Nach Auffassung der „Akademie Bergstraße“ empfiehlt es sich, die letzten sechs Atomkraftwerke Ende dieses und Ende des nächsten Jahres nicht endgültig stillzulegen und abzureißen, sondern vielmehr in die Sicherheitsbereitschaft zu überführen und betriebsbereit zu halten. Die Bundesregierung sollte die Bundesnetzagentur entsprechend anweisen und das Atomgesetz umgehend anpassen. Es gibt drei gewichtige Gründe dafür, die Debatte um die Atomenergie in Deutschland neu zu eröffnen und einen Weiterbetrieb in Erwägung zu ziehen.
Versorgungssicherheit
Erstens pfeifen es inzwischen schon die Spatzen vom Dach, dass die Stromversorgung mit den geplanten Stilllegungen von Atom- und Kohlekraftwerken massiv gefährdet ist. Solar- und Windenergieanlagen liefern nachts und bei Windflauten wie in den vergangenen Wochen so gut wie keinen Strom, und daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn die installierte Leistung in Zukunft verdoppelt oder verdreifacht werden würde. Die erhofften Langzeitspeicher fehlen.
Zahlreiche Fachleute und Institutionen, darunter die Akademie Bergstraße, betonen unermüdlich, dass es eines vollständigen konventionellen Backup-Kraftwerksparks bedarf, da Wind- und Solaranlagen alleine keine Versorgungssicherheit gewährleisten können.
Das bestätigt nun ausgerechnet die neue Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag. Sie betont gleich mehrfach, dass nicht nur der Erhalt, sondern darüber hinaus sogar ein zügiger Neubau von Gaskraftwerken erforderlich wäre:
„Das verlangt (...) die Errichtung moderner Gaskraftwerke, um den im Laufe der nächsten Jahre steigenden Strom- und Energiebedarf zu wettbewerbsfähigen Preisen zu decken. (…) Die (…) zur Versorgungssicherheit (…) notwendigen Gaskraftwerke (…) Wir beschleunigen (…) die Errichtung moderner Gaskraftwerke (…) Die (…) notwendigen Gaskraftwerke (…) Erdgas ist (…) unverzichtbar. (…) Um den zügigen Zubau gesicherter Leistung anzureizen und den Atom- und Kohleausstieg abzusichern (…) Dazu zählen u. a. (…) hocheffiziente Gaskraftwerke (…) um (...) Gaskraftwerke auch an Kohlekraftwerkstandorten anreizen zu können (...)“.
Grüne, SPD und FDP machen es somit regierungsamtlich, dass Wind- und Solaranlagen ohne zuverlässige, regelbare Backup-Kraftwerke keine sichere Stromversorgung bieten.
Sie setzen gemäß Wortlaut ihres Regierungsvertrags darauf, dass es möglich sei, die erforderlichen Gaskraftwerke in Kürze ans Netz bringen zu können. Berechnungen zufolge müssten allerdings innerhalb von nur acht Jahren bis 2030 insgesamt 50 bis 140 neue Gaskraftwerke der 300-Megawatt-Klasse ans Netz gebracht werden. Wie das bei üblichen Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten von acht Jahren für ein Gaskraftwerk funktionieren soll, bleibt das Geheimnis der Regierungsparteien.
Ebenso ist völlig unklar, wo die Investoren herkommen sollen, wenn die „EU-Taxonomie“ Erdgaskraftwerke zwar für prinzipiell zulässig erklärt, zugleich aber die „erlaubten“ CO2-Emissionen auf Werte limitiert (weniger als 100 Gramm CO pro Kilowattstunde), die von marktüblichen Gaskraftwerken technisch schlichtweg nicht eingehalten werden können (300 Gramm). Man fühlt sich an technisch nicht realisierbare EU-Vorschriften für Verbrennungsmotoren erinnert. Technisch Unmögliches vorzuschreiben, was faktischen Verboten gleichkommt, wird mehr und mehr zur üblichen Politik der EU-Kommission. Auch so kann man den Standort Europa mutwillig zerstören.
Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob es wirklich klug ist, die Stromversorgung Deutschlands vollständig von Erdgaslieferungen abhängig zu machen, wenn Erdgas gerade zum Spielball der Mächte in Europa wird.
