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Darwin ist tot, Gott sowieso – die Transhumanisten übernehmen

Lesezeit: 7 min
26.12.2021 09:04  Aktualisiert: 26.12.2021 09:04
Was verbirgt sich hinter dem Begriff „Transhumanismus“? Wer sind die führenden Transhumanisten, und was sind ihre Ziele? Diese und viele andere Fragen beantwortet der renommierte Experte Christopher Coenen im großen DWN-Interview.
Darwin ist tot, Gott sowieso – die Transhumanisten übernehmen
Vom Gehirn mit stimulierenden Implantaten bis zur Gottwerdung: Die Transhumanisten wollen den Menschen völlig von seinem Körper und dessen Einschränkungen lösen. (Foto: pixabay)

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Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Coenen, Sie sind anerkannter Experte für Transhumanismus. Können Sie uns erklären, was sich hinter dem Begriff verbirgt?

Christopher Coenen: Der Transhumanismus ist eine Weltanschauung oder Ideologie, einige würden ihn wohl auch eine Philosophie nennen. Ich spreche am liebsten von einem „Ensemble von Ideen“, die zusammen eine Zukunftsvision von der Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit darstellen. Nicht nur im angelsächsischen Raum, wo der Transhumanismus besonders populär ist, wird dies als „Human Enhancement“ bezeichnet. Im Kern geht es im Transhumanismus um die Verbindung des menschlichen Körpers mit Maschinen. Ziel ist es dabei nicht, ein intelligentes Kunstwesen zu erschaffen, also beispielsweise keine mit Künstlicher Intelligenz ausgestatteten Roboter, sondern einen Menschen, der seinen Körper überwunden hat, indem Teile dieses Körpers von Maschinen ersetzt oder – in erster Linie das Gehirn – mit Maschinen verbunden werden.

Die ersten Ansätze dazu gibt es bereits – beispielsweise, wenn Menschen komplexe Prothesen tragen oder wenn ihre Gehirne mit stimulierenden Implantaten ausgestattet sind. Natürlich befinden sich diese Technologien noch im Anfangsstadium. Die Transhumanisten setzen aber auf den technischen Fortschritt, der es dem Menschen eines Tages erlauben soll, seinen Körper beziehungsweise dessen Einschränkungen komplett zu überwinden.

Die Endstufe der großen transhumanistischen Vision ist dann oft die Kontrolle des Weltalls, eine Gottwerdung der Menschheit. Das ist natürlich extreme Zukunftsmusik und hat derzeit keine praktische Relevanz. Aber es ist das ultimative Ziel vieler Transhumanisten.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Das klingt alles sehr befremdlich, sehr bizarr. Wer kommt auf solche Ideen?

Christopher Coenen: Die Idee einer Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit existiert schon sehr lange. Der Transhumanismus in seiner heutigen Ausprägung allerdings geht, soweit ersichtlich, auf eine Figur des 19. Jahrhunderts zurück, auf den Briten Winwood Reade, einen Afrikaforscher und Schriftsteller, der von 1838 bis 1875 lebte. Er war keine bedeutende Geistesgröße, aber doch eine interessante Gestalt. Auf einer seiner Reisen verschlug es ihn an die westafrikanische Küste, wo er – wohl im Fieberwahn – eine Art Universalgeschichte der Menschheit mit dem Titel „The Martyrdom of Man“ (zu Deutsch: „Das Martyrium des Menschen“) schrieb, ein durchaus lesenswertes Buch. In ihm finden sich die grundsätzlichen Ideen des heutigen Transhumanismus.

Ein zweites wichtiges Grundlagenwerk des Transhumanismus ist das 1929 erschienene Buch „The World, the Flesh and the Devil“ (zu Deutsch: „Die Welt, das Fleisch und der Teufel“), das von dem Iren John Desmond Bernal stammt, ein in Deutschland – zu Unrecht – kaum bekannter brillanter Kopf, der von 1901 bis 1971 lebte. Er hat unter anderem Pionierarbeit beim Gebrauch der Röntgenkristallographie in der Mikrobiologie geleistet, kam als wissenschaftlicher Berater bei der Landung der Alliierten in der Normandie zum Einsatz und war als glühender Kommunist insbesondere in vielen nichtwestlichen Ländern hochangesehen.

