Politik

Experten: Streit um Nordirland könnte zu Handelskrieg zwischen London und Brüssel eskalieren

Lesezeit: 3 min
12.10.2021 14:29  Aktualisiert: 12.10.2021 14:29
Die britische Regierung torpediert das von ihr selbst ausgehandelte Nordirland-Protokoll. Premier Johnson könnte bewusst eine Eskalation herbeiführen, schätzen Beobachter.
Experten: Streit um Nordirland könnte zu Handelskrieg zwischen London und Brüssel eskalieren
Eine alte Eisenbahnbrücke, die in den 1970er Jahren von der britischen Armee gesprengt wurde, liegt teilweise im Fluss Belcoo. Die 500 Kilometer lange Grenze zwischen Irland und Nordirland wird die einzige Landgrenze Großbritanniens zu einem EU-Land sein. (Foto: dpa)
Foto: David Goldman

Mehr zum Thema:  
Benachrichtigung über neue Artikel:  
Politik  
Brexit  

Der Streit zwischen London und Brüssel über den Sonderstatus der britischen Provinz Nordirland könnte nach Ansicht von Rechts- und Handelsexperten eskalieren. Die jüngsten Forderungen der Regierung in London zur Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im sogenannten Nordirland-Protokoll des Brexit-Vertrags seien praktisch nicht zu erfüllen, machte Holger Hestermeyer, Professor für Internationales Recht und Europarecht am King's College London, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag deutlich.

Die EU habe «hier rechtlich kaum Verhandlungsspielraum», was beiden Seiten bekannt sei. Im schlimmsten Fall könne das zu einer Aufkündigung des Freihandelsabkommens führen, so Hestermeyer weiter. Auch andere Experten warnen vor einem drohenden Handelskrieg zwischen Brüssel und London. Der Analyst Mujtaba Rahman vom Beratungsunternehmen Eurasia Group glaubt, dass eine drastische Maßnahme von Seiten der EU immer wahrscheinlicher wird. Sollte London das Nordirland-Protokoll infrage stellen, stehe auch das Handelsabkommen auf der Kippe, schrieb Rahman auf Twitter.

Der britische Brexit-Minister David Frost wollte noch am Dienstag bei einer Rede in Lissabon die Position Londons in dem Streit darstellen - nur einen Tag, bevor die EU konkrete Lösungsvorschläge präsentieren will. Frost hatte das Protokoll selbst ausgehandelt - nun bezeichnete er die erwarteten Zugeständnisse der Europäischen Kommission bereits im Vorfeld als nicht ausreichend und forderte, der EuGH dürfe keine Rolle mehr spielen. Spekuliert wird daher, London könne es auf einen Zusammenbruch der Vereinbarung angelegt haben.

Im Klartext: Frost und sein Premierminister Boris Johnson wollen sich nicht mehr an das von ihnen ausgehandelte Abkommen mit der EU halten. Einen Tag, bevor die EU nun Vorschläge zu einem Kompromis veröffentlichen will, erklärt Frost diese als unzureichend.

Mit dem Nordirland-Protokoll gelang während der britischen Austrittsverhandlungen der Durchbruch im Streit um die frühere Bürgerkriegsregion. Das Abkommen sieht vor, dass die britische Provinz weiterhin den Regeln des EU-Binnenmarkts und der Zollunion folgt. Damit soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und dem EU-Mitglied Republik Irland - und ein neuerlicher Ausbruch des Konflikts um eine Wiedervereinigung der Insel - verhindert werden.

Notwendig werden dadurch aber Kontrollen zwischen dem Rest des Vereinigten Königreichs und Nordirland. London will sich nämlich nicht mehr an EU-Standards binden. Waren, die von England, Schottland und Wales nach Nordirland gelangen, müssen nun angemeldet und teilweise kontrolliert werden. Einige Produkte wie zum Beispiel gekühltes Fleisch dürfen nach Ablauf einer Gnadenfrist gar nicht mehr eingeführt werden - die britische Presse bezeichnete den Streit daher auch als «Würstchenkrieg».

Wie blank die Nerven inzwischen liegen, zeigt ein nächtliches Twitter-Gefecht zwischen Irlands Außenminister Simon Coveney und Frost: Coveney warf Frost vor, immer neue Forderungen zu stellen. «Echte Frage: Will die britische Regierung eigentlich einen gemeinsam beschlossenen Weg vorwärts oder einen weiteren Zusammenbruch der Beziehungen?», schrieb Coveney am Sonntag in einem Tweet nach Mitternacht. Frost wollte das offenbar nicht auf sich sitzen lassen und antwortete - um halb zwei Uhr morgens - mit mehreren Kurznachrichten: Die Kritik am EuGH sei nicht neu, die Gegenseite habe einfach nicht richtig zugehört.