Es ist eine völlig fahrlässige Politik, Kohle- und Atomkraftwerke stilllegen zu wollen, bevor Ersatz-Kraftwerke tatsächlich am Netz sind und die Brennstoffversorgung gesichert ist.
Das zeigt: Die aktuelle Energiepolitik ist nicht mehr auf die Gewährleistung der Versorgungssicherheit orientiert. Deutschland ist auf dem Weg in eine StromMangelWirtschaft.
Das ist erschreckend, und das aktuelle Vorgehen folgt keineswegs der „Ausstiegs-Philosophie“ der vergangenen Jahrzehnte: Jahrzehntelang waren sich die Gegner und die Befürworter der Atomenergie stets einig darin, dass die Lichter nicht ausgehen dürfen. Der Atomausstieg stand stets unter dem Vorbehalt, dass der verbleibende Kraftwerkspark die Stromversorgung absolut zuverlässig gewährleistet.
Ein Bundeskanzler Gerhard Schröder hätte es vor 20 Jahren unter den heutigen Bedingungen nicht gewagt, einen Atomausstieg zu beschließen. Dem „Genossen der Bosse“ wäre es damals nicht im Traum eingefallen, den Industriestandort Deutschland zu gefährden, so wie es nun die Regierung von Olaf Scholz tut.
Der Atomausstieg stand stets unter dem Vorbehalt einer weiterhin gesicherten Stromversorgung, und das sollte auch weiterhin gelten.
CO2-Strafzahlungen
Der zweite Grund, warum wir Deutsche sehr schnell und sehr dringlich einen Weiterbetrieb der Kernkraftwerke in Erwägung ziehen sollten, liegt in den bevorstehenden „Strafzahlungen“, die auf Deutschland in den kommenden Jahren wegen Überschreitens der „erlaubten“ CO2-Emissionen zukommen werden:
Können die jährlich immer schärferen Emissionsminderungs-Verpflichtungen nicht eingehalten werden, dann muss Deutschland auf Grundlage der EU-Lastenteilungsverordnung im Nachhinein „Emissionszertifikate“ (Verschmutzungsrechte) bei anderen Staaten kaufen – und das wird extrem teuer.
Im Jahr 2020 hatte man wegen erwarteter Emissions-Überschreitungen im Bundeshaushalt bereits 300 Millionen Euro für die erwarteten Strafzahlungen nur eines Jahres eingeplant. Aufgrund des Corona-Lockdowns fielen die Emissionen und folglich auch die Strafzahlungen niedriger aus.
Prognosen für die Jahre 2021 bis 2030 ergaben, dass schon bei einem Preis von 100 Euro je Tonne CO2 Strafzahlungen von insgesamt 30 bis 60 Milliarden Euro auf Deutschland zukommen könnten.
Dies könnte bei realistischer Betrachtung wohl nur dadurch vermieden werden, dass der Wohlstand Deutschlands reduziert, Teile der Industrie des Landes vertrieben und Mobilität, Raumwärme und Stromverbrauch drastisch gesenkt werden.
Die von der Ampelkoalition vorgesehene verstärkte Nutzung von Gaskraftwerken, die auf absehbare Zeit mit Erdgas betrieben werden, löst das Problem, die CO2-Emissionen drastisch absenken zu müssen, nicht. Deutschland müsste die nächsten acht Jahre und darüber hinaus vermutlich Einschränkungen hinnehmen, die den härtesten Corona-Maßnahmen ähneln und diese möglicherweise sogar noch übertreffen müssten.
Eine Fortführung des Betriebs der letzten sechs Atomkraftwerke könnte hingegen maßgeblich dazu beitragen, milliardenschwere CO2-Strafzahlungen zumindest zu begrenzen und den Wohlstand zu erhalten.
Diese Problematik birgt gewaltige, auch innenpolitische Sprengkraft, so dass die überfällige Debatte um eine Neubewertung der Atomenergie dringend geführt werden muss.
Krisenvorsorge
Der dritte Grund, warum Deutschland schnellstmöglich eine zielführende Debatte um den Erhalt seiner letzten sechs Kernkraftwerke führen sollte, liegt in den sonstigen Entwicklungen unserer Zeit. Denn wir leben nicht mehr in „Schönwetterzeiten“, so wie in den vergangenen vierzig Jahren.
