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Nur Rezession oder schon Industrie-Kollaps? Am Gasembargo scheiden sich die Geister

Lesezeit: 6 min
04.04.2022 17:42  Aktualisiert: 04.04.2022 17:42
Während die Rufe nach einem Gasembargo gegen Russland zunehmend lauter werden, herrscht in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nach wie vor Uneinigkeit darüber, wie groß die Gefahr für die deutsche Volkswirtschaft ist.
Nur Rezession oder schon Industrie-Kollaps? Am Gasembargo scheiden sich die Geister
Der Chemiekonzern BASF rechnet bei Verhängung eines Gasembargos mit "erheblichen Auswirkungen auf die Grundversorgung der Bevölkerung". (Foto: dpa)

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"Es gibt keine Abhängigkeit Deutschlands von Russland, schon gar nicht in Energiefragen", betonte der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas 2018 am Rande der UN-Generaldebatte in New York. Trumps Vorwurf, Deutschland mache sich noch "total abhängig von russischer Energie, wenn es nicht sofort seinen Kurs ändert" wies Maas mit dem Hinweis ab, er entspreche nicht der Realität. Vier Jahre später hat die Realität Deutschland eingeholt. Inzwischen steht längst nicht mehr die Frage im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte, ob Deutschland in Energiefragen von Russland abhängig ist, sondern vielmehr, wie es sich aus dieser selbstverschuldeten Abhängigkeit mit einem blauen Auge befreien kann.

Darauf, dass es möglich ist, den Weg aus der Abhängigkeit von der russischen Energie mit nicht viel mehr als einem blauen Auge für die deutsche Volkswirtschaft zu beschreiten, weist eine Studie des Excellenzclusters ECONtribute der Universitäten Köln und Bonn hin. Mediale Spekulationen besagen, dass es genau diese vielbeachtete Arbeit der Forschergruppe rund um den deutsch-amerikanischen Ökonomen Rüdiger Bachmann war, die Bundeskanzler Olaf Scholz jüngst in der ARD-Sendung Anne Will dazu verleitet hatte Ökonomen zu kritisieren, die "irgendwelche mathematischen Modelle zusammenrechnen". Tatsächlich war das Medienecho groß, als die Forscher die Ergebnisse ihrer Modellsimulation veröffentlichten.

Schließlich prognostizierte die Studie lediglich einen BIP-Verlust von 2,3 Prozent bei einem sofortigen und vollständigen Lieferstopp für alle russische Energieträger – sowohl Öl und Kohle als auch das wesentlich schwieriger zu ersetzende Erdgas. Doch das Ergebnis der ökonomischen Modellsimulation geriet aus vielerlei Gründen in die Kritik. Einen Grund räumte Bachmann im Gespräch mit der Wirtschaftszeitschrift Capital ein: konjunkturelle Effekte und Nachfrageeffekte wären nicht berücksichtigt worden. Daraufhin hätten die Ökonomen noch einmal nachgerechnet und seien inzwischen auf eine BIP-Einbuße von 3 bis 4 Prozent gekommen.

Trotz des höheren Ergebnisses handele es sich bei dem von Bachmann und seinen Kollegen prognostizierten wirtschaftlichen Verlauf "nicht um ein Horrorszenario", sondern um eine Rezession. Und die, so Bachmann gegenüber Capital, sei mit den "richtigen arbeitsmarkt- und fiskalpolitischen Maßnahmen" abzufedern. Konkret heißt das bei Bachmann: massive Staatseingriffe und Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmer, um einen Nachfragerückgang zu vermeiden. Die Maßnahmen müssten dann laut Bachmann die gleichen sein, wie jene während der Corona-Krise.

