Technologie

Der perfektionierte Mensch: Ein Plädoyer für den Transhumanismus

Lesezeit: 8 min
02.01.2022 11:00
Transhumanisten streben die Verschmelzung von Mensch und Technologie an, um die Menschheit auf die nächste Entwicklungsstufe zu heben – und ziehen damit zuweilen heftige Kritik auf sich. Dabei sind ihre Kernideen doch tief im menschlichen Geist verankert.
Der perfektionierte Mensch: Ein Plädoyer für den Transhumanismus
Der menschliche Geist hat unendliches Potential - man muss es nur ausschöpfen. (Foto: Pixabay)

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Macht die Menschheit Fortschritte? Nun, auch wenn verschiedene Beobachter diese Frage in Hinblick auf Werte und Moral unterschiedlich beantworten würden, so steht doch eines außer Frage: Die Menschheit hat in der Vergangenheit in materieller und technologischer Hinsicht gigantische Fortschritte gemacht, und es gibt keinen Grund, warum sich das in Zukunft ändern sollte.

Verantwortlich dafür war immer der technologische Fortschritt. Ein paar Beispiele: Zunächst verbesserten die Jäger und Sammler der Vorzeit kontinuierlich ihre Werkzeuge und Waffen. Vor ungefähr 12.000 Jahren wurden unsere Vorfahren mit der Ausbreitung von Ackerbau und Viehzucht („neolithische Revolution“) schließlich sesshaft, was einen gewaltigen Schritt in der menschlichen Entwicklung bedeutete. Im 19. Jahrhundert gelangte die Menschheit durch die industrielle Revolution zu – bis dahin nicht bekanntem – unvorstellbarem Wohlstand. In den 1970er-Jahren kam es durch großskalige Automatisierung von Produktions- und Geschäftsprozessen mittels Elektronik und IT zu einer weiteren Wohlstands-Explosion. Und nach 2000 bedeutete das Internet eine Revolution – es sorgte für eine Vernetzung ungeahnten Ausmaßes und machte Informationen so leicht zugänglich wie nie zuvor. Der nächste Schritt, den die Menschheit gehen wird, ist die Industrie 4.0, wie die Produktionsweise im Zeitalter der digitalen Disruption und der zunehmenden Bedeutung der Künstlichen Intelligenz (KI) genannt wird.

Die künstliche Super-Intelligenz: Eine fundamentale Sehnsucht der Transhumanisten

Stichwort KI: So lange wie die Idee von Künstlicher Intelligenz existiert, existiert auch die Angst vor ihr. Das heißt, man befürchtet, dass die Menschheit durch etwas selbst Geschaffenes erst übertroffen und dann ausgelöscht werden könnte. Diese Angst kam zunächst vor allem in der Science-Fiction zum Ausdruck. Aber auch einer der berühmtesten Wissenschaftler unserer Zeit, der mittlerweile verstorbene Physiker Stephen Hawking, warnte ausdrücklich davor, dass die Entwicklung einer wirklich intelligenten KI das Ende der menschlichen Spezies bedeuten könnte. Was ist, so lautet die Frage der Bedenkenträger, wenn eines Tages ein Supercomputer gebaut wird, der schlauer ist als alle Menschen und „transhumanistisch“ die Welt übernimmt? „Trans“ und „Humanismus“: Über die Menschheit hinausgehend.

Der „Economist“ titelte in einer seiner Ausgaben aus dem Jahr 1998: „Sui Genozid – die menschliche Spezies könnte ihr evolutionäres Potenzial doch noch ausschöpfen, wenn sie nur verschwinden würde.“ Um es nochmal zu wiederholen: über die Menschheit hinausgehend. In dieser Version des Economist überwindet die Menschheit sich dergestalt, dass sie sich selbst auslöscht. Das ist aber nicht das, was Transhumanisten erreichen wollen – im Gegenteil.

Die technologie-gestützte Optimierung des Menschen als moralische Pflicht?

Ihr Ziel ist stattdessen eine Optimierung des Menschen – die Überwindung bisheriger (vor allem biologischer) Grenzen und darüberhinausgehend die Entfaltung des kompletten menschlichen Potenzials durch den Einsatz von Wissenschaft und Technologie. Solch ein Übermensch wäre dem natürlichen Menschen selbstverständlich in vielerlei Hinsicht haushoch überlegen. Trotzdem oder gerade deshalb ziehen die Optimierungs-Visionen der Transhumanisten viel Kritik auf sich.

