Finanzen

Die USA brechen die Regeln des internationalen Finanzsystems

Wegen kurzfristiger Vorteile verspielt Amerika seinen guten Ruf.
Autor
22.05.2022 11:03
Aktualisiert: 22.05.2022 11:03
Lesezeit: 3 min

In seinem Buch „Die ökonomische Waffe: Wie Sanktionen zu immer wichtigeren Waffen der modernen Kriegsführung werden“, erinnert der holländisch-belgische Historiker Nicholas Mulder daran, dass Großbritannien und Russland ihre gegenseitigen Schulden sogar noch bedienten, als sie sich während des Krimkrieges (1853-56) erbittert bekämpften. Selbst als Hedgefonds während der Asienkrise der 1990er-Jahre raubritterartige Angriffe auf asiatische Währungen starteten, hielten sie sich letztlich doch an die Regeln (auch wenn ihr skrupelloses Verhalten den wirtschaftlichen Fortschritt einiger ostasiatischer Länder zum Erliegen brachte).

Die Entscheidung der Vereinigten Staaten vom 28. Februar, rund die Hälfte der russischen Devisenreserven einzufrieren, scheint von anderer Qualität zu sein. Obwohl die USA ähnliche Maßnahmen schon gegen den Iran, Venezuela und Afghanistan ergriffen hatten, hielten chinesische Wirtschaftsexperten dies für Ausnahmesituationen und finden es schockierend, dass die USA solche Maßnahmen gegen Russland ergreifen.

Das internationale Finanzsystem basiert auf der Erwartung, dass sich alle Teilnehmer an die Regeln halten werden, und die Einhaltung von Schuldverpflichtungen ist eine der wichtigsten Regeln überhaupt. Das Einfrieren der Devisenreserven eines Landes ein eklatanter Bruch dieses Vertrauens - völlig unabhängig davon, wie das Einfrieren begründet wird. Die USA, die über die wichtigste Reservewährung der Welt verfügen, setzen ihre finanzielle Glaubwürdigkeit wegen einiger wenig konkreter, kurzfristiger taktischer Vorteile aufs Spiel. Das ist ein großer Fehler.

Viele Jahre lang war Chinas Fähigkeit, Devisenreserven anzuhäufen, ein Symbol für seinen wachsenden wirtschaftlichen Erfolg. Seit Mitte der 1990er-Jahre (als Chinas Reserven die Marke von 100 Milliarden US-Dollar erreichten) gerät diese Praxis mehr und mehr in die Kritik, denn der Zweck des internationalen Handels besteht nicht darin, immer größere Devisenreserven anzuhäufen, sondern vielmehr darin, sich auf eine Art und Weise an der internationalen Arbeitsteilung zu beteiligen, die die Ressourcenverteilung über die Grenzen hinweg verbessert.

Die asiatische Finanzkrise von 1997 schien das Argument zu bestätigen, dass China große Devisenreserven benötigt, um sich gegen räuberische Angriffe internationaler Spekulanten zu wehren. Bis 2003 hatten sich Chinas Reserven auf 400 Milliarden Dollar vervierfacht, und der internationale Druck auf die chinesischen Behörden wuchs, eine Aufwertung des Renminbis zuzulassen. Sie zögerten jedoch, weil sie keine Verlangsamung des Exportwachstums herbeiführen wollten. Die riesigen Devisenbestände Chinas stiegen daher in rasantem Tempo weiter an.

Dann kam 2008 die weltweite Finanzkrise, die China dazu zwang, zu realisieren, dass seine Devisenreserven in Gefahr sein könnten. Der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao machte diese Bedenken im März 2009 öffentlich: „Wir haben den USA sehr viel Geld geliehen, daher machen wir uns natürlich Sorgen um die Sicherheit unserer Vermögenswerte. Offen gesagt, bin ich durchaus besorgt.“ Er forderte die US-Regierung auf, „ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren, ihre Verpflichtungen einzuhalten und die Sicherheit der chinesischen Vermögenswerte zu gewährleisten“.

Die US-Regierung kam ihren Verpflichtungen nach, und China baute seine Devisenreserven weiter aus. 2014 erreichten sie einen Höchststand von 3,8 Billionen Dollar, bevor sie in den folgenden zwei Jahren um 800 Milliarden Dollar zurückgingen, da die chinesische Notenbank stark auf dem Devisenmarkt intervenierte, um den Renminbi angesichts umfangreicher Kapitalabflüsse zu stabilisieren. Seit 2016 schwanken Chinas Reserven im Rahmen eines flexibleren Wechselkurssystems um einen Wert von rund drei Billionen US-Dollar, obwohl das Land weiterhin einen Leistungsbilanzüberschuss erwirtschaftet. Gegenwärtig liegen sie bei rund 3,2 Billionen Dollar.

Was auch immer die Ursachen sein mögen, es lässt sich nicht leugnen, dass China ein übermäßiges Volumen an Devisenreserven angehäuft hat. Ich plädiere schon seit Jahrzehnten dafür, dass China diese Bestände aus zwei wichtigen Gründen abbauen sollte. Erstens sind Chinas Nettoinvestitionserträge mit mehr als zwei Billionen Dollar an internationalen Vermögenswerten seit fast 20 Jahren negativ, weil die Bestände überproportional in niedrig verzinsten US-Staatsanleihen liegen. Dies ist eine groteske Fehlallokation von Ressourcen.

