Jens Weidmann, der scheidende Präsident der Bundesbank und Mitglied des EZB-Rats, hat davor gewarnt, dass die Inflation wahrscheinlich länger als erwartet über dem Zielwert der Europäischen Zentralbank bleiben wird und dass diese Entwicklung möglicherweise eine Reduzierung der extrem lockeren Geldpolitik erforderlich machen wird. "Angesichts der erheblichen Unsicherheiten im Hinblick auf die Inflationsaussichten sollte die Geldpolitik nicht zu lange an ihrem derzeitigen sehr expansiven Kurs festhalten", sagte er am Freitag auf einer Bankenkonferenz in Frankfurt:
Damit hat Weidmann einen offenen Streit ausgelöst. Denn seine Äußerungen standen im krassen Widerspruch zu denen von EZB-Präsidenten Christine Lagarde, die einige Stunden zuvor auf derselben Veranstaltung erklärt hatte, dass die Notenbank "geduldig" bleiben sollten, um eine verfrühte Straffung der Politik zu vermeiden. Zugleich musste aber auch Lagarde einräumen, dass die Inflation in der Eurozone steigt, was "unerwünscht und schmerzhaft" sei.
"Wir dürfen angesichts vorübergehender oder angebotsbedingter Inflationsschocks nicht zu einer verfrühten Straffung der Geldpolitik übergehen", sagte Lagarde und deutete an, dass die EZB auf ihrer Sitzung im nächsten Monat einen beträchtlichen Stimulus beibehalten wird, auch wenn andere Zentralbanken ihre Unterstützung reduziert haben. So haben die US-Notenbank Federal Reserve und die Bank of England wegen des jüngsten Inflationsanstiegs eine straffere Politik zumindest versprochen.
Die Reden von Lagarde und Weidmann zeigen die starken Meinungsverschiedenheiten unter den EZB-Ratsmitgliedern im Vorfeld ihrer Sitzung im nächsten Monat, wo sie über die Anleihekäufe im nächsten Jahr entscheiden und neue Inflationsprognosen veröffentlichen werden, die den Anlegern einen entscheidenden Hinweis darauf geben werden, wie nahe sie einer Zinserhöhung stehen. Die Inflation im Euroraum erreichte im Oktober mit 4,1 Prozent den höchsten Stand seit 13 Jahren und lag deutlich über dem EZB-Ziel von 2 Prozent.
Daher haben einige Anleger bereits darauf gewettet, dass die Europäischen Zentralbank die Zinsen im nächsten Jahr anheben wird. Lagarde sagte nun jedoch, dass viele der Faktoren, die zu einer höheren Inflation geführt haben, wie steigende Energiepreise und Lieferkettenprobleme, mittelfristig nachlassen dürften, was den Anstieg der Verbraucherpreise mindern würde. Daher seien "die Bedingungen für eine Zinserhöhung im nächsten Jahr höchstwahrscheinlich nicht erfüllt", wird die EZB-Präsidentin in der Financial Times zitiert.
Weiter argumentierte Lagarde: "In einer Zeit, in der die Kaufkraft bereits durch höhere Energie- und Kraftstoffrechnungen belastet wird, würde eine unangemessene Verschärfung einen ungerechtfertigten Gegenwind für die Erholung bedeuten." Die Äußerungen der EZB-Chefin belasteten den Euro zusätzlich zu den neuen Corona-Beschränkungen. Der Euro fiel um 0,7 Prozent auf 1,284 Dollar und liegt nahe einem 16-Monats-Tief. Auch gegenüber anderen Währungen verlor er an Boden. So fiel er auf 1,048 Schweizer Franken - der tiefste Stand seit sechs Jahren.
Staatsanleihen der Eurozone erholten sich hingegen, denn länger anhaltende Käufe durch die EZB stellen die Nachfrage nach den Papieren sicher. Weiteren Auftrieb erhielten sie dadurch, dass in Deutschland und Österreich neue Corona-Beschränkungen eingeführt wurden. Die Rendite 10-jähriger deutscher Staatsanleihen, einer Benchmark für Anlagen im gesamten Euroraum, fiel um 0,04 Prozentpunkte auf minus 0,32 Prozent und damit auf den niedrigsten Stand seit zwei Monaten.
Der Bundesbank-Chef äußerte Zweifel an den Prognosen der EZB, dass die Inflation in den nächsten Jahren wieder unter ihr 2-Prozent-Ziel fallen wird. "Die hohen Inflationsraten werden wahrscheinlich länger brauchen als bisher angenommen, um wieder zu sinken", sagte Weidmann, der im vergangenen Monat angekündigt hatte, dass er im Dezember, sechs Jahre vor Ablauf seiner Amtszeit, zurücktreten werde, zum Teil aufgrund seiner Frustration über die Politik der EZB.
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"Um die Inflationserwartungen fest zu verankern, müssen wir immer wieder betonen, dass die Geldpolitik insgesamt normalisiert werden muss, wenn dies zur Sicherung der Preisstabilität erforderlich ist", so Weidmann. Zwar wird die EZB voraussichtlich auf ihrer Sitzung im Dezember ankündigen, dass ihr Programm zum Anleihekauf im Wert von 1,85 Milliarden Euro im März 2022 auslaufen wird. Anleger erwarten aber, dass die Zentralbank die möglichen Auswirkungen auf die Anleihemärkte abfedern wird und ihr längerfristiges Programm zum Ankauf von Vermögenswerten ausweitet.
Da sich die EZB verpflichtet hat, die Zinsen nicht anzuheben, bevor sie ihre Anleihekäufe einstellt, wird die Entscheidung im nächsten Monat ein wichtiges Signal für den möglichen Zeitpunkt der ersten Zinserhöhung liefern. Weidmann wies darauf hin, dass die EZB infolge der massiven Anleihekäufe zum größten Gläubiger der Euro-Staaten geworden ist. "Die Zentralbanken werden von den Staaten und den Finanzmärkten zunehmend unter Druck gesetzt werden, die Geldpolitik länger expansiv zu halten, als es das Ziel der Preisstabilität erfordern würde", sagte er.
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