Wobei das Vorhaben, den Menschen zu perfektionieren, in gewisser Weise ganz natürlich ist. Welcher Mensch will nicht sich selbst, seine persönlichen und die Lebensumstände aller Menschen verbessern? Es handelt sich um hehre Ziele, die wohl so gut wie jeder unterstützen kann:

  • stetiger Ausbau menschlichen Wissens
  • Verlängerung der Lebenszeit
  • Ausrottung tödlicher Krankheiten
  • Eroberung des Weltraums und Besiedlung fremder Planeten

Führende Köpfe des Transhumanismus wie Raymond Kurzweil (Technik-Chef bei Google), der zugleich ein Pionier in der KI-Forschung ist, sehnen eine Super-KI mit nahezu unbegrenzten Fähigkeiten geradezu herbei. Kurzweil erwartet, dass schon in zehn Jahren Künstliche Intelligenzen dem menschlichen Denkapparat in jeder Hinsicht überlegen sein werden sowie in der Lage, sich selbst zu verbessern. Seiner Ansicht nach werden wir in naher Zukunft einen Zeitpunkt der „technologischen Singularität“ erleben – den Moment, an dem die KI so weit entwickelt sein wird, dass sie vollständig mit der menschlichen Intelligenz verschmilzt.

Ethische Bedenken werden innerhalb dieser Denkströmung kaum geäußert. Im Gegenteil: Transhumanisten würden eine Kritik an der moralischen Fragwürdigkeit ihrer Denkanschauungen mit dem Hinweis beantworten, dass es zum Menschsein gehört, die eigene Existenz durch fortschrittliche Technologien zu verbessern, dass es also sogar eine ethische Verpflichtung gibt, den Fortschritt voranzutreiben.

Eine Aussage, an der etwas dran ist. Schließlich ist der Mensch immer bestrebt, seine Lebens-Situation relativ zu einer vorherigen Situation zu verbessern und wählt deshalb zwischen mehreren Handlungsalternativen immer diejenige aus, die ihn besserstellt – das ist ein handlungslogisches Gesetz. Bislang hat sich der technische Fortschritt immer positiv auf die Menschheit und ihren Wohlstand ausgewirkt. Warum sollte das in Zukunft anders sein?

Die biologische Optimierung des Menschen

Menschen mit technologischer Hilfe zu ihrem vollen Potential verhelfen – das ist der Kern des Transhumanismus. Wobei nicht nur Künstliche Intelligenz dabei helfen soll, die physischen und intellektuellen Grenzen, die die Natur uns Menschen setzt, zu überwinden: Robotik, Nanotechnologie, Kognitionswissenschaften, et cetera: Im Prinzip ist jedes Hilfsmittel, das keinen direkten Schaden anrichtet, recht und willkommen.

Viele fortschrittliche Technologien, die man im weitesten Sinne dem Transhumanismus zuordnen würde, finden sich derzeit im medizinischen Bereich – zum großen Nutzen der Patienten. Künstliche Hüften und Kniegelenke sind mittlerweile Standard. Mit Beinprothesen kann man nach Amputationen einen großen Teil des Bewegungsapparats aufrechterhalten. Künstliche Organe sind teilweise eine echte Behandlungsoption. Selbst nach heutigen Maßstäben einfache Korrekturmaßnahmen wie Brillen, Hörgeräte und das Lasern von Augen kann man durchaus als transhumanistischen Fortschritt einordnen. Man spricht von der „Kybernetik“ als ein Zukunftsfeld – aber steckt in uns allen nicht heute schon ein wenig von einem Cyborg?

Auch an der neurologischen Modifikation des Menschen über Chip-Implantate wird schon geforscht. Auch wenn bei solchen potentiell disruptiven medizinischen Technologien fast immer ein Profitinteresse des jeweiligen Forschungs-Unternehmens steht: Wer könnte etwas dagegen haben, dass Blinde ihre Sehkraft wiedererlangen, Querschnittsgelähmte wieder laufen können oder kein Mensch mehr an Krebs sterben muss? In der transhumanistischen Zukunft könnte genau das selbstverständlich werden.

Zum absoluten Schlüsselfeld dürfte in Zukunft allerdings noch ein anderer Bereich werden: Die Veränderung des menschlichen Erbguts. Im Biotech-Sektor beschäftigen sich unzählige Firmen unter dem Überbegriff „Genom-Editierung“ mit nichts anderem. Gentherapie erfasst Methoden zur Prävention und Behandlung von Krankheiten über Eingriffe in das Genom. Zu Ende gedacht könnte es dann irgendwann – in wieviel Jahren lässt sich derzeit nicht vorhersagen – zur Labor-Züchtung und möglicherweise sogar zur Klonung von Menschen kommen. Natürlich von möglichst perfekten Menschen. Diese Form der Eugenik spielt im Transhumanismus eine wichtige Rolle.

Was für nicht wenige Menschen verständlicherweise eine dystopische Vorstellung ist, stellt für Transhumanisten ein Paradies dar. Eine Laborzüchtung würde ein besseres Leben führen als der Krankheiten, unkontrollierbaren Emotionen und mit intellektuellen Grenzen belastete Mensch – so würde ein Transhumanist auf Kritik an seinen Vorstellungen antworten.

