Politik

Baerbock: Putin hat Minsker Abkommen „zerschlagen“ - oder etwa doch nicht?

Außenministerin Baerbock behauptet, dass Russland das Minsker Abkommen über Bord geworfen habe. Ganz so einfach scheint es dann doch nicht zu sein.
23.02.2022 16:03
Lesezeit: 4 min
Baerbock: Putin hat Minsker Abkommen „zerschlagen“ - oder etwa doch nicht?
11. Februar 2015: Der russische Präsident Vladimir Putin (l-r), Bundeskanzlerin Angela Merkel, der französische Präsident Francois Hollande und der ukrainische Präsident Petro Poroschenko stehen während des Ukraine-Gipfels in Minks (Weißrussland) für die Medien zusammen. (Foto: dpa) Foto: Tatyana Zenkovich / Pool

Außenministerin Annalena Baerbock hat dem russischen Präsidenten Wladimir Putin wegen der Eskalation in der Krise mit der Ukraine vorgeworfen, das Minsker Abkommen über Bord geworfen zu haben. Das Minsker Abkommen, um das es im Normandie-Format gegangen sei, „wurde einseitig vom russischen Präsidenten zertrümmert“, so Baerbock. Putin habe das Minsker Abkommen unterschrieben, „jetzt ist das Papier nichts mehr wert.“

Sie betonte aber: „Auch in der härtesten Krise müssen wir das Fenster für Gespräche immer offen halten. Wir wollen Krieg verhindern.“ Es sei nun an Russland, seine Eskalationsschritte zurückzunehmen. Putin habe sich entschieden, vollkommen gegen das Völkerrecht zu agieren und es zu missachten, sagte Baerbock. „Die internationale Gemeinschaft wird diesen Völkerrechtsbruch nicht akzeptieren.“

Le Drian sprach von sehr ernsten, schmerzhaften Sanktionen gegen Russland. Er betonte aber auch, man gebe das Normandie-Format von Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung von Frankreich und Deutschland nicht auf. Dieser Raum für Diskussionen müsse weiterhin offen bleiben, damit an der friedlichen Lösung der Ukraine-Krise weiter gearbeitet werden könne.

Welche Verantwortung trägt die Ukraine?

Wie unterschiedlich die Wahrnehmung ausfallen kann, zeigen andere Wortmeldungen. Demnach liege die Verantwortung für das Scheitern des Minsker Abkommens nicht zuletzt bei der Ukraine - und auch der Bundesregierung:

So schreibt Tobias Riegel auf den Nachdenkseiten:

Hat Putin das Minsker Abkommen „begraben“, wie es nun heißt? Nein: Dieses Abkommen wurde seit Jahren von ukrainischer Seite abgelehnt. Im „Freitag“ beschreibt etwa Lutz Herden, „dass die Führung in Kiew bis auf den Gefangenen-Austausch keinen Deut des im Februar 2015 geschlossenen Minsk-II-Abkommens erfüllen wollte“. Und auch Thomas Röper erläutert, dass es eben nicht Russland war, das das Minsk-II-Abkommen „beerdigt“ hat, sondern die Ukraine, indem sie es verweigerte – und indirekt die EU, weil sie nicht auf die Umsetzung gepocht hat.

Besagter Thomas Röper schrieb bereits im November 2021:

Im Minsker Abkommen vom Februar 2015 ist ein eigentlich recht einfacher Weg zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes im Donbass vereinbart worden. Da die im Donbass lebenden ethnischen Russen Angst vor der radikal-nationalistischen Maidan-Regierung hatten, wurde vereinbart, dass Kiew dem Donbass in einer Verfassungsänderung eine gewisse Autonomie einräumt, im Abkommen als Sonderstatus bezeichnet.

Außerdem wurde vereinbart, dass Kiew eine Generalamnestie ausspricht, denn der Krieg ist nicht zu beenden, wenn eine Seite fürchten muss, nach dem Niederlegen der Waffen bestraft zu werden. Der Kern des Abkommens war, dass Kiew in einen direkten Dialog mit den Vertretern des Donbass treten und die Modalitäten für neue Wahlen aushandeln sollte. Nach Umsetzung aller dieser Punkte sollten Wahlen stattfinden und danach sollte Kiew sofort die Kontrolle über den Donbass und auch über die Grenze zu Russland zurückerhalten. All das sollte bis Herbst 2015 erledigt sein, was bekanntlich nicht passiert ist.

Darüber hinaus gab es noch andere Punkte in dem Abkommen, die soziale und wirtschaftliche Fragen betroffen haben. Den Text des Abkommens finden Sie hier.

Kiew hat die Umsetzung des Abkommens jedoch vom ersten Tag an in allen Punkten verweigert, obwohl der damalige Präsident Poroschenko es unterschrieben hat. Einen Dialog mit dem Donbass lehnt Kiew ab, die Verfassungsänderung wurde nie durchgeführt, von einer Amnestie will Kiew erst recht nichts wissen und so weiter. Trotzdem beschuldigen westliche Politiker und Medien Russland, es würde gegen das Abkommen verstoßen und kritisieren Kiew mit keinem Wort. Dass Russland in dem Abkommen gar nicht erwähnt ist und in dem Abkommen auch keine Forderungen an Russland gestellt werden, gegen die es verstoßen könnte, ist der Öffentlichkeit im Westen nicht bekannt.

