrfach als nicht vertrauenswürdig aufgefallen, indem sie einseitig Vereinbarungen brach oder eine Hinhaltetaktik verfolgte. Diese Hinhaltetaktik wird derzeit auch vom britischen Chefunterhändler David Frost verfolgt: Einerseits reitet Frost scharfe Attacken gegen das Abkommen und die EU. andererseits rudert er immer wieder zurück, wenn harte Konsequenzen drohen.

Irland hatte die britische Regierung zuletzt vor einer Eskalation gewarnt. „Die harte Tour zu verfolgen oder auf harten Kerl zu machen, ist kontraproduktiv, wenn es um Nordirland geht, und wird in einer Katastrophe münden“, sagte der irische Europa-Staatssekretär, Thomas Byrne, am Freitag dem Sender BBC Radio 4. Byrne betonte, die Gefahr sei groß, dass dies zu völliger Instabilität in der früheren Bürgerkriegsregion führe. Die USA übten Druck auf Großbritannien aus, und die EU sei in der Nordirland-Frage geeint, sagte er. London riskiere daher, ein Außenseiter zu sein.

EU-Vizekommissionspräsident Maros Sefcovic und der britische Brexit-Minister David Frost wollten sich am Freitag in London erneut zu Gesprächen treffen. Großbritannien droht, das sogenannte Nordirland-Protokoll außer Kraft zu setzen, wenn es keine Einigung gibt. Die EU hat angeboten, Zollvorschriften für Lieferungen zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs weitgehend zu erleichtern. Allerdings besteht die EU darauf, dass der Europäische Gerichtshof wie im Brexit-Abkommen vereinbart die letzte Entscheidungsinstanz ist. Diese Regelung will London aufheben.

Die Zeitung Times berichtete, Großbritannien wolle die Lage deeskalieren. Demnach werde Frost Sefcovic deutlich machen, dass London die Gespräche intensivieren wolle. Die EU-Vorschläge könnten die Basis für einen Kompromiss bilden, hieß es demnach in britischen Regierungskreisen. Zuvor hatte Finanzminister Rishi Sunak eine konstruktive Zusammenarbeit mit der EU angemahnt.

In Nordirland flammt die Gewalt wieder auf

Bedeutsam ist, dass der Streit um das Nordirland-Protokoll die fragile Sicherheitslage in Nordirland selbt zunehmend erschüttert.

So war ein Linienbus, unterwegs im Vorort Newtownabbey der nordirischen Hauptstadt Belfast, am Sonntagabend von vier Männern überfallen und anschließend in Brand gesteckt worden. Wie der Sender BBC berichtet, hätten die Entführer die Fahrgäste zum Aussteigen gezwungen. Nachdem alle an Insassen ausgestiegen waren, sei der rote Doppeldeckerbus auf offener Straße angezündet worden. Die Feuerwehr konnte das Fahrzeug nicht mehr retten.

Das ist der zweite Bus innerhalb einer Woche, der in Nordirland überfallen und abgebrannt wurde. Am vergangenen Montag hatten zwei bewaffnete und maskierte Männer einen Bus westlich von Belfast derselben Behandlung unterzogen. Der Vorsitzende der Regierungspartei DUP, Jeffrey Donaldson, verurteilte die Tat auf Twitter. „Das ist sinnlos. Veränderungen erreicht man durch Politik - nicht durch das Abbrennen von Bussen.“ Die Motive der Brandstifter waren unklar.

Translink, der Betreiber der öffentlichen Buslinien, hat alle Bus und Metro-Verbindungen bis Montag eingestellt. Der betroffene Fahrer sei schwer mitgenommen und würde von seinen Kollegen unterstützt, berichtet der Belfast Telegraph.

Mit Blick auf die Corona-Pandemie und den Austritt Großbritanniens aus der EU warnt eine Friedensorganisation in Nordirland vor der Verschärfung des jahrzehntealten Konflikts in der früheren Bürgerkriegsregion. Paramilitärische Gruppen auf beiden Seiten erhielten derzeit großen Zulauf, sagte der Chef des International Fund for Ireland (IFI), Paddy Harte, der Nachrichtenagentur PA. Sowohl die zumeist protestantischen Anhänger der Union mit Großbritannien als auch die katholischen Befürworter einer Wiedervereinigung mit dem EU-Mitglied Irland würde in „alarmierendem“ Ausmaß neue Kräfte rekrutieren. Es sei „sehr, sehr wahrscheinlich“, dass es zu neuer Gewalt komme.

