Politik

Wir müssen zurück zum Kräftegleichgewicht des Kalten Krieges

Russland ist keine Demokratie - mit Moskau verhandeln sollte der Westen dennoch. Ziel sollte es sein, eine neutrale Ukraine zu schaffen.
30.01.2022 09:00
Lesezeit: 4 min
Wir müssen zurück zum Kräftegleichgewicht des Kalten Krieges
Auf einem Außenposten an der Frontlinie in der Ostukraine: Ein ukrainischer Soldat spielt mit einer Katze. (Foto: dpa) Foto: Vadim Ghirda

Die Welt befindet sich auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg. Sowohl die Demokratien als auch die autoritär geführten Staaten müssen sich jetzt überlegen, was sie im Austausch für eine konstruktive Kooperation einerseits verlangen können und andererseits zu geben bereit sind. Fest steht, dass die Demokratien sich nicht mehr einreden können, die Zeit sei auf ihrer Seite, und sie müssten nur so lange an ihren Grundsätzen festhalten, bis alle autoritären Systeme zusammenbrechen. Im Gegenteil: Zurzeit ist das Ende des Planeten wahrscheinlicher als der Untergang totalitärer Herrschaftsformen.

Der jüngste Krisenherd in diesem Konflikt ist die Ukraine (obwohl es ebenso gut Taiwan hätte sein können). Dort, an der Grenze zwischen Europa und Asien, schwelt seit 2014 ein „nicht erklärte Krieg“, nachdem die Demonstrationen auf dem Maidan zur Amtsenthebung des pro-russischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch geführt hatten und Russland die Krim annektiert und den Donbas im Osten des Landes besetzt hat. Der Westen prangert dies als rechtswidrige Aneignung des Hoheitsgebiets eines souveränen Staates an, während Russland erklärt, sich mit der Krim nur einen Teil des Vaterlandes zurückgeholt zu haben.

Diese gegensätzlichen Sichtweisen sind Ausdruck eines historischen Streits. Die russische Politik und viele normale Russen haben tief im Inneren nie akzeptiert, dass ihr Land den Kalten Krieg verloren hat. Dann hätten sie nämlich auch akzeptieren müssen, dass sich die globalen Kräfteverhältnisse zwischen 1989 und 1991 stark zugunsten der USA und ihrer europäischen Verbündeten verschoben haben.

Im Gegensatz dazu hat sich der Westen so sehr daran gewöhnt, den Kalten Krieg als ideologischen Kampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus beziehungsweise zwischen Demokratie und Diktatur zu betrachten, dass er es versäumt, ihn aus der Perspektive des Gleichgewichts der Kräfte zu betrachten. Ein Teil dieses Gleichgewichts war atomar, ein großer Teil jedoch territorial. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte Russland, in Osteuropa eine Pufferzone gegen die Invasionen aus dem Westen zu schaffen, die in seiner Geschichte so viel Leid verursacht haben – am meisten Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941.

Zwischen 1989 und 1991 wurde aus dieser Pufferzone die neue Ostgrenze des Westens. Die nicht-sowjetischen Mitglieder des Warschauer Paktes, die dieser Allianz alles andere als freiwillig beigetreten waren, liefen in Massen zur NATO über, einem Militärbündnis, das zur Eindämmung der Sowjetunion gegründet worden war.

Dies ist der historische Hintergrund für die aktuellen Ereignisse in der Ukraine und in Weißrussland. Die russische Führung befürchtet schon lange, dass sich diese Länder, aktiv ermutigt vom Westen, dem Exodus hin zur NATO anschließen könnten.

Russland hat die Ukraine schon immer als Teil seiner Einflusssphäre betrachtet. Bis 2014 steuerte der Kreml bis ins Detail die ukrainische Innenpolitik, um sicherzustellen, dass das Land nichts tut, was den Interessen Russlands zuwiderläuft. Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte vor Kurzem, „echte Souveränität der Ukraine ist nur in Partnerschaft mit Russland möglich“. Indem er so die Unabhängigkeit der Ukraine in ein und demselben Satz bestätigte und leugnete, folgte er dem Beispiel der Sowjetunion im Umgang mit ihren osteuropäischen Satellitenstaaten.

Sicher hat die Abspaltung der Ukraine in Russland auch viel Toska (grob übersetzt: melancholische Sehnsucht) ausgelöst. Man sollte aber auf keinen Fall vergessen, welche Rolle die Ukraine (und Weißrussland) in den Berechnungen des Kreml hinsichtlich des Erreichens eines Kräftegleichgewichts (Englisch: Balance of Power) spielen.