Die heutigen Transhumanisten berufen sich in der Regel nicht auf sein Buch, die meisten kennen es wahrscheinlich noch nicht einmal, es hat aber über Umwege – beispielsweise die Science-Fiction – die heutigen Diskussionen maßgeblich geprägt. Im Rückblick betrachtet, wirkt es wie ein „kommunistisches Manifest“ des Transhumanismus. Es ist auch wie die Schrift von Engels und Marx ein eher schmales Werk, sehr eindringlich und sehr emotional in Aussage und Sprache.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Da müssen wir einhaken. Hat der Transhumanismus etwa mit dem Sozialismus zu tun?

Christopher Coenen: Das hat er durchaus. Reade war kein Sozialist, aber Wegbereiter eines radikalen Atheismus; Bernal war Kommunist, und es gab weitere Kommunisten oder Sozialisten unter den frühen transhumanistischen Visionären. Deren Schriften richteten sich direkt gegen das Christentum und die etablierte Kultur. Der Transhumanismus ist eine Glorifizierung von Wissenschaft und Technik, eine Weltanschauung, die keinen Gott mehr kennt, was beispielsweise auch für die marxistische Philosophie gilt. Mir erscheint der Transhumanismus ganz klar als eine Kriegserklärung ans christliche Weltbild. Die Vertreter des Transhumanismus sagen im Grunde, dass dieser die Versprechungen des Christentums fürs Jenseits bereits im Diesseits erfüllen werde.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Dann sind die Anhänger des Transhumanismus also Kommunisten? Wir müssen sie also beispielsweise in China suchen?

Christopher Coenen: Das nun nicht, es ging mir hier um dessen historische Wurzeln. Eher ist das Gegenteil der Fall: Der Transhumanismus wird heute – nicht zu Unrecht – zumeist mit einem extrem individualistischen und libertären Kapitalismus assoziiert. Seine wichtigsten und einflussreichsten Anhänger finden sich im Silicon Valley in Kalifornien beziehungsweise allgemein in der US-amerikanischen IT-Industrie. Und die sind ganz bestimmt keine Kommunisten, im Gegenteil, sie sind glühende Anhänger des Kapitalismus.

Es sind Männer wie Bill Gates, die beiden Google-Gründer Larry Page und Sergey Brin, der rechts-libertäre Investor Peter Thiel sowie der reichste Mann der Welt, Tesla-Gründer Elon Musk. Das heißt, es sind höchst einflussreichste Männer, und deshalb kann man ihre Unterstützung des Transhumanismus nicht einfach so als irrelevant abtun. Darauf habe ich auch in Berichten für den Bundestag und das Europaparlament hingewiesen. Dies wurde teilweise kritisiert, es hieß sogar, ich klänge wie ein Verfassungsschützer oder Verschwörungsdenker, aber ich denke, es ist sinnvoll und berechtigt, auf die transhumanistischen Netzwerke und die durch sie vertretenen Ideen hinzuweisen. Selbst, wenn man den Transhumanismus als Scharlatanerie abtun will: Diese sehr einflussreichen Verfechter der transhumanistischen Vision prägen unsere Welt; und hinter dem Anspruch, an der Spitze des wissenschaftlich-technischen Fortschritts zu stehen, findet sich eine Art von Erlösungsreligion.

Auch wenn ich es nicht teile, findet Verschwörungsdenken allerdings einiges Material im Transhumanismus. Ein Beispiel dafür: Die vom Verleger John Brockman gegründete „Edge Foundation“ betreibt die Webseite „edge.org“ und hat seit circa der Jahrtausendwende bedeutende Figuren aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammengebracht, oft unter Propagierung transhumanistischer Ideen. Ein Mittel dazu waren „Milliardärs-Dinner“, auf denen „die Reichsten die Klügsten“ treffen sollten. Tatsächlich nahmen Leute wie Jeff Bezos und die Google-Gründer neben führenden transhumanistischen Aktivisten teil, und der berüchtigte Jeffrey Epstein war ein wichtiger finanzielle Unterstützer.