Und so werden unter dem Stichwort „Human Performance Augmentation“ Technologien erforscht, die zur vorübergehenden oder dauerhaften Verbesserung der menschlichen Leistungsfähigkeit beitragen sollen. Die Anwendungsbereiche sind zu einem nicht geringen Teil im Militär zu finden, was genau wie Genom-Eingriffe ein sehr umstrittenes Thema ist. Kritiker fragen: Soll wirklich eines Tages eine Laborzüchtung die Verantwortung dafür übernehmen, ab wann getötet wird? Laut einer Bundeswehr-Studie befinden sich die disruptiveren unter diesen Technologien aktuell zwar noch in einem ziemlich frühen Stadium, aber die Gesellschaft müsse darauf vorbereitet sein, dass sie eines Tages, in nicht so ferner Zukunft, Wirklichkeit werden, so die Autoren.

Der „perfekte Mensch“ soll eine Symbiose aus Mensch und Computer sein

Wir erinnern uns: Die Verbindung von Mensch und Computer wird im Transhumanismus nicht nur toleriert, sondern regelrecht gewünscht. Man geht davon aus, dass die nächste Evolutionsstufe der Menschheit nur durch die Verbindung mit Technologie erreicht werden kann. Die immer engere Verbindung von Mensch und Maschine ist für Transhumanisten Teil eines notwendigen evolutionären Prozesses. Implantate, Schnittstellen zu Computern und technisches Zubehör sind demnach im besten Fall nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer vollständigen Verschmelzung von Mensch und Maschine, von menschlicher und Künstlicher Intelligenz.

Der Transhumanismus speist sich stark aus dem Atheismus und strebt in gewisser Weise die Gottwerdung des Menschen an. Transhumanisten brauchen keinen Gott, sondern schaffen sich den „perfekten Menschen“ einfach selbst. Anders formuliert: Die Verehrung von maschinellen (Super-)Intelligenzen soll den Glauben an Gott ersetzen. Futuristen wie Raymond Kurzweil glauben, dass die vollständige Fusion von Mensch und Computer geradezu unvermeidbar ist. Der menschliche Geist, befreit von den Zwängen seines Körpers, wird als Teil einer intelligenten Maschine in den Augen der Transhumanisten zu so etwas wie einem transzendenten Wesen.

Kritiker würden entgegnen, dass der Transhumanismus eine gefährliche und unmenschliche „Fortschrittsreligion“ ist, dessen Verfechter sich durch eine ungesunde Technikgläubigkeit und einen Hang zum Gottkomplex auszeichnen. Sie warnen davor, dass der futuristische Mensch zu einem persönlichkeitslosen Rädchen im gesellschaftlichen Getriebe degradiert werden könnte. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich irgendwo in der Mitte.

Schon immer haben wir Menschen fortschrittliche Technologien genutzt, um unser Leben und unsere Wahrnehmung zu erweitern. Insofern stellen transhumanistische Ziele eine logische Fortsetzung dieser Entwicklung dar – in einem modernen Kontext mit komplett neuartigen technologischen Möglichkeiten.

Transhumanismus und Unsterblichkeit

Letztendlich kommt bei allen Visionen einer kompletten Mensch-Maschine-Verbindung auch die Frage nach dem ewigen Leben auf. Der Wunsch nach der Unsterblichkeit ist ganz zentral im Transhumanismus verankert. Weder biologisch (über die Verhinderung des Alterungsprozesses) noch technologisch (über die Digitalisierung des menschlichen Geistes) ist hier eine Lösung in Sicht. Aufgrund des inhärenten menschlichen Überlebenswillens wird jedoch mit Sicherheit weiter und vermehrt an diesem Thema geforscht werden.

Die Frage, ob man Transhumanismus eher positiv oder eher negativ bewertet, ist auch eine Frage der Einstellung gegenüber der (stets unsicheren) Zukunft. Transhumanisten sind – im Rahmen ihrer Vorstellungen von Fortschritt – stets optimistisch sowie definitiv technikgläubig und wollen ihre Fortschrittsvisionen gleichzeitig schon heute aktiv mitgestalten – eine Art selbsterfüllende futuristische Prophezeiung. Ob man das persönlich gut oder verwerflich findet, hängt vor allem davon ab, wie man menschlichen Fortschritt für sich definiert und kann natürlich auch zu einer ambivalenten Bewertung führen.

Kein Zwang – sondern die große Freiheit

Einige mächtige Menschen werden immer versuchen, aktuelle Technologien für ihre Zwecke zu missbrauchen. Es kann aber nicht die Lösung sein, deshalb fortschrittliche Technologien zu verbieten. Die persönliche Freiheit ist letztlich das entscheidende Kriterium. Solange es in der Welt der Zukunft keinen Zwang für die Verschmelzung von Menschen mit Computern gibt und neuronale Modifikationen oder kybernetische Erweiterungen freiwillig sind – wie und warum wollte man überhaupt dagegen vorgehen? Und wer sein Glück in der virtuellen Welt suchen will, soll das doch gerne tun.

Das Recht auf Selbstbestimmung will einem kein Transhumanist wegnehmen. Im Gegenteil: Die Optimierung des Menschen soll seine Möglichkeiten in der Entscheidungsfindung erweitern – sofern man das möchte und bereit ist, den möglichen Preis einer Verschmelzung von Körper und Geist mit Computer und Künstlicher Intelligenz zu bezahlen.

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Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.


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