Politik

Es wird in den nächsten zehn Jahren keinen Frieden mehr in Europa geben

Lesezeit: 6 min
10.04.2022 09:31
Der Welt steht ein Jahrzehnt bevor, das von Instabilität gekennzeichnet ist.
Es wird in den nächsten zehn Jahren keinen Frieden mehr in Europa geben
Zoo Osnabrück: Zwei Mischbären (eine Kreuzung aus Braunbär und Eisbär) kriegen sich in die Haare. (Foto: dpa)
Foto: Friso Gentsch

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Die Welt steht voraussichtlich am Beginn eines friedlosen, von Instabilität gekennzeichneten Jahrzehnts. Auch wenn wir nicht unbedingt in eine Periode des ewigen Krieges eintreten, sollten wir uns auf mehr und intensivere: Handelskonflikte, Wirtschafts- und Finanzsanktionen, Cyberangriffe, Desinformationskampagnen sowie den Einsatz militärischer Gewalt als Instrument der Geopolitik einstellen. Wobei Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht der Beginn einer neuen Ära, sondern vielmehr die Konsequenz einer Ära ist, die zu Ende geht.

Abgesehen von seinem offensichtlichen Wunsch, das russische Imperium neu aufleben zu lassen, will Präsident Wladimir Putin die Neuordnung der Welt eindeutig nicht allein den Vereinigten Staaten und China überlassen. Er möchte, dass Russland wieder zu einer Großmacht wird, die bei der Regelung der europäischen und eurasischen Angelegenheiten ein gewichtiges Wort mitzureden hat - wobei er selbst, Wladimir Putin, der Führer dieser Großmacht sein will.

Mehr als 30 Jahre lang hatte Russland in Europa nicht mehr als die Rolle des verbitterten Spielverderbers gespielt - als es im Jahr 2014 illegalerweise die Krim annektierte, war das Land in der Einschätzung vieler Europäer schon nicht mehr als ein bloßer Energielieferant, und die Bedrohung seiner unmittelbaren Nachbarn geschah nicht aus einer Position der Stärke heraus, sondern der Schwäche. Doch wenn er eine Chance haben will, Russland wieder zu einer Großmacht auf globaler Ebene zu machen, muss Putin natürlich auch in der Lage sein, die Zukunft Europas zu beeinflussen. Das bedeutet, dass in Putins Krieg mehr auf dem Spiel steht als die ukrainische Souveränität; dass die Ukraine nur ein Baustein ist auf seinem Weg, seine revanchistische Ziele zu erreichen.

In seinem Streben nach geopolitischem Einfluss im einundzwanzigsten Jahrhundert denkt Putin immer noch in Kategorien des neunzehnten Jahrhunderts und kämpft mit Mitteln des zwanzigsten Jahrhunderts. Doch Putins Auffassung von der Welt als ein einziges Schlachtfeld ist veraltet. Er agiert nach dem Prinzip "Macht schafft Recht“ - ein Prinzip, dem ein auf Regeln basierendes System, in dem sich die Staaten gegenseitig zur Unantastbarkeit ihrer territorialen Integrität und Souveränität verpflichten, fremd ist.

Mit seinem Angriff auf die Ukraine hat Putin in eklatanter Weise gegen das grundlegendste Prinzip der regelbasierten Ordnung verstoßen. Wenn er damit durchkommt, hat er einen gefährlichen Präzedenzfall für den Rest der Welt geschaffen.

Der größte Verlierer

Ungeachtet der Ungewissheit, die Putin mit seiner Missachtung des Völkerrechts geschaffen hat, ist eines schon jetzt klar: Der große Verlierer ist Putin selbst. Mit einer einzigen Entscheidung hat er Russland in einen internationalen Pariastaat verwandelt und jede Hoffnung der Russen auf eine bessere Zukunft zunichte gemacht. Die meisten Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verurteilten den russischen Angriff, und diejenigen, die sich der Stimme enthielten, taten dies nicht aus Loyalität zu Putin, sondern weil es ihnen wichtig ist, neutral zu bleiben.

So hat Putins Krieg, anstatt Spaltungen innerhalb der NATO und der Europäischen Union zu säen, beide Organisationen unmittelbar in einer vollständigen und dynamischen Solidarität vereint. Weiterhin verstärkt die NATO ihre Truppenpräsenz in der unmittelbaren Nachbarschaft Russlands, und viele ihrer Mitglieder - vor allem Deutschland - erhöhen ihre Verteidigungshaushalte erheblich. Selbst die neutralen Länder Schweden und Finnland erwägen nun einen Beitritt zum Bündnis.