Ich möchte auch noch auf Ray Kurzweil hinweisen, einen bedeutenden Erfinder und Autor vieler transhumanistischer Schriften, der auch ein hochrangiger Google-Mitarbeiter und Gründer der „Singularity University“ ist. Dieser Kurzweil, der wie viele Transhumanisten hofft, nicht sterben zu müssen, hat vorausgesagt, dass im Jahre 2029 das menschliche Gehirn und der Computer eine Einheit bilden werden und wir in der Zukunft Gott erschaffen werden. Jemand hat gesagt, er halte Kurzweil für den bedeutendsten Zukunftsdenker unserer Zeit. Wer dieser jemand war? Bill Gates! Das betone ich an dieser Stelle, um nochmals klar zu machen, wie stark der Glaube an –oder zumindest die Unterstützung für – den Transhumanismus bei Machern der IT-Branche ist.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: In unserem Gespräch ging es bisher ausschließlich um Menschen aus dem englischsprachigen Raum: England, Irland, die USA. Welche Rolle spielt der Transhumanismus eigentlich in Deutschland?

Christopher Coenen: Auch hierzulande gibt es Transhumanisten, auch unter seriösen Wissenschaftlern. Sie halten sich in der Regel aber zurück. Das mag auch damit zu tun haben, dass im Durchschnitt die Deutschen in mancherlei Hinsicht technikskeptischer sind als beispielsweise die Amerikaner und transhumanistischen Ideen deshalb kritischer gegenüberstehen.

Der – mittlerweile verstorbene – Mitherausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, der mit Brockman kooperierte, trug mit einer Kampagne im Feuilleton der FAZ und mit seinem 2001 herausgegebenen Buch „Die Darwin AG: Wie Nanotechnologie, Biotechnologie und Computer den neuen Menschen träumen“ dazu bei, den Transhumanismus in Deutschland etwas bekannter zu machen. Der Philosoph Jürgen Habermas nannte in dieser Zeit dann in seinem Buch „Zukunft der menschlichen Natur“ transhumanistische Visionen „seltsame Ideen“.

Der Untertitel von Habermas´ Buch lautet „Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“, und tatsächlich gibt es Gruppen, die den Transhumanisten vorwerfen, behinderte Menschen als weniger wertvoll als andere Menschen anzusehen. In Deutschland hat so ein Vorwurf angesichts unserer Geschichte natürlich eine ganz besondere Wirkmächtigkeit.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Wie weit werden die Ideen der Transhumanisten in den kommenden Jahren gedeihen?

Christopher Coenen: Durch Fortschritte im Bereich der Neurotechnologien, die das Gehirn stimulieren oder es mit Maschinen verbinden, findet bereits eine erhebliche Entgrenzung zwischen Mensch und Maschine statt. Hierbei geht es aber im Wesentlichen um die Therapie schwerer Krankheiten oder die Kompensation stark einschränkender Behinderungen.

Die Transhumanisten wollen dagegen den Menschen zu neuen Höhenflügen führen. Elon Musk hat 2017 vorhergesagt, bis Ende der 2020er Jahre werde sein Unternehmen „Neuralink“ ein hochleistungsfähiges Gehirnimplantat entwickeln, dass sich jeder Mensch einsetzen lassen könne. Das wird aller Voraussicht nach nicht gelingen, und Facebook hat unlängst ein größeres neurotechnologisches Projekt aufgegeben. Aber der Umstand, dass viele Personen und Unternehmen von global entscheidendem Einfluss transhumanistische Visionen aktiv verfolgen, sollte uns durchaus zu denken geben.

Deutsche Wirtschaftsnachrichten: Herr Coenen, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

***

Zum Interviewpartner: Christopher Coenen leitet die Forschungsgruppe ‚Gesundheit und Technisierung des Lebens‘ am „Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse“ (ITAS) im „Karlsruher Institut für Technologie“ (KIT). Der studierte Politikwissenschaftler ist ein Kenner des Transhumanismus und ist auf diesen unter anderem in Studien für den Deutschen Bundestag und das Europäische Parlament eingegangen als auch in Projekten zur Nanotechnologie, zum sogenannten „Human Enhancement“ sowie zu Mensch-Maschine-Entgrenzungen. Aktuell koordiniert er unter anderem das transnationale NEURON-ERANET-Forschungsprojekt „FUTUREBODY“, in dem es um die Zukunft des menschlichen Körpers im Lichte neurotechnologischen Fortschritts und dabei auch um den Transhumanismus geht, sowie die Arbeit des KIT-ITAS im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekt „INOPRO“ zur – unter anderem – Entwicklung intelligenter Gliedmaßen-Prothesen und diese unterstützenden Neurotechnologien. Coenen ist leitender Herausgeber der beim Wissenschaftsverlag „Springer“ erscheinenden Zeitschrift „NanoEthics: Studies of New and Emerging Technologies“.


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