Wir befinden uns am Beginn einer Multi-Megakrise mit explodierenden Energiepreisen, einer zunehmend an Fahrt gewinnenden Inflation, einem möglicherweise bevorstehenden Währungszusammenbruch, harten Corona-Maßnahmen, mehr und mehr gestörten Lieferketten, bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbrüchen, wachsender Arbeitslosigkeit und Verarmung, fehlenden Düngemitteln auch aufgrund des mutwillig angezettelten Erdgas-Streits, einer Verknappung und Verteuerung von Lebensmitteln und vielem anderen mehr.
Die Bedrohung des inneren und äußeren Friedens ist gerade auch in Europa eine wachsende Gefahr. Der Papst sagte schon 2015, es sei „eine Art dritter Weltkrieg“ im Gang.
Wir leben inzwischen in einer völlig anderen Zeit, als jener, in der der Atomausstieg beschlossen wurde. Deswegen sollten wir auch Entscheidungen, die „in der alten Zeit“ getroffen wurden, kritisch überdenken und uns fragen, ob sie noch tauglich sind für die jetzt bevorstehenden Jahre und Jahrzehnte.
Kein Land zerstört normalerweise wesentliche Teile seiner kritischen Infrastruktur, wozu der Kraftwerkspark zweifellos gehört, ausgerechnet in Krisenzeiten, zumal wenn Ersatzkraftwerke faktisch nicht zur Verfügung stehen.
Der normale Reflex einer Gesellschaft wäre eigentlich, in Zeiten der Krise vorläufig alles zu bewahren und zu sichern, was eventuell noch einmal gebraucht werden könnte. Und dass zuverlässige Kraftwerke in immer größerer Zahl gebraucht werden, steht außer Frage vor dem Hintergrund der geplanten „Elektrifizierung“ aller Lebensbereiche und der Wirtschaft.
Sicherheitsbereitschaft
Mehr und mehr Politiker, Manager, Wissenschaftler und Publizisten werfen inzwischen öffentlich die Frage auf, ob der Atomausstieg angesichts der veränderten Verhältnisse, insbesondere auch vor dem Hintergrund der radikalen CO2-Emissions-Minderungsverpflichtungen, nicht überdacht werden sollte.
Es wäre verantwortungslos, die gerade aufkommende Debatte nicht abzuwarten, indem man die drei Atomkraftwerke, die jetzt zum Jahresende ihre Betriebserlaubnis verlieren, tatsächlich endgültig stilllegt und mit dem Rückbau beginnt.
Es wäre klug, die Bundesregierung würde diese und die weiteren drei noch vorhandenen Atomkraftwerke vorläufig in Sicherheitsbereitschaft halten und einen eventuellen Weiterbetrieb zumindest nicht von vornherein unmöglich machen.
Dass eine Wiederaufnahme des Betriebs nach einer Pause zur Überholung der Anlagen mit verhältnismäßig geringem Aufwand technisch möglich wäre, haben Experten des Aktionskreis Energie & Naturschutz (AKEN) von Vorständen und Führungskräften der Betreiber ausdrücklich bestätigt bekommen.
Mit Laufzeitverlängerungen der letzten sechs Kernkraftwerke würden „über die Jahre die riesige Menge von insgesamt rund einer Gigatonne CO2 eingespart (siehe Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Generationengerechtigkeit), die Strompreissteigerungen abgefedert, der Erdgasverbrauch nicht zusätzlich ausgeweitet und das Blackout-Risiko verringert“, schrieb der AKEN-Vorsitzende Titus Kretzschmar unlängst in einem Brandbrief an die Bundestagsabgeordneten in Berlin und fragt: „Warum sollten diese Vorteile nicht genutzt werden?“
Weitere Informationen finden Sie hier:
Fachbeiträge auf der Website der Akademie Bergstraße
Henrik Paulitz: StromMangelWirtschaft – Warum eine Korrektur der Energiewende nötig ist. Taschenbuch. Akademie Bergstraße. 2020. ISBN 978-3-981-8525-3-0