Deutschland

Wirtschaftlicher Abstieg: Kein deutsches Unternehmen mehr unter Top 100 der Welt

Unter den 100 wertvollsten Unternehmen der Welt ist kein einziges mehr aus Deutschland. Im Zuge der momentanen Energiekrise dürfte sich daran in naher Zukunft nichts ändern. Das vernichtende Urteil des Kapitalmarktes lässt indes für die langfristige wirtschaftliche Zukunft Deutschlands Böses erahnen.
15.07.2022 10:17
Lesezeit: 3 min

Deutschland ist nicht mehr in der Rangliste der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt vertreten. Das ergab eine Datenerhebung der Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsgesellschaft Ernst & Young (EY). Der wertvollste deutsche Konzern ist der Software-Anbieter SAP mit einem Börsenwert von 106 Milliarden US-Dollar auf Rang 113. Die Telekom schafft es mit einem Börsenwert von 98 Milliarden US-Dollar auf Rang 120. Der Industriegaskonzern Linde belegt Rang 74, hat aber seit der Fusion mit Praxair seinen Hauptsitz in Irland.

Zum Jahresende 2007 fanden sich immerhin sieben deutsche Unternehmen unter den Top 100, Ende 2021 waren es noch zwei. Am Kapitalmarkt werden Zukunftserwartungen gehandelt. Der Kapitalmarkt fällt damit ein ziemlich vernichtendes Urteil für die langfristige Zukunft der deutschen Wirtschaft.

Die aktuelle Energiekrise ist dabei ein zentrales Element. „Wir leben in einem energetischen Zeitalter. Ohne Energie geht nichts, gar nichts. Deutschland ist der energieintensivste Industriestandort der Welt (Hintergrund Fertigungstiefe). Dieser Sektor ist das Rückgrat Deutschlands. Das Risiko, dass Deutschland sich durch unsere eigene Politik verstümmelt, ist als hoch zu bewerten.“, führt der Analyst Folker Hellmayer in seinem täglichen Report aus. Was auch nicht hilft: Deutschlands Exportmodell (Anteil am BIP grob 50 Prozent) ist besonders anfällig gegenüber einer drohenden Rezession der Weltwirtschaft.

Aber die Probleme sind vielfältiger und bei weitem nicht auf die Energiekrise, mangelnde Versorgungs-Sicherheit und die schwächelnde Weltkonjunktur beschränkt. Spitzenreiter ist Deutschland nämlich an genau den falschen Stellen. Schon seit vielen Jahren ächzt das Land unter exorbitanten Strompreisen (hier ist man globale Nummer eins) im Zuge einer überambitionierten Energiewende. Die demografische Situation ist mit einem Durchschnittsalter von 47,8 Jahren (weltweit Platz 2 hinter Japan) verheerend. Bei Lohnsteuern, Sozialabgaben und regulatorischen Kosten kann kaum ein Land der Welt mit Deutschland mithalten. All diese Faktoren schaffen Anreize für Unternehmen, ihren Sitz und ihre Produktionsstätten in andere Länder zu verlegen. Die Produktivität wächst seit 20 Jahren nur noch geringfügig (ein großes Problem in ganz Europa und teils Nordamerika) und die Entwicklung der Reallöhne wies schon vor der explodierenden Inflation einen negativen Trend auf.

Europa fällt zurück

Die Energiekrise und fundamentalen Probleme Deutschlands teilen viele Länder Europas – wenn auch meistens in geringerem Maße. Kein einziger europäischer Konzern schafft es unter die Top 10. Das wertvollste europäische Unternehmen ist aktuell der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestle auf Rang 20. Ein wichtiger Faktor ist hier, dass es in Europa kaum große Player im Tech-Bereich gibt. Von den aktuell 23 Technologieunternehmen im Top-100-Ranking haben 17 ihren Hauptsitz in Nordamerika, vier in Asien und nur zwei in Europa.

Henrik Ahlers, Vorsitzender der Geschäftsführung von EY, kommentiert das folgendermaßen: „Europa leidet aus Sicht vieler Investoren nach wie vor unter einem Mangel an vielversprechenden Technologiekonzernen von Weltformat. Die USA geben im IT-Sektor eindeutig den Ton an, viele dieser Tech-Unternehmen sind hochprofitabel und treiben die Digitalisierung der Wirtschaft und aller Lebensbereiche mit Macht voran. Als Gestalter dieses technologischen Wandels spielen allenfalls noch asiatische Konzerne eine Rolle – europäische Konzerne hingegen kaum, und das spiegelt sich im Börsenranking deutlich wider.“

Nicht zuletzt der Digitalisierungstrend hat das Gewicht Europas an den Weltbörsen in den letzten Jahren schrumpfen lassen: Vor der Finanzkrise Ende 2007 kamen noch 46 der 100 wertvollsten Unternehmen der Welt aus Europa. Inzwischen sind es nur noch 16.

„Die schwache Aufstellung Europas und Deutschlands gerade im Technologiesegment sollte uns zu denken geben“, so Ahlers. Er führt die starke Entwicklung gerade in den USA auf die höhere Risikobereitschaft amerikanischer Unternehmensgründer, die hohe gesellschaftliche Akzeptanz des Unternehmertums sowie die teilweise deutlich besseren Finanzierungsbedingungen zurück. Europa habe in all diesen Bereichen massiven Nachholbedarf.

