Während sich Deutschland im Ausland wie im Inland nach wie vor mit Forderungen nach einem Lieferstopp für russische Energie konfrontiert sieht, warnen Wirtschaftsforscher am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln genau davor: "Kurzfristig wäre ein vollständiger Verzicht Deutschlands auf russische Energielieferungen mit enormen Folgewirkungen verbunden, da sich weder die Einfuhr ohne weiteres durch alternative Importe ersetzen ließe, noch alle Verbraucher unmittelbar ihre Energieversorgung auf einen anderen Energieträger umstellen können."
In ihrem Artikel für die wirtschaftspolitische Zeitschrift "Wirtschaftsdienst" skizzieren die Autoren, Andreas Fischer, Malte Küper und Thilo Schaefer, inwiefern oder ob russisches Gas überhaupt ersetzt werden kann und welche Handlungsoptionen der Politik dann noch bleiben. Dabei konzentrieren sich die Autoren vor allem auf Gaslieferungen, die im Vergleich zu Kohle- oder Öllieferungen als wesentlich schwerer ersetzbar gelten. Schließlich decken russische Gaslieferungen, so die Forscher, "mehr als die Hälfte des deutschen Bedarfs und knapp 40 % der europäischen Nachfrage".
Kurzfristig kein Ersatzgas über nicht-russische Pipelines erhältlich
Insgesamt habe Europa 2021 etwa 80 % des Gasbedarfs über Pipelines und den Rest über Flüssiggas-Lieferungen auf dem Schiffsweg gedeckt. Infolge eines Gasembargos, unterstreichen die Autoren, "müsste zum einen über die bestehenden Pipelines und zum anderen über Flüssiggasimporte ein Großteil des bisherigen Bedarfs ersetzt werden". Doch in puncto Ersatz sieht es laut Fischer, Küper und Schaefer ziemlich mau aus.
So habe Norwegen, nach Russland der zweitgrößte Gaslieferant Deutschlands, "bereits angekündigt, seine Produktionskapazitäten kurzfristig nicht erhöhen zu können". Algerien habe zwar Interesse künftig mehr zu liefern, aber im Hinblick auf die "nächsten, besonders kritischen ein bis zwei Winter" könne nicht mit nennenswerten algerischen Ersatzlieferungen gerechnet werden.
Die Pipeline aus Aserbaidschan über die Türkei nach Europa weise hingegen eine so geringe Grundkapazität auf, dass die ersetzbaren Mengen "selbst bei voller Auslastung" als "vernachlässigbar" einzuschätzen seien. Ähnlich pessimistisch klingt die Einschätzung der deutschen Energieagentur, laut der Importe über nicht-russische Pipelines nur um etwa "ein Fünftel der bislang allein über Nord Stream 1 bezogenen Mengen" gesteigert werden könnten.
Flüssiggas: Die Kapazitäten sind da, nur die Transportwege fehlen
Mit dem Wissen um die begrenzten Möglichkeiten nicht-russischer Gasimporte konzentriere sich die aktuelle Diskussion also vor allem auf den verstärkten Import von Flüssiggas (LNG). Auch wenn die Bundesregierung beschleunigten Bau verspricht, betreibt Deutschland bislang aber noch kein eigenes LNG-Terminal, weshalb die Wirtschaftsforscher sich in ihrer Analyse vor allem auf ausländische Lieferkapazitäten beschränken.
Die Kapazitäten der europäischen Nachbarländer Deutschlands seien beispielsweise im Durchschnitt der vergangenen Jahre zu weniger als der Hälfte ausgelastet gewesen, sodass theoretisch "ein Großteil der russischen Gaslieferungen durch LNG kompensiert" werden könne. Die freien Kapazitäten an den europäischen Terminals gäben jedoch "keine Auskunft darüber, ob der ohnehin enge LNG-Weltmarkt eine steigende europäische Nachfrage überhaupt bedienen" könne.
Zudem seien rund 80 % der globalen Flüssiggasmengen bereits für globale Verträge gebucht. Wie stark LNG-Produzenten wie die USA oder Katar kurzfristig ihre Produktion ausweiten könnten, sei, trotz positiver Signale, ebenfalls unklar. Weitaus problematischer sei jedoch die unzureichende Infrastruktur zur Weiterverteilung des vor allem in den Häfen Süd- und Westeuropas ankommenden Flüssiggases.
So verfüge Spanien über freie Importkapazitäten von etwa 500 Terrawattstunden pro Jahr, mit denen etwa ein Drittel der russischen Lieferungen kompensiert werden könne. Nur: Von Spanien führen laut Fischer, Küper und Schaefer lediglich zwei Pipelines weiter nach Frankreich, deren Kapazität bei gerade einmal etwa 80 Terrawattstunden liege. Zwar gäbe es Pläne für den Bau einer Pipeline in den Pyrenäen, doch dürfte dieser – im Falle eines Baus wohlgemerkt – in frühestens drei bis vier Jahren fertig sein. Alternative Transportwege nach Mittel- und Osteuropa bestünden noch nicht.
Abwartende Haltung der Bundesregierung nachvollziehbar
Letztlich kommen Fischer, Küper und Schaefer zu einem ernüchternden Fazit. So sei die "abwartende Haltung" der Bundesregierung vor dem Hintergrund drohender Produktionsausfälle, Kurzarbeit und sogar Betriebsschließungen infolge eines Gaslieferstopps nachvollziehbar. Weil Haushalte und soziale Einrichtungen bei einer potenziellen Rationierung von Gas bevorzugt werden würde, träfe ein vollständiges Gas-Embargo so schließlich vor allem die deutsche Industrie.
Im Hinblick auf die Zukunft empfehlen die Wirtschaftsforscher eine stärkere Kooperation der EU-Mitgliedstaaten. "Das gilt", wie sie zum Schluss betonen, "nicht nur für den europaweiten Ausbau der erneuerbaren Energien und einer entsprechend leistungsfähigen Transportinfrastruktur, sondern gerade auch für den gemeinsamen Import von Flüssiggas, grünem Wasserstoff und synthetischen Energieträgern."
Also Diversifizierung als Gebot der Stunde: So wichtig diese Erkenntnis ist, so wenig dürfte sie an der verfahrenen Diskussion um einen Gaslieferstopp verändern – genauso wie an den düsteren, auf einem solchen Szenario aufbauenden Zukunftsbildern, die deutsche Wirtschaftsinstitute derzeit zeichnen.
Dabei steht hier nicht unbedingt ökonomischer Sachverstand gegen Moral, wie es manche Embargo-Kritiker zugespitzt implizieren, sondern längst auch die Frage im Raum, ob Deutschland der Ukraine mit einer intakten (Rüstungs-)Industrie gegebenenfalls nicht mehr helfen könne, als mit einem Verzicht auf russisches Gas.