Zweitens könnte der US-Dollar irgendwann deutlich fallen, da Amerika seit Jahrzehnten eine enorme Nettoauslands- und Staatsverschuldung aufweist, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich das ändert. Außerdem könnte die expansive Geldpolitik der US-Notenbank (in Form der quantitativen Lockerung) auch in Zukunft Inflationsdruck erzeugen.

Da viele Länder, vor allem China, so große Mengen auf Dollar lautende Devisenreserven halten, kann der Dollar zwar noch eine ganze Weile stark bleiben. Aber irgendwann wird sein Wert fallen, und der zweitgrößte ausländische Inhaber von US-Staatsanleihen – China – wird gewaltige Verluste hinnehmen müssen.

In Anbetracht dieser Möglichkeit befürworte ich seit langem ein flexibles Wechselkurssystem für den Renminbi; einen vorsichtigen Ansatz zur Liberalisierung des Kapitalverkehrs; eine Diversifizierung der Devisenreserven; eine geduldige, marktgesteuerte Internationalisierung des Renminbis und einen ausgewogeneren Handel mit den USA. All diese Vorschläge setzen jedoch voraus, dass sich die USA an die Regeln halten werden. Jetzt, da sie die Devisenreserven der russischen Zentralbank einseitig eingefroren haben, ist die Grundlage für meine politischen Empfehlungen zusammengebrochen.

Wenn alle ausländischen Vermögenswerte – öffentliche wie private – in Sekundenbruchteilen von Reservewährungsländern eingefroren werden können, sollten politische Entscheidungsträger ihre Zeit nicht einmal mit Absicherungsmaßnahmen wie Diversifizierung verschwenden. Was kann China nun, da die USA ihren Willen bewiesen haben, sich nicht mehr an die Regeln zu halten, tun, um sein Auslandsvermögen zu schützen? Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, dass die politischen Entscheidungsträger in China und vielleicht auch in anderen Ländern sehr intensiv über Lösungen nachdenken werden.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow

Copyright: Project Syndicate, 2022.

www.project-syndicate.org

Mehr zum Thema
article:fokus_txt
Anzeige
DWN
Finanzen
Finanzen Gold als globale Reservewährung auf dem Vormarsch

Strategische Relevanz nimmt zu und Zentralbanken priorisieren Gold. Der Goldpreis hat in den vergangenen Monaten neue Höchststände...

Yu Yongding

Yu Yongding (Jg. 1948) ist einer von Chinas einflussreichsten Ökonomen. 
DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Neues Werk für NATO-Kampfjet: Rheinmetall startet Produktion in NRW
01.07.2025

Der Rüstungskonzern Rheinmetall hat in Weeze (Nordrhein-Westfalen) eine hochmoderne Fertigungsanlage für Bauteile des Tarnkappenbombers...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Investitionsstau: Kaputte Straßen, marode Schulen – Kommunen am Limit
01.07.2025

Viele Städte und Gemeinden stehen finanziell mit dem Rücken zur Wand: Allein die Instandhaltung von Straßen, Schulen und...

DWN
Unternehmen
Unternehmen Alt gegen Jung: Wie die Generation Z das Arbeitsleben umkrempelt – und was zu tun ist
01.07.2025

Alt gegen Jung – und keiner will nachgeben? Die Generationen Z und Babyboomer prallen aufeinander. Doch hinter den Vorurteilen liegen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Arbeitsmarkt ohne Erholung im Juni: Warten auf den Aufschwung
01.07.2025

Die erhoffte Belebung des Arbeitsmarkts bleibt auch im Sommer aus: Im Juni ist die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland nur minimal um...

DWN
Politik
Politik Schlachtfeld der Zukunft: Die Ukraine schickt ihre Kampfroboter ins Gefecht
01.07.2025

Die Ukraine setzt erstmals schwere Kampfroboter an der Front ein. Während Kiew auf automatisierte Kriegsführung setzt, treiben auch...

DWN
Immobilien
Immobilien Wohnen bleibt Luxus: Immobilienpreise steigen weiter deutlich
01.07.2025

Die Preise für Wohnimmobilien in Deutschland sind erneut gestiegen. Laut dem Statistischen Bundesamt lagen die Kaufpreise für Häuser und...

DWN
Politik
Politik Trump und Musk im Schlagabtausch: Streit um Steuerpläne und neue Partei eskaliert
01.07.2025

Die Auseinandersetzung zwischen US-Präsident Donald Trump und dem Tech-Milliardär Elon Musk geht in die nächste Runde. Am Montag und in...

DWN
Politik
Politik Dänemark übernimmt EU-Ratsvorsitz – Aufrüstung dominiert Agenda
01.07.2025

Dänemark hat den alle sechs Monate rotierenden Vorsitz im Rat der EU übernommen. Deutschlands Nachbar im Norden tritt damit turnusmäßig...