Darüber hinaus wurde Russland bereits wenige Tage nach der Invasion mit einigen der härtesten und umfassendsten Wirtschafts- und Finanzsanktionen belegt, die jemals gegen ein Land verhängt wurden. Deutschland hat seine "russlandfreundliche" Haltung aufgegeben und eine führende Rolle bei der Ausgestaltung der neuen Sanktionsregelung übernommen. Die EU wird nun schrittweise von russischem Öl und Gas unabhängig werden, wobei Deutschland eine Vorreiterrolle spielen wird. Das deutlichste Zeichen dieses historischen Wandels ist die Entscheidung, die Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas direkt nach Deutschland geliefert hätte (unter Umgehung der Ukraine und Polens, was zu deren weiterer Isolierung beigetragen hätte) nicht in Betrieb zu nehmen.

Selbst in militärischer Hinsicht war die Invasion für Russland ein Debakel. Die russischen Truppen werden nicht als Befreier begrüßt, wie Putin es versprochen (und vielleicht sogar erwartet) hat - nicht einmal von den russischsprachigen Ukrainern, die den Invasoren in den belagerten Städten Charkiw, Mariupol, Mykolajiw und anderswo tapfer Widerstand entgegensetzen. Statt des schnellen Sieges, von dem Putin ausgegangen war, sind die russischen Truppen an vielen Fronten gescheitert. Elementare Fehler in der Logistik und eine niedrige Moral haben ihren Teil zum Scheitern beigetragen, aber der wichtigste Faktor war das Geschick der ukrainischen Streitkräfte, die einen Teil des russischen militärischen Vorteils zunichte gemacht haben, indem sie ihre örtlichen Kenntnisse des Geländes und ihre flinke Guerillataktik nutzten.

Am wichtigsten aber ist, dass die Ukrainer wissen, wofür sie kämpfen. Im Gegensatz dazu scheint Putin die meisten seiner Soldaten über die Art und die Ziele seiner "speziellen Militäroperation" eklatant getäuscht zu haben. Die russischen Soldaten haben nicht wirklich daran geglaubt, dass sie gegen ihren unmittelbaren Nachbarn in den Krieg ziehen würden; jetzt, da sie es doch tun, haben sie keine Ahnung, wofür sie wirklich kämpfen. Ein erkennbares Ziel - außer die mutwillige Zerstörung der Ukraine - ist jedenfalls nicht zu erkennen.

Ein schnelles Ende des Konflikts ist leider nicht in Sicht. Selbst wenn Russlands (in Bezug auf Größe und Ausrüstung) überlegenes Militär die ukrainische Verteidigung schließlich doch besiegt und die Regierung zur Kapitulation zwingt, kann es das Land nicht besetzen: Die Ukraine ist der zweitgrößte Staat in Europa, mit 44 Millionen Einwohnern - von denen die meisten nach zehn Jahren der Unterwerfungsversuche des Kremls starke antirussische Gefühle entwickelt haben.

Eine anhaltende russische Militärpräsenz würde mit einem anhaltenden Guerillakrieg beantwortet werden. Und die ganze Zeit über würden die Sanktionen die russische Wirtschaft weiter strangulieren. Zumal jetzt nachweislich feststeht, dass die russischen Streitkräfte Kriegsverbrechen begangen haben - das macht es für die Europäer umso schwerer, den einmal beschrittenen Weg, sich von der russischen Energie unabhängig zu machen, wieder zu verlassen. Eine Rückkehr zu den Bedingungen, die vor der Invasion herrschten, kommt einfach nicht in Frage.

Die neue Geopolitik

Ein so großer strategischer Fehler wie Putins Entscheidung, in die Ukraine einzumarschieren, ist ein seltenes Ereignis in der Weltpolitik. Die Frage ist nun, ob der russische Präsident, der sich in die Enge getrieben fühlt, seinen Fehler noch schlimmer macht, indem er immer weitermacht. Auch wenn angesichts der überwältigenden militärischen Überlegenheit der NATO ein direkter russischer Angriff auf ein Mitglied des Bündnisses derzeit unwahrscheinlich erscheint, ist die Gefahr einer Eskalation sehr groß, wenn Russlands Militär weiterhin schwere Verluste hinnehmen muss. Man denke nur an die jüngste Debatte darüber, ob polnische Kampfjets an die Ukraine geliefert werden sollten. Wäre dies geschehen, hätte der Kreml die Lieferung von Angriffswaffen möglicherweise als einen Angriff auf Russland interpretiert. Die Staats- und Regierungs-Chefs der NATO haben klugerweise getan, was sie konnten, um solche Szenarien zu verhindern.

Die langsamen Fortschritte Russlands gegen die ukrainischen Verteidiger haben jedoch die Wahrscheinlichkeit einer Eskalation des Konflikts erhöht. Die russischen Aggressoren werden ihre Luftangriffe und ihren wahllosen Beschuss verstärken, ukrainische Städte schwer beschädigen, die Zahl der zivilen Opfer in die Höhe treiben und die EU mit Millionen von Flüchtlingen überschwemmen. Als Reaktion auf die zunehmenden Gräueltaten wird Europa mehr Druck verspüren, alle Importe von russischem Öl und Gas einzustellen, auch wenn die wirtschaftlichen Kosten dafür immens sein werden.