Den Anhängern der Union mit Großbritannien in Nordirland ist das Protokoll ein Dorn im Auge. Sie fürchten, dadurch vom Vereinigten Königreich abgekapselt zu werden. Die britische Regierung, die für die Kontrollen zuständig sein soll, hatte unter anderem bei Fleischprodukten eine zunächst gewährte Gnadenfrist einfach einseitig verlängert. Ein von Brüssel eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren diesbezüglich liegt derzeit auf Eis.

Großbritanniens Premierminister Boris Johnson hatte das von ihm unterzeichnete Nordirland-Protokoll zunächst als großartigen Erfolg gefeiert. Mit der Einigung wurde der Weg frei für das Brexit-Abkommen und ein gefürchteter No-Deal-Brexit verhindert. Johnson wurde mit einem überwältigenden Sieg bei der Parlamentswahl im Dezember 2019 belohnt. Inzwischen klagt die Regierung in London aber immer mehr über die Konsequenzen des Protokolls und will nachverhandeln.

EU-Kommissionsvizepräsident Maros Sefcovic hatte stets betont, am Rahmen des Protokolls werde nicht gerüttelt, aber praktische Lösungsansätze versprochen. Erwartet wird, dass die Kommission am Mittwoch konkrete Vorschläge macht, um beispielsweise den Import von britischen Würsten und Medikamenten nach Nordirland zu ermöglichen.

Das die britische Regierung in der Frage des EU-Austritts schon früher jegliches Vertrauen verspielt hat, schreiben die DWN seit Jahren.


Mehr zum Thema:  

DWN
Finanzen
Finanzen US-Aktien sind heiß gelaufen: Warum immer mehr Analysten den europäischen Aktienmarkt in den Blick nehmen
22.11.2024

Vermögensverwalter Flossbach von Storch sieht zunehmend Risiken für US-Aktien. Nach der jüngsten Rekordjagd an den US-Börsen verlieren...

DWN
Politik
Politik SPD-Kanzlerkandidat steht fest: Pistorius zieht zurück und ebnet Weg für Scholz
21.11.2024

Nach intensiven Diskussionen innerhalb der SPD hat Verteidigungsminister Boris Pistorius Olaf Scholz den Weg für die erneute...

DWN
Finanzen
Finanzen Bitcoin-Prognose: Kryptowährung mit Rekordhoch kurz vor 100.000 Dollar - wie geht's weiter?
21.11.2024

Neues Bitcoin-Rekordhoch am Mittwoch - und am Donnerstag hat die wichtigste Kryptowährung direkt nachgelegt. Seit dem Sieg von Donald...

DWN
Panorama
Panorama Merkel-Buch „Freiheit“: Wie die Ex-Kanzlerin ihre politischen Memoiren schönschreibt
21.11.2024

Biden geht, Trump kommt! Wer auf Scholz folgt, ist zwar noch unklar. Dafür steht das Polit-Comeback des Jahres auf der Tagesordnung: Ab...

DWN
Politik
Politik Solidaritätszuschlag: Kippt das Bundesverfassungsgericht die „Reichensteuer“? Unternehmen könnten Milliarden sparen!
21.11.2024

Den umstrittenen Solidaritätszuschlag müssen seit 2021 immer noch Besserverdiener und Unternehmen zahlen. Ob das verfassungswidrig ist,...

DWN
Finanzen
Finanzen Bundesbank: Konjunkturflaute, Handelskonflikte, leere Büroimmobilien - Banken stehen vor akuten Herausforderungen
21.11.2024

Eigentlich stehen Deutschlands Finanzinstitute in Summe noch ganz gut da – so das Fazit der Bundesbank. Doch der Blick nach vorn ist...

DWN
Finanzen
Finanzen Von Dividenden leben? So erzielen Sie ein passives Einkommen an der Börse
21.11.2024

Dividenden-ETFs schütten jedes Jahr drei bis vier Prozent der angelegten Summe aus. Wäre das auch was für Ihre Anlagestrategie?...

DWN
Politik
Politik Weltstrafgericht erlässt auch Haftbefehle gegen Netanjahu und Galant - wegen Kriegsverbrechen im Gaza-Streifen
21.11.2024

Der Internationale Strafgerichtshof hat Haftbefehle gegen Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, den früheren...