„Der Brexit hat Fragen der Kultur und Identität sowie alte Wunden aufgeworfen, die weit in den Hintergrund getreten waren“, so Harte. Corona habe dann Möglichkeiten zum Diskurs unterbunden. Zudem habe ein „Covid-Nationalismus“ dazu geführt, dass Unterschiede in der Pandemiebekämpfung in Irland und Großbritannien stärker unter die Lupe genommen worden seien.

Die Loyalisten befürchteten, dass der Brexit und die im Austrittsvertrag festgelegten Handelsregeln eine innerbritische Grenze schaffen, sagte Harte. Auf der anderen Seite fühlten sich die Republikaner im Stich gelassen. Nur mit großem Einsatz von Friedensstiftern und Sozialarbeitern seien im Frühjahr größere Krawalle verhindert worden. Damals kam es tagelang zu Ausschreitungen vor allem in Belfast. Die Lage bleibe aber herausfordernd, sagte Harte.

Die unabhängige Organisation wurde 1986 gemeinsam von der britischen und der irischen Regierung gegründet, um Friedensbemühungen und Widergutmachungsprozesse in Nordirland zu fördern.

Brexit facht Fachkräftemangel an

Wegen des akuten Fachkräftemangels und der rasant steigenden Energiekosten haben viele britische Unternehmen einer Umfrage zufolge ihre Preise angehoben. Die Chefin der britischen Handelskammer BCC, Shevaun Haviland, forderte die Regierung zu rascher Hilfe auf. „Wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, könnten Unternehmen gezwungen sein, ihre Kapazitäten zu reduzieren oder ihr Produktangebot einzuschränken“, warnte Haviland.

Die Firmen stünden unter enormem Druck, die benötigten Waren und Dienstleistungen bereitzustellen. „Aber wir haben noch keine konkreten Schritte zur Lösung dieser Probleme gesehen“, sagte die Generalsekretärin der British Chambers of Commerce (BCC).

Der BCC-Umfrage zufolge haben 80 Prozent der 1000 befragten Unternehmen ihre Preise im vergangenen Jahr erhöht, mehr als die Hälfte davon deutlich. Grund sind demnach vor allem die stark erhöhten Kosten für Kraftstoff, Container und Energie.

Drei Viertel der Unternehmen mit mindestens 50 Beschäftigten leiden zudem unter fehlenden Fachkräften. Besonders akut ist der Mangel demnach bei Lastwagenfahrern, Ingenieurinnen, Lagermitarbeitern, Buchhalterinnen, Köchen und IT-Technikerinnen. Neue, rigide Migrationsregeln haben seit dem Brexit den Zuzug für Fachkräfte erschwert und zu einer Abwanderung zehntausender EU-Bürger geführt. Das sichtbarste Zeichen für das Fehlen der Europäer - in diesem Fall osteuropäischer Lastwagenfahrer - war die akute Knappheit in der Versorgung mit Treibstoff, welche schließlich nur durch den Einsatz der Armee behoben werden konnte.

Die BCC betonte, dass auch die Corona-Pandemie weiterhin Folgen für die Wirtschaft habe: Derzeit seien etwa 30.000 Beschäftigte wegen einer Infektion in Isolation.

Die Opposition machte die Regierung für die Situation verantwortlich. „Dies liegt nicht an Corona oder globalen Problemen“, sagte die Labour-Haushaltsexpertin Bridget Phillipson. „Obwohl die Konservativen sich jahrelang auf den Brexit vorbereiten konnten, haben sie keinen Plan, die Fähigkeiten und Jobs der britischen Arbeiter zu verbessern oder Engpässe an unseren Grenzen zu überwinden.“ Stattdessen erhöhe die Regierung die Steuern und trage zu den steigenden Lebenshaltungskosten bei.

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