Ganz besonders in Deutschland gibt es so gut wie keine Börsenkultur, was sich in einer unverhältnismäßig niedrigen Anzahl von Börsengängen widerspiegelt. Der Standort Deutschland ist nicht sonderlich attraktiv für Startups. Zwar gibt es hierzulande viele Hidden Champions (unbekannte Weltmarktführer), aber diese bleiben im Mittelstand verhaften – das Kapital von Kleinsparern kann überhaupt nicht in diese Firmen investiert werden.

Ahlers sieht allerdings große Chancen für deutsche Konzerne, mittelfristig zu den Gewinnern der Digitalisierung zu gehören: „Die Digitalisierung birgt gerade für einen Industrie- und Hochlohnstandort wie Deutschland grundsätzlich enorme und derzeit teils noch ungenutzte Potenziale. Die Art und Weise, wie in Zukunft produziert wird, wird sich weiter verändern. Deutsche Industriekonzerne können diese Entwicklung entscheidend prägen.“

Saudischer Ölkonzern führt das Ranking an

US-Konzerne sind im Ranking weiterhin dominant. Neun der Top 10 und 60 der Top 100 wertvollsten Konzerne kommen aus den USA. Das wertvollste Unternehmen der Welt ist aktuell der saudische Ölkonzern Saudi Aramco. Knapp dahinter auf Platz 2 steht der Tech-Riese Apple. Danach folgen Microsoft, Alphabet (Google-Mutterkonzern), Amazon, Tesla, Berkshire Hathaway, UnitedHealth, Johnson & Johnson und Meta (ehemals Facebook).

Der Einbruch an den Börsen hat Technologiewerte besonders hart getroffen – ihre Marktkapitalisierung unter den Top 100 sank um 28 Prozent. Der Energiesektor ist die einzige Branche, die seit Jahresbeginn in der Bewertung gestiegen ist. Die Öl- und Gasunternehmen unter den Top 100 steigerten ihren Börsenwert um 19 Prozent.

EY untersucht halbjährlich die Marktkapitalisierung der am höchsten bewerteten Unternehmen weltweit. Stichtag für die vorliegende Analyse war der 30.06.2022.

Mehr zum Thema
article:fokus_txt

Jede Anlage am Kapitalmarkt ist mit Chancen und Risiken behaftet. Der Wert der genannten Aktien, ETFs oder Investmentfonds unterliegt auf dem Markt Schwankungen. Der Kurs der Anlagen kann steigen oder fallen. Im äußersten Fall kann es zu einem vollständigen Verlust des angelegten Betrages kommen. Mehr Informationen finden Sie in den jeweiligen Unterlagen und insbesondere in den Prospekten der Kapitalverwaltungsgesellschaften.

Jakob Schmidt

                                                                            ***

Jakob Schmidt ist studierter Volkswirt und schreibt vor allem über Wirtschaft, Finanzen, Geldanlage und Edelmetalle.

DWN
Panorama
Panorama Feiertage 2026: Alle Termine, Brückentage und Regeln – wie Sie am besten profitieren
13.12.2025

Die Feiertage 2026 liegen günstig und ermöglichen viele lange Wochenenden. Wer früh plant, kann deshalb Brückentage optimal nutzen....

DWN
Immobilien
Immobilien Immobilienrendite: Es lohnt sich wieder zu vermieten
13.12.2025

Eine Mietimmobilie als Kapitalanlage kann wieder eine interessante Investition sein. Doch nicht überall macht das Sinn. Wo sich das...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Prominenter China-Experte zeichnet düsteres Bild für Europa: „Es wird ziemlich schlimm“
13.12.2025

Europa wähnt sich sicher, doch die nächste ökonomische Erschütterung rollt bereits heran. Der prominente China-Analyst Dan Wang...

DWN
Finanzen
Finanzen Falsche Gehaltsgruppe: Was kann ich tun, wenn meine Gehaltseinstufung nicht zum Tarifvertrag passt?
13.12.2025

Viele Beschäftigte merken erst spät, dass ihre Gehaltsgruppe im Tarifvertrag nicht zur Arbeit passt. Das kann monatlich bares Geld...

DWN
Technologie
Technologie Lidl krempelt den Einkauf um: Warum die Scan-and-Go-Technologie den Handel umdreht
13.12.2025

Litauens Handelsketten treiben den digitalen Umbruch voran. Das Selbstscansystem Scan & Go kommt nun in die Lidl Filialen. Bisher wurde...

DWN
Politik
Politik Billigfluglinien bereiten sich bereits auf Flüge in die Ukraine vor
13.12.2025

Wizz Air, Ryanair und EasyJet bringen sich in Stellung. Europas Billigfluglinien planen bereits ihre Rückkehr in die Ukraine und rechnen...

DWN
Wirtschaft
Wirtschaft Europa-Krise vertieft sich: JPMorgan warnt vor dramatischen Folgen für Amerika
13.12.2025

Die Warnungen von JPMorgan Chef Jamie Dimon treffen Europa in einer Phase wachsender politischer Unsicherheit. Seine Kritik an der...

DWN
Unternehmensporträt
Unternehmensporträt Textilrecycling: Wie eine schwedische Gründerin die Branche unter Druck setzt
12.12.2025

Ein junges schwedisches Unternehmen behauptet, die nachhaltigste Lösung für das Textilrecycling gefunden zu haben. Die Methode nutzt CO2,...