Der ehemalige britische und europäische Diplomat Robert Cooper argumentiert, der Westen „habe kein Interesse mehr an Territorialgewinnen“. Dabei vergisst er, dass auf Territorien Raketen stationiert werden können. Würde die Ukraine der NATO beitreten, läge die Ostgrenze des Bündnisses mehrere hundert Kilometer näher an Moskau.

Das Verständnis der internationalen Beziehungen hat sich im Westen historisch anders entwickelt als in Russland. Seit der Französischen Revolution ist das Grundprinzip des Westens die nationale Souveränität. US-Präsident Woodrow Wilson verstand darunter das Recht auf Selbstbestimmung.

Dem liegt die Idee zugrunde, in einer Welt, in der alle Menschen ihre Zukunft selbst bestimmen können, würden ein Gleichgewicht der Großmächte oder Einflusssphären nicht mehr gebraucht. Ein solche Welt sei von Natur aus pazifistisch. Im Namen dieses Grundsatzes wurden alle europäischen Kolonialmächte aufgelöst.

1795 hoffte Immanuel Kant auf eine Föderation von Demokratien als Garant des „ewigen Friedens“. Etwas bescheidener erklärte der damalige britische Premierminister Tony Blair 1999 „die Verbreitung unserer Werte macht uns sicherer“, und bestätigte damit implizit seine Entschlossenheit, „Regimewechsel“ zu unterstützen oder auch auszulösen, wenn sich die Gelegenheit böte.

Zwischen diesen beiden Positionen, also „Sicherheit durch ein Gleichgewicht der Kräfte“ und „Sicherheit durch Demokratie“, gibt es scheinbar kaum Spielraum für Kompromisse. Die eine Sichtweise scheint die andere auszuschließen. In einem System, das ein Gleichgewicht zwischen Großmächten anstrebt, sind einige Ländern immer selbstbestimmter als andere.

Zum hybriden internationalen System unserer Zeit gehören jedoch sowohl Arrangements zur Beibehaltung eines Kräftegleichgewichts als auch Initiativen zur „Verbreitung unserer Werte“. Ausgerechnet in dieser recht instabilen Mischung liegt die Hoffnung, einen Modus Vivendi zu finden, der es sowohl den Demokratien als auch den autoritären Regimen erlaubt, beim Klimawandel und anderen existenzbedrohenden globalen Problemen zu kooperieren.

Eine mögliche Lösung in Osteuropa wäre, dass Russland alle territorialen Ansprüche auf die Ukraine und Weißrussland aufgibt und im Gegenzug die Garantie des Westens erhält, dass diese Staaten nie in die NATO aufgenommen werden. Dies würde, militärisch gesehen, eine neutrale Zone zwischen Russland und dem Westen schaffen.

Wäre der NATO-Beitritt vom Tisch, könnten beide Länder nach eigenem Ermessen ihre wirtschaftlichen und kulturellen Verbindungen zur EU verstärken oder Teil der Russischen Föderation werden, wenn sie dies in einem international kontrollierten Referendum beschließen.

Belgien ist hier ein hilfreiches Vorbild. Nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo stand das Land nicht mehr unter französischer Kontrolle. Damals schlugen die Siegermächte Belgien dem neuen Vereinigten Königreich der Niederlande zu, um alle künftigen französischen Versuche einer Osterweiterung zu unterbinden.

1830 brach die Belgische Revolution aus, die eine Unabhängigkeit Belgiens zum Ziel hatte. Die Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Russland, Österreich und Preußen) gewährten dem Land schließlich im Vertrag von London (1839) die Unabhängigkeit unter der Bedingung, dass Belgien auf immer neutral bleibe. Obwohl das Land, anders als die Schweiz, die Neutralität nicht selbst wollte, genoss der neue Staat eine durch internationales Recht geschützte Friedensgarantie, weil er den Großmächte nicht länger als hin und her zu rückende Schachfigur dienen konnte.

Natürlich gibt es keinen ewigen Frieden. Auch die Neutralität schützte Belgien im Jahr 1914 nicht vor dem Deutschen Kaiserreich. Trotzdem blieb das Land dank diesen Arrangements 75 Jahre lang von Kriegen verschont. Eine ähnlich kreative diplomatische Lösung für die Ukraine wäre die beste Option, um aus einem nicht erklärten Krieg einen erklärten Frieden zu machen.

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

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Robert Skidelsky

Über den Autor: Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Politische Ökonomie an der Warwick University (Coventry). Von 2016 von 2021 war er Direktor ohne Geschäftsbereich des privaten russischen Ölunternehmens „Rosneft“.

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