Dass die Vorwürfe gegen Russland reine Fiktion und Propaganda sind, wurde besonders deutlich, als Regierungssprecher Seibert von einem Journalisten gefragt wurde, gegen welchen der 13 Punkte des Minsker Abkommens Russland denn genau verstoße. Darauf wusste Seibert keine Antwort. An dieser entlarvenden und peinlichen Posse war ich nicht ganz unbeteiligt, den Artikel finden Sie hier (leider sind die Videos in dem Artikel inzwischen der Zensur von YouTube zum Opfer gefallen).

Das letzte Treffen im Normandie-Format fand im Dezember 2019 statt und damals hat der ukrainische Präsident Selensky deutlich gezeigt, dass er das Abkommen umschreiben oder am besten gleich ganz kündigen möchte. Und schon wenige Tage nach dem Treffen begannen in Kiew wieder die Tricksereien, denn selbst die Umsetzung der bescheidenen Schritte zum Frieden im Donbass, die bei dem Treffen beschlossen wurden, lehnte Kiew dann wieder ab.

Russland hat jedoch deutlich gemacht, dass es zu weiteren Treffen erst dann bereit ist, wenn die bisher getroffenen Vereinbarungen umgesetzt sind. Daran aber denkt Kiew in keiner Weise, im Gegenteil.

Die Deutsche Presseagentur skizziert die Entwicklung des Abkommens folgendermaßen:

Seit April 2014 kämpfen im Osten der Ukraine Soldaten der Regierung gegen von Russland unterstützte Separatisten. Fünf Monate nach Beginn der Kämpfe wurde in Minsk (Belarus) ein erster Waffenstillstand mit einem Friedensplan für die Region um die Städte Luhansk und Donezk unterzeichnet. Die Vereinbarung sollte die Lage eigentlich beruhigen - doch bei der Umsetzung hapert es.

Verhandlungen unter deutsch-französischer Vermittlung

Nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe im Januar und Februar 2015 und weiteren Gebietsverlusten der ukrainischen Truppen um den Verkehrsknotenpunkt Debalzewe wurde dieser Plan von 12 auf 13 Punkte erweitert und konkretisiert.

Bei den stundenlangen Verhandlungen zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem ukrainischen Kollegen Petro Poroschenko vermittelten damals Bundeskanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident François Hollande. Russland betont noch heute, bei den Verhandlungen Vermittler und keine Vertragspartei zu sein.

Verstöße gegen das Abkommen

Im Zuge des Friedensplans wurden mehrfach Hunderte Gefangene ausgetauscht. Doch täglich stellen Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auch Verstöße auf beiden Seiten fest. Nur in Teilen umgesetzt ist etwa der vereinbarte Abzug schwerer Waffen von der Frontlinie. Darüber hinaus setzen beide Seiten trotz Flugverbots Aufklärungsdrohnen ein.

Entgegen den Vereinbarungen ist zudem die komplette Wiederherstellung der sozioökonomischen Beziehungen einschließlich der Zahlung von Renten nicht erfolgt. Seit 2017 unterliegen die abtrünnigen Gebiete einer kompletten Wirtschaftsblockade durch Kiew, von der nur humanitäre Hilfsgüter ausgenommen sind.

Auch die für die abtrünnige ostukrainische Region vorgesehene Autonomie wurde bislang nicht verwirklicht und nicht in die ukrainische Verfassung aufgenommen. Die Autonomie sähe für die abtrünnigen Gebiete im Donbass etwa eine eigene Polizei und Gerichtsbarkeit sowie sprachliche Selbstbestimmung und eine Amnestie für die Separatistenkämpfer vor.

Ein Streitpunkt: Erst die Grenze oder erst die Wahlen?

Kiew besteht darauf, dass es die Kontrolle über den an die Separatisten verloren gegangenen etwa 400 Kilometer langen Grenzabschnitt zu Russland erhält - und zwar bevor im Donbass Wahlen abgehalten werden. Der Friedensplan sieht aber eigentlich erst Wahlen und danach eine schrittweise Rückgabe der Kontrolle über den Grenzabschnitt vor. Eine Kiewer Bedingung für Wahlen ist auch der vorherige komplette Abzug aller ausländischen Kämpfer, die die Separatisten unterstützen, sowie die Entwaffnung der Aufständischen.

Paris 2019: Weitere Vereinbarungen - und weitere Probleme

Im Dezember 2019 wurden in Paris über den Friedensplan von 2015 hinausgehende Vereinbarungen ausgehandelt. Beschlossen wurde etwa, mit der schrittweisen militärischen Entflechtung entlang der Front fortzufahren. Das aber passiert nur langsam bis gar nicht. Beide Seiten lasten sich gegenseitig das bisherige Scheitern der Eröffnung von zwei neuen Übergangspunkten zwischen Regierungsgebiet und Separatistenregion an.

Auch die so genannte Steinmeier-Formel ist noch immer nicht in das ukrainische Gesetz aufgenommen worden: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte in seiner Zeit als Außenminister vorgeschlagen, dass der Sonderstatus des Donbass bereits ab dem Tag von Kommunalwahlen in der Region gelten solle. Aufgrund der vielen Streitpunkte sehen viele Beobachter keine Chance mehr für eine Umsetzung des Friedensplans in seiner derzeitigen Form.

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