Der andere Elefant im Raum ist China. Auch wenn der chinesische Präsident Xi Jinping die Situation in der Ukraine inzwischen als "Krieg" bezeichnet hat - eine klare Absage an den offiziellen Euphemismus des Kremls -, muss die Welt bis auf Weiteres davon ausgehen, dass China keine konkreten Schritte unternehmen wird, um Druck auf Russland auszuüben oder an der Erreichung eines Waffenstillstands mitzuarbeiten.

Die Friedensappelle aus China bleiben in der Tat rhetorisch. Nun, da die chinesische Führung alle globalen Ereignisse durch die Linse des Wettbewerbs mit den USA betrachtet, übertrumpfen strategische Erwägungen alle anderen - selbst Chinas erklärtes Bekenntnis zu nationaler Souveränität, territorialer Integrität und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Länder. Obwohl Russland weder früher noch gegenwärtig ein wirklicher Verbündeter Chinas ist, sind beide Regime durch ihre Opposition gegen den geopolitischen Westen zusammengeführt worden. Für China stellt sich jetzt die Frage, ob es den wirtschaftlichen und diplomatischen Preis wert ist, diesen gemeinsamen Antagonismus aufrechtzuerhalten.

Angesichts dieser längerfristigen Risiken für sein eigenes Wohlergehen und seine Stellung in der Welt könnte sich Chinas Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine durchaus ändern. Schließlich würden eine dauerhafte Störung des Welthandels und Ölpreise von über 200 Dollar pro Barrel ein großes Problem für ein Regime darstellen, dessen Macht in hohem Maße auf seiner Fähigkeit beruht, seinen Bürgern, insbesondere den Hunderten von Millionen, die nach wie vor in Armut leben, ein konstant hohes BIP-Wachstum zu bieten.

Die politischen Führer Europas und der USA sollten einen engeren Dialog mit China über diese Fragen führen. Außerdem sollten sie nicht länger davor zurückschrecken, die wirtschaftliche Realität anzuerkennen: nämlich, dass es keine Abkopplung von China geben wird. Vielmehr werden die Beziehungen des Westens zu China von unvermeidlichen Konfrontationen in den Bereichen Menschenrechte und Taiwan, vom Wettbewerb in den Bereichen Wirtschaft und Technologie sowie von der Zusammenarbeit bei großen globalen Herausforderungen wie dem Klimawandel und der Friedenssicherung geprägt sein.

Natürlich könnte China, wenn es einspringt und Verhandlungen vermittelt, die zu einem Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine führen, einen seiner größten politischen Erfolge seit Gründung der Volksrepublik verbuchen. Aber China wird wohl kaum die Rolle eines aktiven Vermittlers übernehmen, wenn der Erfolg nicht sicher erscheint. Es ist also damit zu rechnen, dass sich das Land - zumindest vorerst - weiter zurückhält.

Zusammenhalt und Stärke im Angesicht des Schreckens

Abschließend noch ein paar Worte zu Europa: 80 Jahre nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs ist die Geschichte mit voller Wucht auf den Kontinent zurückgekehrt. Trotz des Schocks, den die russische Invasion ausgelöst hat, hat Europa gezeigt, dass es in der Lage ist, entschlossen und klug zu handeln, selbst wenn es mit einem Krieg in seiner unmittelbaren Nachbarschaft konfrontiert wird. Es scheint nun klar zu sein, dass die EU aus dieser Krise gestärkt hervorgehen wird. Trotz aller Spannungen innerhalb der Union, haben der Krieg in der Ukraine sowie Putins Herausforderung der auf Regeln basierenden Ordnung die Europäer zusammengeschweißt. Sogar die Beziehungen zu Großbritannien verbessern sich wieder.

Wie schon bei der Pandemiebekämpfung wird die EU eine zweite gemeinsam finanzierte Initiative verabschieden, um schwächeren Mitgliedsländern zu helfen, den Sturm zu überstehen. Die EU-Regierungen kommen auch in der kritischen Frage einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zusammen. Selbst der plötzliche und große Zustrom von Flüchtlingen scheint die Europäer nicht mehr zu spalten, wie es 2015 noch der Fall war.

All dies zeigt, dass die Demokratien autokratischen Herausforderern keineswegs hilflos gegenüberstehen. Wenn sie auf ihre eigene Stärke vertrauen und sich ihre Vielfalt zu eigen machen, sind sie gut aufgestellt, um das kommende Jahrzehnt der Friedlosigkeit nicht nur zu überstehen, sondern gestärkt daraus hervorzugehen. Die westlichen Demokratien waren in solchen Auseinandersetzungen schon früher erfolgreich. Sie können und müssen es wieder sein.

Copyright: Project Syndicate, 2021.

www.project-syndicate.org

Zum Autor:

Sigmar Gabriel war von Dezember 2013 bis März 2018 Vizekanzler, wobei er von Dezember 2013 bis Januar 2017 als Bundeswirtschaftsminister und von Januar 2017 bis März 2018 als Außenminister amtierte.


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