Bestimmte Wirtschaftsbereich würden staatlich stillgelegt, betroffene Unternehmen mit Kapital abgesichert und Bankenpleiten so verhindert – Bachmann bezeichnet diese Maßnahmen als eine "temporäre Staatsbeteiligung", die in ihrer Größenordnung sogar "eher weniger umfangreich als bei Corona" einzuschätzen wäre. Bachmanns Fazit: "Es wird kein Spaziergang, aber wir können diese Rezession gut durchstehen. Doch die Kritik an der Studie des Kölner und Bonner Exzellenzclusters reicht weiter.

So attestiert Tom Krebs, Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim und Direktor am Berliner Forum New Economy, der Studie im Online-Wirtschaftsmagazin Makronom "gravierende methodische Schwächen". Krebs kritisiert, dass "der untersuchte Wirkungszusammenhang durch die Modellberechnungen nicht angemessen abgebildet" werden würde, weil an entscheidender Stelle "das empirische Fundament" fehle.

So käme es, dass die Autoren der Studie die wirtschaftlichen Folgen eines Stopps russischer Gasimporte unterschätzen würde. Krebs rückt übrigens ganz bewusst Gasimporte in den Mittelpunkt seiner Kritik, weil diese seines Erachtens "in jeder seriösen Analyse der wirtschaftlichen Folgen eine hervorgehobene Rolle" einnähmen. Weiter stellt der Ökonom fest, dass Deutschland 2021 etwas mehr als die Hälfte des verbrauchten Erdgases aus Russland importiert hat.

Und, dass im Falle eines sofortigen Lieferstopps nur ein Teil dieses Gases unmittelbar durch Inlandsproduktion oder Importe aus anderen Regionen ersetzt werden könne. Das fehlende Gas könne Deutschland dann nicht einfach kurzfristig auf dem Weltmarkt einkaufen, "weil kurzfristig die Transportmöglichkeiten durch das bestehende Leitungsnetz stark begrenzt sind". Optimistische Schätzungen gingen davon aus, dass man nur etwas mehr als ein Viertel der gebrauchten Gaslieferungen im ersten Jahr ersetzen könne.

Weil es nun mit mit der Grundstoffchemie und der Metallindustrie wichtige Erdgasverbraucher gäbe, "die das Rückgrat der industriellen Produktion in Deutschland bilden", stellt Krebs die Frage, welche wirtschaftlichen Auswirkungen "ein solcher Rückgang des Erdgasangebots auf die Chemieindustrie im Speziellen und die gesamtwirtschaftliche Produktion im Allgemeinen" hätte. Die Antworten Bachmanns und seiner Kollegen kritisiert er als "unzureichend": "Das Modell und somit die Modellberechnungen vernachlässigen wichtige Wirkungskanäle."

So sei das Modell zu "statisch" und bezöge nicht den Faktor der Arbeitslosigkeit nicht mit ein. Darum erfasse die Analyse auch "keine langfristigen Schäden einer Krise, die entstehen, wenn gutbezahlte Jobs in der Chemieindustrie verloren gehen und nach der Krise nicht mehr zurückkommen." Auch Finanzmarktturbulenzen in Folge eines Energieembargos, die sich negativ auf die Realwirtschaft auswirken, werden nicht berücksichtigt. Überhaupt werden nur "die direkten Angebotseffekte eines Lieferstopps berücksichtigt und indirekte Effekte über die gesamtwirtschaftliche Nachfrage vernachlässigt."

Salopp gesagt ist die Studie, wenn es nach Krebs geht, nicht hinreichend genug in der wirtschaftlichen Realität verankert. Er betont jedoch auch, dass das Fehlen potenzieller Wirkungsmechanismen in Modellsimulationen aus wissenschaftlicher Seit kein grundlegendes Problem sei, weil der Fokus wissenschaftlicher Studien für gewöhnlich lediglich auf einem kleinen "Teilaspekt einer großen, wirtschaftspolitischen Frage" läge. Bachmann und seinen Kollegen jedoch wirft er vor, die Begrenzungen der zugrundeliegenden Modellsimulation "nicht angemessen kommuniziert" zu haben.

Zudem kritisiert Krebs, dass die Forscher in dieser "nicht zwischen den Möglichkeiten der Grundstoffchemie, Erdgas durch alternative Energieträger zu ersetzen, und den Möglichkeiten der Energiewirtschaft oder der privaten Haushalte, Erdgas einzusparen" unterscheiden würden. Vielmehr würden sie "Heizung runterdrehen" und "Erdgas in Spaltöfen ersetzen" ökonomisch gleichsetzen. Dementsprechend hätte in der Studie "keine seriöse Abschätzung der Substitutionsmöglichkeiten der erdgasnutzenden Industrien in Deutschland" stattgefunden – die stattdessen zitiert Ergebnisse empirischer Studien besäßen im fraglichen Kontext "kaum eine Aussagekraft".

Eine wissenschaftlich seriöse Studie hätte hingegen, so Krebs, "mit einer ausführlichen und datengetriebenen Analyse der Produktionsstrukturen und der kurzfristigen Substitutionsmöglichkeiten der Industriezweige 'Grundstoffchemie, Metallindustrie und Glas & Keramik' in Deutschland" begonnen. Eine ausführliche Industrieanalyse wäre nötig, bevor man Schlüsse hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Effekte ziehen könne. Ohne diesen Schritt fehle den Modellsimulationen das nötige empirische Fundament.

Die Kritik des Düsseldorfer Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zielt in eine ähnliche Richtung. So heißt im IKM-Report aus dem März, dass Simulationsergebnisse auf Basis eines Modells, das jenem der Exzellenzcluster-Studie grundsätzlich ähnlich ist, nahelegen, "dass die ökonomischen Auswirkungen eines Importstopps von Energieträgern aus Russland einschließlich der Rückwirkungen über Nachfragekanäle, Geldpolitik und Finanzmärkte deutlich größer sein dürften als von Bachmann et al. (2022) ermittelt." Gleichsam betonen die Forscher, dass auch ihre Simulationsergebnisse mit genauso großer Vorsicht interpretiert werden sollten "wie andere Versuche mit derzeit vorliegenden, auf einzelne Wirkungskanäle, beschränkten Modellen, die Auswirkungen eines Lieferstopps russischer Energie zu simulieren."

Benjamin Moll, Ökonomie-Professor an der London School of Economics and Political Science, weist die Kritik an der Studie gegenüber dieser Redaktion zurück: Kritik, die auf mangelnde Modellierung oder Missachtung von Lieferketten abziele, sei verfehlt. Im Gegenteil seien Lieferketten sehr wichtig für die Ergebnisse der Forscher gewesen. Andreas Peichl, Professor der Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Leiter des ifo Zentrums für Makroökonomik und Befragungen, betont zudem, dass das Modell Lieferbeziehungen zwischen den Sektoren genauso berücksichtige wie Fragen der Ersetzung wichtiger Güter.

Darüber hinaus solle man nicht allein auf Grundlage eines einzigen Modells eine Entscheidung fällen. "Ein Modell liefert immer nur Hilfestellung und quantifiziert bestimmte Szenarien. Idealerweise rechnet man viele Szenarien mit vielen Modellen und bekommt so ein Gefühl für das Ausmaß und wichtige Mechanismen.", erklärt Peichl gegenüber dieser Redaktion. Entscheiden, ergänzt er, müsse, sei es auch unter Unsicherheit, am Ende immer die Politik. Auch Konrad Burchardi, außerordentlicher Professor am "Institute for International Economic Studies" der Universität Stockholm verteidigt die Autoren der Studie gegenüber der Kritik von Krebs, der ihnen unangemessene Kommunikation vorgeworfen hatte. Diese hätten, so Burchardi auf Twitter, vielmehr selbst aufgezeigt, was ihre Studie nicht berücksichtigt und zudem "immer wieder zur konstruktiven Kritik eingeladen, und auf diese geantwortet".

In politiknahen Kreisen sind die Bedenken indes teilweise gering. So zeigt sich Ökonomin Veronika Grimm, ihrerseits Mitglied im Sachverständigenrat der Bundesregierung, weniger skeptisch gegenüber der Vorstellung eines Gasembargos. Es irritiere sie vielmehr, "dass ein Embargo allein mit Verweis auf den sich daraus ergebenden Wirtschaftseinbruch abgelehnt" würde. Von entscheidender Bedeutung sei vielmehr, "ob ein Embargo ein geeignetes sicherheitspolitisches Mittel ist, um den Frieden in Europa wieder herzustellen und zu stabilisieren." Derzeit würden noch permanent Devisen fließen, was es dem Kreml leichter mache, den Krieg weiter zu befeuern. Grimm räumt zwar ein, dass ein Embargo für Deutschland mit bedeutenden Wirtschafseinbrüchen verbunden sein dürfte, hält diese aber in der Größenordnung, ähnlich wie Bachmann, "möglicherweise vergleichbar mit der Pandemie".

Ein Embargo samt seiner Folgen könne sich Deutschland laut der "Wirtschaftsweisen" Grimm leisten: "Ich teile die Einschätzung, dass wir damit zurechtkämen, wenn Putin sprichwörtlich den Hahn zudreht." Die deutsche Staatsschuldenquote läge nach der Pandemie bei etwa 70 Prozent. Für Grimm ein Zeichen dafür, dass da "noch Spielraum" ist, den man nutzen solle, wenn man glaube den Krieg so einhegen zu können. Während Ökonomen also nach wie vor noch uneins über die möglichen Folgen eines Gasembargos sind, schlagen Unternehmer und deren Vertreter bereits wesentlich lauter Alarm.

So sprach BDI-Präsident Siegfried Russwurm in der ZDF-Talkshow maybrit illner jüngst von einem "Zusammenbruch unserer Industrie, die uns durch die Corona-Pandemie gerettet hat." Auch der Chemiekonzern BASF wurde in einem Artikel des Online-Portals tagesschau jüngst damit zitiert, dass eine Reduzierung der Erdgasversorgung auf unter die Hälfte des heutigen Bedarfs "zu einer vollständigen Einstellung der Betriebstätigkeit" führen würde, in deren Folge "mit erheblichen Auswirkungen auf die Grundversorgung der Bevölkerung nicht nur in Deutschland" zu rechnen sei.

So würde Erdgas auch als Rohstoff für die Produktion von Acetylen verwendet, die wiederum für Kunststoffe, Arzneimittel, Lösemittel, Elektrochemikalien sowie hochelastische Textilfasern gebraucht werden – also für Vorprodukte der Automobil-, Pharma-, Bau-, Konsumgüter- und Textilindustrie. Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer des Verbandes der chemischen Industrie (VCI), warnte gegenüber tagesschau sogar, dass Deutschland sich, anders als in der Finanz- und Coronakrise, von einem längeren Erdgasausfall nicht allzu schnell wieder erholen könne. In letzter Konsequenz stünde "die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieses Landes auf dem Spiel."

Jenseits aller Spekulationen um mögliche Folgen eines Gasembargo dürfte zukünftig jedoch auch die Frage nach der Schuld an der gegenwärtigen Abhängigkeit Deutschlands von russischen Energieträgern stärker diskutiert werden. Doch egal, ob der Weg in die energiepolitische Abhängigkeit aus Unwissen, Naivität oder gar wider besseren Wissens beschritten wurde: Als zwischen den Zeilen immer öfter durchklingender gesellschaftlicher Konsens dürfte inzwischen gelten, dass die Kosten, die nicht nur die deutsche Volkwirtschaft, sondern in letzter Konsequenz das deutsche Volk und noch mehr das ukrainische Volk aufgrund dieses fatalen politischen Irrweges wird schultern müssen, enorm sein werden.


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