Die russische Armee ist bei ihrem Angriffskrieg auf die Ukraine bis in die Hauptstadt Kiew vorgedrungen. Das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete am Freitag von russischen "Saboteuren" im nördlichen Stadtbezirk Obolon. Außenminister Dmytro Kuleba sprach von "schrecklichen russischen Raketenangriffen" auf die Stadt mit knapp drei Millionen Einwohnern. Seit Beginn des Angriffs am Donnerstagmorgen wurden auf ukrainischer Seite nach offiziellen Angaben mehr als 130 Soldaten getötet. Aus Russland gab es zu Opfern zunächst keine Angaben, meldet die dpa.
Nach Schätzung der Vereinten Nationen sind inzwischen in der Ukraine schon 100 000 Menschen auf der Flucht. Die EU und die USA belegten Russland mit verschärften Sanktionen, verzichteten aber noch auf härteste Strafmaßnahmen. Trotz seiner großangelegten Attacke setzt Russland eigenen Angaben zufolge die Gaslieferungen über Pipelines durch die Ukraine nach Europa fort.
Putin hatte am Donnerstag nach monatelangem Truppenaufmarsch an den Grenzen eine Offensive aus verschiedenen Richtungen gegen das Nachbarland gestartet. Während Panzer in die ehemalige Sowjetrepublik vorstießen, gab es Luftangriffe im ganzen Land. In Kiew flüchteten die Menschen zum Schutz auch in U-Bahnhöfe.
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einem eklatanten Bruch des Völkerrechts. Der gesamte Westen reagierte geschockt. Ex-Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einer "tiefgreifenden Zäsur in der Geschichte Europas nach dem Ende des Kalten Krieges". Sie verfolge die Entwicklungen mit größter Sorge und Anteilnahme. In Deutschland begann eine Debatte um eine Stärkung der Bundeswehr.
Die genaue militärische Lage blieb undurchsichtig. Russland setzte eigenen Angaben zufolge insgesamt 118 ukrainische Militärobjekte "außer Gefecht" - darunter elf Militärflughäfen. Dem Verteidigungsministerium zufolge wurden auch fünf ukrainische Kampfflugzeuge und ein Hubschrauber abgeschossen. Ein Militärsprecher bestätigte zudem, dass die Russen das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert haben, knapp 70 Kilometer von Kiew entfernt.
Nach ukrainischen Angaben erlitten die russischen Truppen ihrerseits schwere Verluste. Das Verteidigungsministerium sprach von 30 zerstörten russischen Panzern, 130 Panzerfahrzeugen, 7 Flugzeugen und 6 Hubschraubern. Etwa 800 russische Soldaten seien getötet worden. Die Angaben ließen sich nicht unabhängig überprüfen.
Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte in einer Videobotschaft, die ukrainische Armee habe am ersten Tag der Invasion 137 Soldaten verloren, 316 Soldaten seien verletzt worden. Russland habe das gesamte Staatsgebiet angegriffen und gehe auch gezielt gegen die Zivilbevölkerung vor. Die Russen machten entgegen ihrer Zusicherung keinen Unterschied zwischen militärischen Zielen und Wohnhäusern, so Selenskyj. Zugleich hielt er dem Westen mangelnde Unterstützung vor: "Wir verteidigen unseren Staat allein. Die mächtigsten Kräfte der Welt schauen aus der Ferne zu."
Selenskyj mutmaßte, dass der Angriff dazu dienen soll, ihn zu stürzen. "Nach unseren Informationen hat mich der Feind zum Ziel Nr. 1 erklärt, meine Familie zum Ziel Nr. 2", sagte er - eine Einschätzung, die die US-Regierung teilt. Schon am späten Donnerstagabend hatte Selenskyj eine allgemeine Mobilmachung angeordnet, die für 90 Tage gelten soll und die Einberufung von Wehrpflichtigen und Reservisten vorsieht. Wie viele Männer betroffen sein werden, sagte der 44-Jährige nicht.
Nach Angaben des Generalstabs in Kiew lieferten sich ukrainische Truppen in der Nähe der Hauptstadt heftige Gefechte. In der Metropole heulten mehrfach die Sirenen, wie ein Korrespondent der Deutschen Presse-Agentur berichtete. Die U-Bahn-Stationen der Hauptstadt mit etwa 2,8 Millionen Einwohnern dienten als Schutzräume. Angriffe wurden auch aus anderen Landesteilen gemeldet, auch aus dem Süden.
Bei einem Krisengipfel in Brüssel suchten Scholz und die übrigen EU-Staats- und Regierungschefs eine starke Antwort auf den russischen Angriff. Sie vereinbarten Strafmaßnahmen mit Blick auf Energie, Finanzen und Transport. Zudem soll es Exportkontrollen für bestimmte Produkte sowie Einschränkungen bei der Visavergabe geben. Selenskyj wurde nach Brüssel zugeschaltet.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte danach: "Unsere Einigkeit ist unsere Stärke." Ganz einig waren sich die Staats- und Regierungschefs aber nicht: Mehrere forderten noch härtere Strafen, auch mit Blick auf das Banken-Kommunikationsnetzwerk Swift. Ein Swift-Ausschluss hätte zur Folge, dass russische Institute quasi vom globalen Finanzsystem ausgeschlossen würden.
Scholz wandte sich jedoch dagegen, dieses Sanktionsinstrument jetzt schon einzusetzen. Manches müsse man sich "aufbehalten für eine Situation, wo das notwendig ist, auch noch andere Dinge zu tun", sagte der SPD-Politiker. US-Präsident Joe Biden kündigte ebenfalls Sanktionen an, auch gegen große russische Banken. Zudem will er strikte Exportkontrollen für den Technologiesektor und weitere Strafmaßnahmen gegen die russische Elite.
Die Vereinigten Staaten verlegen zudem 7000 weitere Soldaten nach Europa, die zunächst in Deutschland stationiert werden und die Verteidigung der Nato-Partner stärken sollen. Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten schalten sich an diesem Freitag zu einer Sondersitzung zusammen.
Der Westen hatte mit Verhandlungen und der Drohung harter Sanktionen versucht, einen russischen Einmarsch abzuwenden - letztlich vergeblich. Nach Beginn der Offensive sprach Macron als erster westlicher Politiker direkt mit Putin. Der französische Präsident nannte das Gespräch "offen, direkt und kurz". Er habe Putin aufgefordert, die Kämpfe so rasch wie möglich zu beenden. Doch dies habe keine Wirkung gezeigt. Macron sprach sich dafür aus, den Gesprächsfaden dennoch nicht ganz abreißen zu lassen.
In der Ostukraine kämpfen seit 2014 prorussische Separatisten gegen ukrainische Regierungstruppen. Anfang der Woche hatte Putin die selbst ernannten Volksrepubliken der Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannt. Dann folgte die Invasion auf breiter Front.
In Deutschland sprachen sich führende Politiker der Ampel-Koalition dafür aus, der Bundeswehr mehr Geld zur Verfügung zu stellen. In dem Sinne äußerten sich Finanzminister Christian Lindner (FDP) in der ARD-Sendung "Maischberger" sowie Vizekanzler Robert Habeck (Grüne) in der ZDF-Sendung "Markus Lanz". Unionsfraktionschef Friedrich Merz forderte im Deutschlandfunk eine Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik.